Noch nie hat es an so viel Fachpersonal im Gesundheitswesen gemangelt wie heute. Die immer älter werdende Bevölkerung ist der Hauptgrund hierfür. Aktuell fehlen branchenübergreifend rund 200.000 Menschen, um allein die aus dem Erwerbsleben ausscheidende Kohorte vollständig ersetzen zu können. Diese Lücke wird von nun an jedes Jahr größer werden. Im Jahr 2025 wird sie auf 500.000 steigen. Wie kann man hier am besten gegensteuern?

Fallbeispiel
Ambulant vor stationär: Helmut F. ist ein multimorbider Patient und wird von seinem Hausarzt, zwei niedergelassenen Fachärzten und diversen Klinikärzt:innen betreut. Dabei passiert es immer wieder, dass der 78-Jährige stationär behandelt wird, obwohl das nicht immer notwendig wäre. Und Helmut F. ist kein Einzelfall. Dieses Dilemma ist ein Grund dafür, warum Fachkräfte überlastet sind und der Fachkräftemangel noch verschärft wird.

Wenn im Krankenhaus nur noch die schweren und komplexen Fälle liegen würden, wären Helmut F. manche stationären Aufenthalte und dem System eine Menge an Kosten erspart worden. Wenn gut qualifizierte nichtärztliche Fachkräfte die ärztlichen Kolleg:innen bei der Behandlung von Helmut F. tatkräftiger unterstützen dürften, hätten die Ärzt:innen wieder mehr zeitlichen Spielraum. Und wenn für die Ärzt:innen ein elektronischer Zugriff auf alle Daten von Helmut F. möglich wäre, müssten die (Haus-)Ärzt:innen nicht immer wieder neue Befunde erheben. Von alledem würde der Patient Helmut F. enorm profitieren. Und: Der Fachkräftemangel würde deutlich an Brisanz verlieren.

Der Mangel an Fachpersonal wird noch dadurch angeheizt, dass mit steigendem Alter der Bevölkerung auch ein steigenden Bedarf von Gesundheitsleistungen einhergeht. Beispiel Krankenhaus: Während im Durchschnitt pro Jahr 23 Krankenhausfälle auf 100 Menschen kommen, sind es im Alter von 80 Jahren und mehr rund 70 Krankenhausfälle auf 100 Menschen.

Der Bedarf an Fachkräften im Gesundheits- und Sozialwesen wird bis 2030 voraussichtlich 4,9 Millionen Vollkräfte betragen. Das prognostizierte Arbeitsangebot wird dagegen auf 3,6 Millionen Vollzeitbeschäftigte sinken. Insgesamt würden in diesem Szenario also 1,3 Millionen Vollkräfte fehlen, sodass eine hohe Zahl an Patient:innen und Pflegebedürftigen unversorgt bliebe.

Was muss sich ändern?

Die großen Fragen lauten daher: Können wir es schaffen, die Menge an Fachkräften im Gesundheitswesen zu erhöhen? Ist es möglich, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen pro Kopf zu reduzieren? Können wir im Gesundheitswesen noch produktiver werden?

Es gibt mehrere Stellhebel, um Verbesserungen zu erreichen. Dafür müssen Politik und Gesellschaft zu großen Veränderungen bereit sein.

Weniger stationäre Krankenhausfälle

Krankenhäuser benötigen einen finanziellen Anreiz, Patient:innen – wann immer möglich – ambulant zu behandeln. Nach Expertenschätzungen wären rund 27 % der derzeit stationär behandelten Krankenhausfälle auch ambulant erbringbar. Zudem müssen Friktionen an den bestehenden Sektorengrenzen minimiert werden, beim Übergang vom Krankenhaus zur Reha oder zurück in die häusliche Umgebung und in die erneute Obhut der hausärztlich tätigen Ärzt:in.

Zugänge zum System effektiver steuern

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung muss gezielter gesteuert werden. Patient:innen sollten sich z. B. an eine Stelle wenden können, die über Art und Ort der Behandlung fundiert entscheidet, da nur so eine im System angelegte Übernachfrage vermindert werden kann.

Mehr Wiedereinsteiger, mehr ältere Beschäftigte

Sinnvoll wären beispielsweise Anreize zur Steigerung der Anzahl der Rückkehrer:innen nach Elternzeit oder die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch flexiblere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Eine höhere Arbeitsmarktpartizipation älterer Arbeitnehmer:innen könnte durch eine Förderung altersgerechter Arbeitsbedingungen, Steuervergünstigungen für die Arbeit im Rentenalter, Teilzeitarbeit und flexiblere Arbeitszeitmodelle erreicht werden. Die im Gesundheitswesen allgemein hohe Teilzeitquote und der hohe Krankenstand könnten verringert werden und so einen großen Beitrag zur Schließung der Fachkräftelücke leisten.

Neue Karrierewege für nichtärztliche Fachkräfte

Überträgt man der Pflege verantwortungsvollere Tätigkeiten und strebt man eine stärkere Akademisierung des Berufs an, macht dies den Pflegeberuf nicht nur attraktiver, sondern trägt zugleich dazu bei, die ebenfalls knappen Ärzt:innen zu entlasten.

Produktivität erhöhen mit künstlicher Intelligenz

Fachkräfte können durch moderne Technologien aus dem Bereich der Digitalisierung und Robotik entlastet werden. Mit Hilfe einer praktikablen und datenschutzsicheren elektronischen Patientenakte können Doppeluntersuchungen vermieden, bürokratische Abläufe reduziert und die medizinische Behandlung durch die genaue Verfolgung der Behandlungshistorie einschließlich der Medikation (siehe Fallbeispiel) optimiert werden.

Niedergelassene Ärzt:innen können chronisch kranke Menschen durch die Nutzung von zertifizierten Videosprechstunden in Ergänzung mit Gesundheits-Apps betreuen.

Gibt es Vorbilder und modellhafte Ansätze?

Ja, durchaus. So kann durch eine qualifizierte Zuwanderung die Menge an Fachkräften erhöht werden. Die noch viel gezieltere Rekrutierung ausländischer Fachkräfte als bislang muss durch ein adäquates Zuwanderungsgesetz unterstützt werden. Hohes Potenzial verspricht auch künftig der Einsatz von Servicerobotern, welche bei Transporttätigkeiten sowie als Unterstützung beim Heben und Bewegen von pflegebedürftigen Personen eingesetzt werden können. Und sozial-interaktive Roboter könnten bei der sozialen Betreuung einer Patient:in helfen.

Wer ist in der Pflicht?

In Deutschland werden all diese Potenziale noch längst nicht ausgeschöpft. Gründe, die den Einsatz von digitalen und technischen Lösungen hierzulande hemmen, sind mangelnde Kenntnisse über die auf dem Markt erhältlichen Produkte, zu hohe Kosten und mangelnde Benutzerfreundlichkeit der Innovationen. Daher ist die neue Bundesregierung in der Pflicht, jetzt die richtigen Eckpfeiler zu setzen. Mit Hilfe digitaler Innovationen sowie zeitgemäßer Arbeitsformen und einer höheren Produktivität und Effektivität im System könnte der Fachkräftemangel auf Dauer merklich reduziert werden.



Autoren

Raimund Schmid

Dipl. Volkswirt und Medizinjournalist
63739 Aschaffenburg

Prof. Dr. Boris Augurzky, Dr. Ingo Kolodziej
RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
Hohenzollernstr. 1–3
45128 Essen

Eine Literaturliste ist über den Autor erhältlich.

Interessenkonflikte: Die Autoren habe keine deklariert.

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (1) Seite 24-25