Schwindel ist einer der häufigsten Gründe für den Arztbesuch. Der Patient versteht unter Schwindelproblemen jedoch oft etwas ganz anderes als sein Arzt – und nicht selten weiß dieser nur wenig mehr über diese vielfältige Symptomatik. Viele Kollegen scheuen sich deshalb, Schwindelpatienten zu betreuen. Dieser Beitrag zeigt, was wir heute wissen und was nicht, und gibt hoffnungsvolle Ausblicke für mögliche Verbesserungen, etwa durch die Erforschung der Makulaorgane.

Schwindel ist ein Symptom, das durch sehr viele verschiedene Ursachen ausgelöst werden kann: Diese können im Gleichgewichtsorgan (GGW-Organ), im GGW-Nerv, im Gehirn, in der Psyche oder in der Halswirbelsäule (HWS) liegen, aber auch im Herz-Kreislauf-System oder in Stoffwechselprozessen, wobei hierunter auch medikamentöse Nebenwirkungen zusammengefasst sind.

Die verschiedenen Ursachen können teilweise ganz ähnliche Symptome hervorrufen. Der Arzt sollte deshalb für Schwindelprobleme die wichtigsten Differenzialdiagnosen kennen. Er sollte also medizinisches Wissen aus mehreren Fachgebieten haben und zumindest anhand der Symptome und Befunde entscheiden können, welchen Fachkollegen er gegebenenfalls noch hinzuziehen sollte.

Das Gleichgewichtsorgan selbst ist bis heute leider nur teilweise verstanden. Die drei Bogengänge (BG) sind für die Messung von Drehbewegungen des Kopfes verantwortlich. Ihre Funktion wird klinisch fast ausschließlich über den Kopfimpulstest (KIT) und die bithermale bilaterale kalorische Untersuchung (Kalorik) geprüft.

Welche Rolle spielen die Otoconien?

Noch viel weniger wissen wir über die Rezeptoren für Linearbeschleunigung und Schwerkraft, die Makulaorgane oder Otoconienorgane (Utriculus und Sacculus), die etwas inkorrekt fast immer als Otolithenorgane bezeichnet werden. Otolithen gibt es aber nur bei Fischen und einigen Amphibien, wohingegen alle Vögel und Säugetiere Otoconien haben.

Die Otoconien stehen in engem Kontakt zur Funktion der Bogengänge und beeinflussen auch deren Reflexe deutlich. Sie sind direkt an der Muskelinnervation beteiligt, d. h. dem vestibulospinalen Reflex, der uns den freien Gang auf zwei Beinen ermöglicht. Allein der Utriculus hat ca. doppelt so viele Haarzellen wie die Cochlea. Warum das so ist, weiß man nicht. Auch das wichtige Zusammenspiel von Otoconien und Haarzellen ist nahezu unerforscht. Bisher ist bekannt, dass Otoconien bei über 50-jährigen Personen zunehmend degenerativ verändert werden [1, 2]. Aber wir wissen nicht, wie viele davon wir verlieren können, bevor Schwindel einsetzt, oder ob und wie der Verlust von Otoconien kompensiert werden kann. Die Erforschung der Makulaorgane wäre daher der wichtigste nächste Schritt für die Entdeckung neuer Ursachen für Schwindel und hoffentlich auch für deren Behandlung. Der zunehmende Verlust und der dadurch entstehende Mangel an Otoconien geht vermutlich auch mit der zunehmenden Gangunsicherheit im Alter einher. Die neue Diagnose wurde kürzlich beim 30. Barany-Society-Meeting vorgestellt [3]. Am Lebenden ist diese Diagnose jedoch noch nicht beweisbar.

