In diesem Beitrag finden Sie die für Ihren hausärztlichen Praxisalltag relevantesten Neuerungen im Jahr 2018 aus der Kardiologie: neueste Erkenntnisse aus Studien, Kongress-Highlights sowie Aktualisierungen von Leitlinien und Therapieempfehlungen.

Ende August 2018 fand in München der jährliche Kongress der ESC (European Society of Cardiology) statt. Er ist der weltweit größte Herz-Kreislauf-Kongress und auch dieses Jahr wurden viele Arbeiten präsentiert, die teilweise auch für den Hausarzt interessant sind.

ASS in der Primärprävention

Während ASS eine feste Position in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Ereignisse zukommt, ist sein Nutzen für die Primärprävention, also die vorsorgliche Gabe bei kardiovaskulär nicht Vorerkrankten, umstritten. Dies gilt insbesondere für ältere Patienten, die ein höheres Risiko mitbringen, aber in bisherigen Primärpräventionsstudien unterrepräsentiert waren.

Merke:
Eine primärpräventive Gabe von niedrig dosiertem ASS erbrachte keine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse, erhöhte aber die Rate gastrointestinaler und intrakranieller Blutungen.

Ergebnisse der ASPREE-Studie (ASPirin in Reducing Events in the Elderly) zeigen, dass eine Dauermedikation mit ASS in diesem Fall nicht nur ohne Nutzen ist, sondern sogar schädlich sein kann [1].
19.114 Patienten über 70 Jahre ohne kardiovaskuläre oder zerebrovaskuläre Vorerkrankungen oder kognitive Defizite erhielten entweder 100 mg ASS oder Plazebo. Nach 4,7 Jahren unterschieden sich die Raten kardiovaskulärer Komplikationen (Apoplex, Myokardinfarkt, KHK oder dekompensierte Herzinsuffizienz) nicht signifikant zwischen ASS- (10,7 Fälle pro 1.000 Personenjahre) und Plazebo-Gruppe (11,3 auf 1.000 Personenjahre).

Die Häufigkeit bedeutender Hämorrhagien fiel dagegen in der ASS-Kohorte signifikant höher aus (8,6 Ereignisse pro 1.000 Personenjahre vs. 6,2 auf 1.000 Personenjahre unter Plazebo). Dies entspricht einer Risikosteigerung um 38 %. Das erhöhte Blutungsrisiko war insbesondere für obere gastrointestinale Blutungen evident (87 %). Für intrakranielle Blutungen stieg das Risiko ebenfalls um 50 %. Aufgrund des Schaden/Nutzen-Verhältnisses wurde die Studie nach 4,7 Jahren terminiert.

Erhöhtes Sterbe- und Krebsrisiko

Außerdem war der primärprophylaktische Einsatz von ASS mit einer im Vergleich zu Plazebo 14 % höheren Mortalität nach 4,7 Behandlungsjahren assoziiert [2]. Hierzu trugen vor allem Malignome bei, die in der ASS-Kohorte 31 % häufiger zum Tod führten. Das relative Risiko für kolorektale Karzinome stieg sogar um 77 %, was überraschend ist, nachdem frühere Studien von einer protektiven Wirkung ausgegangen waren.

Da niedrig dosiertes ASS zu den am weitesten verbreiteten Wirkstoffen für die Prävention kardiovaskulärer Ereignisse gehört, wollen wir noch kurz bei diesem Thema bleiben. Die vorgenannten Ergebnisse stehen in Einklang mit den Resultaten einer großen Metaanalyse [3] und zweier, beim ESC-Kongress 2018 vorgestellter Studien [4].

Auch die ARRIVE-Studie (Aspirin to Reduce Risk of Initial Vascular Events) [5] an über 12.000 Patienten aus sieben Ländern berichtete keinen Effekt von ASS auf die Häufigkeit kardiovaskulärer Komplikationen, dafür war das Blutungsrisiko mehr als verdoppelt.

