Die Entscheidung über die Behandlungspfade wird in unserem Gesundheitswesen weitgehend dem Zufall oder den Patient:innen überlassen. Gerade beim Symptom Schwindel macht sich dies besonders negativ bemerkbar, da dieser keine klare Zuordnung zu einem Teilgebiet aufweist. So kann der Schwindel bei Störung des Innenohrs eine Domäne des Hals-Nasen-Ohren-Arztes sein, bei einer zentralen Ursache ein Fall für den Neurologen, bei rhythmogenem Schwindel die Kompetenz eines Kardiologen. Zwischen diesen Spezialdisziplinen fallen Patient:innen leicht mal durch die Maschen. Günstiger wäre, wenn der Weg zuerst in eine Hausarztpraxis führen würde.

Fallbeispiel – Was lief hier schief?
Am Freitagvormittag wird die 78-jährige Frau S. von ihrer Tochter mit Verdacht auf einen Schlaganfall in die Notaufnahme des lokalen Krankenhauses gebracht. Bei einer Schnittbildgebung des Kopfes mittels Computertomographie zeigen sich keine Anzeichen für einen Schlaganfall. Es folgt eine neurologische Untersuchung, bei der dann ein Lagerungsschwindel diagnostiziert und ein Termin beim Neurologen sechs Wochen später vereinbart wird. Dazu kommt es aber nicht, weil sich die 78-Jährige inzwischen bei einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen hat. In der orthopädischen Klinik klagt die Patientin weiter über Schwindel.Die gesamte Krankenhausprozedur hätte Frau S. erspart werden können, wenn am Freitagvormittag die Hausärztin im Rahmen eines Hausbesuchs ein Lagerungsmanöver durchgeführt, eine Schwindelattacke ausgelöst und dabei einen "benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels" festgestellt hätte. Sie hätte zur Entlastung aller über die Gutartigkeit der Erkrankung aufgeklärt werden müssen und eine Heilmittelverordnung für sechs Termine hätte ausgestellt werden sollen. Die Patientin wäre dann drei Wochen später gänzlich beschwerdefrei gewesen.

Die Kernprobleme bei Schwindelpatient:innen sind rasch ausgemacht:
  1. Die Fragmentierung der Versorgung
  2. Unklares Vorgehen bei Diagnostik und Therapie
  3. Überflüssige technische Untersuchungen (insbesondere Bildgebung)
  4. Übermäßige Beanspruchung von Notfallversorgung

Etwa drei Viertel aller Schwindelformen können durch Anamnese und körperliche Untersuchung ohne spezielle Untersuchungsverfahren in der Hausarztpraxis erkannt werden. Dagegen werden drei Viertel aller Schwindelpatient:innen in der Sekundärversorgung behandelt, was zu einer Überdiagnostik führt. Dies verursacht hohe Kosten und trotzdem sind diese Patient:innen nur unzureichend therapiert.

Das häufigste technische Untersuchungsverfahren ist eine Bildgebung des Kopfes, die als CT-Untersuchungen bei einem Viertel bis zur Hälfte aller Schwindelpatient:innen erfolgt. Knapp 5 % bis 20 % der Patient:innen erhalten sogar eine Magnetresonanztomographie (MRT). Doch diese Untersuchungen sind zumeist überflüssig.

Plädoyer für ein Primärarztsystem

Schwindel ist ein interdisziplinäres Phänomen sowohl in Diagnostik als auch Therapie. Als solches ist es dafür prädestiniert, in drei Viertel aller Fälle primär durch Generalist:innen behandelt zu werden. Hilfreich hierfür wäre ein Primärarztsystem, in dem Patient:innen zwar ihre Hausärzt:in frei wählen, weitere Konsultationen bei Teilgebietsspezialist:innen jedoch durch diese gesteuert werden. So werden überflüssige Konsultationen vermieden und es gehen keine Informationen bei der Behandlung des Schwindels verloren. Dringend notwendig ist zudem eine strukturierte und kompetente Behandlung von Patient:innen mit dem Beratungsanlass Schwindel mit einer zielführenden klinischen Diagnostik. Um das zu erreichen, muss aber das Überangebot an bildgebenden Verfahren eingedämmt werden.