Therapie

Periphere Vestibulopathie

Für einen akuten peripher vestibulären Schaden, die Neuritis vestibularis oder Vestibularneuritis oder bei korrekterer Bezeichnung die periphere Vestibulopathie (PVP), fehlt bis heute eine evidenzbasierte Behandlungsmethode [4].
Das liegt im Wesentlichen an der Vorstellung, dass es sich dabei "nur" um eine Neuritis handelt. Diese kommt tatsächlich vor, wie sie auch beim Hörsturz auftritt. Leider ist völlig unbekannt, zu welchem Prozentsatz eine Neuritis vorliegt. Nach einer aktuellen Studie tritt in lediglich etwa 25 % ein Schädigungsmuster auf, das einer Neuritis entspricht [5]. An eine Schädigung im Innenohr, wie sie bei Hörsturz typisch ist, scheint kaum jemand zu denken, weshalb die Therapie bisher ausschließlich auf eine Neuritis ausgerichtet ist. Eine große Studie sollte dazu baldmöglichst eingereicht werden, um dieses fehlende Wissen zu ergänzen und die Behandlung evidenzbasiert durchzuführen.

Morbus Menière

Auch für den M. Menière gibt es keine bestimmte Ursache, damit auch keine einheitliche Behandlungsmethode und erst recht keine Möglichkeit der Heilung. Der M. Menière oder besser das Menière-Syndrom hat teilweise zentrale Ursachen, wie etwa die Migräne, die dadurch auch von Ohrenärzten erfragt und gegebenenfalls behandelt werden sollte.

Bis 2016 wurde aufgrund schwacher beziehungsweise trotz fehlender Evidenzlage bei M. Menière zumeist Betahistin verabreicht. Die bisher größte und angeblich beste Studie dazu [6] hat leider ergeben, dass die bisherige und selbst die dreifache Höchstdosis (3 × 48 mg) keinen statistischen Unterschied im Vergleich zu Plazebo zeigt. Bedauerlicherweise wurden die Patienten nicht spezifisch auf Migräne untersucht und daher nicht in Gruppen von Menière mit und ohne Migräne unterteilt.

Wie die Studie selbst erwähnt, kann Betahistin den Umsatz von Histamin im Zentralnervensystem erhöhen, vorwiegend über den H3-Rezeptor. Histamin kann wahrscheinlich eine Migräne triggern – der wissenschaftliche Beleg dafür fehlt aber –, wie auch histaminhaltige Lebensmittel wie Rotwein oder bestimmte Käsesorten als Migränetrigger vermutet werden [7].

Wenn etwa die Hälfte aller Menière-Patienten auch an Migräne leidet, wäre Betahistin möglicherweise ein Verstärker der Migräne oder der migräneassoziierten Menière-Symptomatik, während es die Menière-Attacken bei der anderen Hälfte reduzieren könnte. Dies könnte statistisch auf einen Nulleffekt hinauslaufen, wie er in der Studie beschrieben wurde. Ob deshalb Betahistin zumindest bei Patienten, die nur Menière und keine Migräne haben, verabreicht werden kann oder sollte, ist noch völlig unklar. Eine Empfehlung möchte ich daher nicht abgeben.

Peripher vestibuläre Syndrome

Die einzigen, bis heute heilbaren peripher vestibulären Syndrome sind der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel – die häufigste Schwindelerkrankung – und die Bogengangsdehiszenz. Durch operativen Verschluss kann sie zur Symptomfreiheit führen, wobei eine gelungene Operation aber einiger Erfahrung bedarf. Hier wäre aus meiner Sicht die Einrichtung weniger Zentren in Europa sinnvoll, die diesen Eingriff übernehmen.

Zentrale Ursachen für Schwindel

Die häufigste Ursache für Schwindel ist die vestibuläre Migräne (VM). Auch für Migräne fehlen bis heute kurative Heilmethoden. Daneben kommt Schwindel vor allem bei Läsionen in Kleinhirn und Hirnstamm vor, wie sie bei Infarkten, Hirntumoren, bei Encephalomyelitis disseminata (ED), anderen Enzephalitiden oder degenerativen Erkrankungen vorkommen können, aber auch bei zerebralen Schäden im Thalamus, Hippocampus oder im parieto-insulären vestibulären Cortex (PIVC) [8].