Für Diabetiker ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen zeigte die ASCEND-Studie (A Study of Cardiovascular Events iN Diabetes) [6] zwar weniger kardiovaskuläre Ereignisse unter ASS im Vergleich zu Plazebo (8,5 % versus 9,6 %) – jedoch auch hier um den Preis einer deutlich größeren Zunahme der Blutungsrate (relative Risikoerhöhung 29 %). Das Krebsrisiko beeinflusste ASS hier nicht.

Im Kontext früherer Arbeiten sind diese Ergebnisse eher unerwartet und müssen umsichtig interpretiert werden. Mitnehmen können wir daraus aber, dass infrage steht, ob sich eine Subgruppe findet, die von einer primärpräventiven ASS-Gabe wesentlich profitiert. Experten plädieren für ein individualisiertes Vorgehen [7].

Neue Leitlinie Hypertonie

Die Neufassung der europäischen Leitlinie zur Hypertonie von 2013 wurde beim Kongress der ESH (European Society of Hypertension) im Juni 2018 vorgestellt und die Langfassung zeitgleich zum ESC-Kongress im European Heart Journal veröffentlicht [11, 12].

Eine praxisrelevante Neuerung besteht in der Absenkung der Therapie-Zielwerte vor allem bei älteren Patienten, welche in Tabelle 1 übersichtlich dargestellt sind. Erstmalig wird hier die Einführung einer absoluten Untergrenze empfohlen: Man soll nicht unter 120 mmHg systolisch gehen! Hinsichtlich des Grenzwertes für die Definition "Hypertonus" bleibt aber alles beim Alten (140/90 bis 160/100 mmHg entspricht Stadium I). Die Absenkung des Grenzwertes in den amerikanischen Leitlinien auf 130/80 mmHg hatte im Jahr zuvor für Diskussionsstoff gesorgt. Praktisch kommt es etwa auf dasselbe heraus, da im zur Debatte stehenden Blutdruckbereich nach beiden Leitlinien bei hohem kardiovaskulären Risiko (und nur dann) ein Therapiebeginn zu empfehlen ist.

In diesem hochnormalen Bereich sollen zunächst ausschließlich und in Stadium I zuerst Lebensstiländerungen versucht werden:
  • Gewichtsnormalisierung
  • Reduktion des Alkohol- und Salzkonsums
  • regelmäßige körperliche Aktivität
  • Nikotin-Stopp
  • gesunde Ernährung (Gemüse, Früchte, Fisch, ungesättigte Fettsäuren, Nüsse, wenig rotes Fleisch und fettarme Milchprodukte)

Reichen diese Maßnahmen nicht aus, soll bereits ab Stadium I medikamentös behandelt werden. Bei Stadium II (≥ 160/100 mmHg) und III (≥ 180/110 mmHg) sollte sofort eine medikamentöse Therapie eingeleitet und der Zielwert binnen drei Monaten erreicht werden.

Tipp:
Die Monotherapie hat als Erstlinientherapie der Hypertonie ausgedient. Es soll nun primär eine Zweifach-Kombinationstherapie aus ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) + Kalziumantagonist oder Thiaziddiuretikum gewählt werden [11].

Neu ist ebenfalls, dass Monotherapien nur noch in Ausnahmefällen Einsatz finden sollen (ältere Patienten, Stadium I). Fixdosis-Kombinationen sollten den Vorzug erhalten, da diese die Therapieadhärenz verbessern. Ein häufiger Grund für eine nicht optimal gelingende Blutdruckeinstellung liegt nach Sicht des Leitlinien-Komitees in mangelnder Compliance. Daher soll Kontrolluntersuchungen und ambulanter Blutdruckmessung künftig mehr Bedeutung beigemessen werden, ebenso wie der Prävention und Früherkennung.

Neue ESC-Leitlinie Synkope

Synkopen sind häufig und ihre Abklärung oft nicht einfach. Unter den mehrheitlich harmlosen vasovagalen Reaktionen gilt es, potenziell lebensbedrohliche Ursachen nicht zu übersehen.