Viel zu viel und doch zu wenig
Ein ungesundes Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung wird auch in einer erstmals gerade für Allgemeinärzt:innen entwickelten DEGAM-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung deutlich. Diese Leitlinie war auch der Aufhänger des 2021 im Elsevier Verlag erschienenen Buches "Viel zu viel und doch zu wenig" (ISBN: 978-3-437-24061-4) unseres langjährigen Autors und Kolumnisten Raimund Schmid und auch für diese Serie in doctors today. Im Rahmen der Serie zeigt der Herausgeber des Buchs in Kooperation mit den Autor:innen der Originalbeiträge am Beispiel systembedingter Defizite und einzelner Krankheitsbilder auf, was gegen die Fehlversorgung unternommen werden kann.

Gibt es vielversprechende Ansätze?

Mit der "Hausarztzentrierten Versorgung" ist ein freiwilliges Einschreibemodell für eine Primärversorgung in Deutschland etabliert. Erste Auswertungen bescheinigen diesem System eine Reduktion der sekundärmedizinischen Kontakte bei gleichzeitiger Verbesserung der Behandlungsqualität und eine Reduktion ungeplanter Krankenhausaufenthalte. Davon profitieren auch Patient:innen mit Schwindel. Einen wichtigen Grundstein für die Verbesserung der klinischen Versorgung von Schwindelpatient:innen setzt auch die DEGAM-Leitlinie "Schwindel." Sie bietet eine gerade für Allgemeinärzt:innen hilfreiche Praxis-Handreichung.

Darüber hinaus stellt die Reform der Weiterbildungsordnung hin zu echtem Kompetenzerwerb eine Möglichkeit dar, die Problemlösefähigkeit in Diagnostik und Behandlung von Schwindelpatient:innen in den Vordergrund zu rücken. Auch eine Neuausrichtung des Medizinstudiums sowie eine bessere Strukturierung der Weiterbildung angehender Generalist:innen tragen dazu bei, besser auf den Umgang mit komplexen Beratungsanlässen wie dem Schwindel vorzubereiten.

Wer ist in der Pflicht?

Zunächst einmal die Politik, um künftig eine Überdiagnostik mit technischen Geräten zu vermeiden. Initiativen wie "Gemeinsam klug entscheiden" adressieren diese Themen und versuchen, das Bewusstsein für Überversorgung zu stärken. Allerdings zeigen Untersuchungen aus dem In- und Ausland, dass diese Kampagnen nur den wenigsten (Allgemein-)Ärzt:innen bekannt sind und bisher keine nachweisbaren Effekte erbracht haben.

In der Verantwortung stehen aber auch die Behandler:innen selbst. Sie müssen hinterfragen, inwieweit ihr Umgang mit Schwindelpatient:innen strukturiert und evidenzbasiert abläuft und ob Überweisungen zur Sekundärmediziner:in wirklich immer notwendig sind. Die ärztliche Selbstverwaltung, die Landesärztekammern und medizinischen Fakultäten müssen zudem die medizinische Aus- und Weiterbildung konsequent im Sinne einer Kompetenzorientierung weiter reformieren. An den Universitäten sind hier bereits umfassende Maßnahmen auf den Weg gebracht, wie etwa die Reform der Approbationsordnung und der Staatsexamina. Mit der Reform der Notfallversorgung ist vonseiten des Gesetzgebers ein wichtiger Beitrag zur besseren Strukturierung der Versorgung und Überwindung der Sektorentrennung auf den Weg gebracht worden, von der auch Patient:innen mit Schwindel profitieren dürften.

Fazit: Trotz all dieser positiven Ansätze wird man künftig dem komplexen Beratungsanlass Schwindel nur gerecht werden können, wenn eine bessere Kooperation der verschiedenen Behandler:innen mit den Allgemeinärzt:innen sowie strukturiertere Behandlungsprozesse in Gang kommen. Davon sind wir aber noch ein gutes Stück entfernt.



Autoren

Raimund Schmid

Dipl. Volkswirt und Medizinjournalist,
63739 Aschaffenburg
Dr. med. Marco Roos
Dr. Raphael Kunisch
Allgemeinmedizinisches Institut der Universität Erlangen/Nürnberg

Literatur bei den Verfassern.


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 36-37