Periphere Ursachen

Eine häufige Ursache von Gangunsicherheit, die ebenfalls sehr häufig als Schwindel bezeichnet wird, ist die Polyneuropathie (PNP). Eine PNP kann viele verschiedene Ursachen haben. Therapeutisch lässt sich diese kaum verbessern [9]. Immerhin kann eine Verschlechterung der PNP durch Ursachenbehandlung wie eine gute Blutzuckereinstellung bei Diabetes oder eine Vitamin-B12-Substitution verhindert werden, weshalb sie früh erkannt und entsprechend behandelt werden sollte.

Psychogener Schwindel

Dieser wird zumeist als phobischer Attackenschwankschwindel oder neu als Persistent Postural Perceptual Vertigo (PPPV) bezeichnet. Da fast jeder Schwindel auch dem psychisch Gesündesten bei entsprechender Ausprägung, Häufigkeit oder Dauer psychische Probleme bereiten kann, sind auch sehr viele Schwindelpatienten sehr gut mit einer Psychotherapie beraten.

Fazit für die Praxis
Über die Ursachen von Gleichgewichtsstörungen ist auch heute noch wenig bekannt. Ein Schwindelspezialist sollte demnach ein Allrounder sein, der sich gleichzeitig auf ein Symptom konzentriert. Da sich die Medizin mehr und mehr von den meist anatomisch definierten Fachgebieten zu symptombezogenen Bereichen entwickelt, wäre ein Fachgebiet für Schwindel ein sehr relevantes und interessantes Feld. Denn es bietet eine unglaubliche Vielfalt an interdisziplinärer Forschung, deren Erkenntnisse auch den Betroffenen eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensqualität verschaffen könnten.


Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie + Neurologie 4/2018


Literatur
1. Ross MD, Peacor D, Johnsson LG, Allard LF: Observations on normal and degenerating human otoconia. Ann Otol Rhinol Laryngol. 1976
May–Jun; 85(3 pt 1): 310–326.
2. Johnsson L-G: Degenerative changes and anomalies of the vestibular system in man. Laryngoscope. 1971 Oct; 81(10): 1682–1694.
3. Hegemann SCA, Ernst A, Basta D, Bockisch CJ: Otoconial loss the new and important diagnosis-explanation for residual dizziness and chro- nic imbalance. Presentation OP16-4, Barany Society Meeting June
10–13 2018, Uppsala, Sweden.
4. Fishman JM, Burgess C, Waddell A: Corticosteroids for the treatment of idiopathic acute vestibular dysfunction (vestibular neuritis). Coch- rane Database of Systematic Reviews 2011 May 11; (5): CD008607.
5. Uffer, Denis S; Hegemann, Stefan C A (2016). About the pathophy- siology of acute unilateral vestibular deficit – vestibular neuritis ( VN) or peripheral vestibulopathy (PVP)? Journal of Vestibular Research,
26(3): 311–317. DOI: https://doi.org/10.3233/VES-160581
6. Adrion C, Fischer CS, Wagner J, Gürkov R, Mansmann U, Strupp M: Ef- ficacy and safety of betahistine treatment in patients with Meniere’s disease: primary results of a long term, multicentre, double blind, randomised, placebo controlled, dose defining trial (BEMED trial) BMJ
2016; 352: h6816.
7. Holzhammer C, Wöber J: Alimentäre Triggerfaktoren bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. Schmerz 2006, 20: 151–159.
8. Dieterich M, Brandt T: The bilateral central vestibular system: its path- ways, functions, and disorders. Ann N Y Acad Sci. 2015 Apr; 1343: 10–
26.
9. Callaghan BC, Price RS, Feldmann EL: Diagnostic and therapeutic ad- vances: distal symmetric polyneuropathy. JAMA. 2015 Nov. 24;
314(20): 2172–2181.



Autor:

Prof. Dr. med. Stefan Hegemann

Balance Clinic
Klinik für interdisziplinäre Diagnostik und Therapie von Schwindel
CH-8001 Zürich

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (19) Seite 26-28