Viele Empfehlungen dazu, wann Abklärung oder Hospitalisierung nötig sind, wurden beibehalten, andere angepasst. Das Management sollte sich am Risikoprofil orientieren, um unnötige Kosten und Untersuchungen zu vermeiden. Als Hochrisiko-Faktoren gelten u. a. neu aufgetretener Brustschmerz, Kurzatmigkeit, Kopf- oder Bauchschmerzen, plötzliches Einsetzen von Palpitationen vor der Synkope und kardiale Vorerkrankungen [4].

Ruhe-EKG und gründliche Anamnese bilden weiterhin die Basis. In die Leitlinien wurde als Neuzugang die Video-Aufzeichnung von Synkopen aufgenommen (beispielsweise auch zu Hause per Handy, IIa). Der Kipptischuntersuchung kommt ab sofort in der Diagnostik ein geringerer (Empfehlung IIa statt I) und in der Therapie keinerlei Stellenwert mehr zu. Auch das Langzeit-EKG verliert bei unklaren Synkopen an Bedeutung (IIa statt I). Für Patienten mit Präsynkopen oder asymptomatischen Arrhythmien gilt es nun als komplett entbehrlich [14, 15].

Heraufgesetzt wurde dagegen der Empfehlungsgrad einer Katheterablation bei gleichzeitigem Vorhofflimmern (von Expertenmeinung IIb auf I).
Wichtig sind außerdem Neubewertungen der Schrittmacherindikation bei unterschiedlichen Patientenkollektiven. Bei hypertropher Kardiomyopathie mit hohem Risiko für plötzlichen Herztod etwa gilt nun Empfehlungsgrad I. Als Alternative zur ICD-Implantation bei niedrigem Risiko sowie bei unklaren Stürzen wurde der Loop-Rekorder aufgenommen.

Neues zum Thema NOAKs

Nachdem es in der Phase-III-Studie GALILEO [16] unter Rivaroxaban (Xarelto®) zu einem Anstieg der Blutungs- und Thromboembolie-Ereignisse sowie der Gesamt-Mortalität bei Patienten nach TAVI (Transkatheter-Aortenklappen-Implantation) gekommen war, forderte Bayer in einem Rote-Hand-Brief [17] vom 2.10.18 dazu auf, eine Antikoagulation mit Rivaroxaban bei Patienten nach TAVI zu beenden und auf eine Standardtherapie umzustellen.

Einen weiteren Rückschlag für Rivaroxaban stellt die MARINER-Studie [18] dar. Bei Patienten, die aufgrund internistischer Akuterkrankungen hospitalisiert waren, verfehlte eine erweiterte Thromboseprophylaxe mit dem Faktor-Xa-Hemmer für 45 Tage nach Entlassung ihre präventive Wirkung. Das Risiko für venöse Thromboembolien blieb im Vergleich zu Plazebo unverändert [4].

Merke:
Rivaroxaban ist nicht zur Thromboseprophylaxe bei Patienten mit künstlichen Herzklappen, einschließlich Patienten nach TAVI, zugelassen.

Ebenso wenig erfüllte sich in der COMMANDER-HF-Studie [19] die Hoffnung, dass Rivaroxaban bei KHK-Patienten mit Herzinsuffizienz, aber ohne Vorhofflimmern, die Mortalität, Myokardinfarkt- oder Apoplexrate senken könnte [4].

Auf Basis der COMPASS-Studie [20] ist aber eine neue Indikation für Rivaroxaban hinzugekommen: In Kombination mit ASS ist es nun auch zur Prophylaxe atherothrombotischer Ereignisse bei Patienten mit KHK und pAVK und hohem Risiko für ischämische Ereignisse zugelassen, da es besser wirkte als ASS allein [21].

Nach Stent: Duale Plättchenhemmung (DPH) bleibt ‚Global Leader‘

Wir wollen die Highlights 2018 in etwa da abschließen, wo wir begonnen haben. Die altbewährte Kombination von ASS und Clopidogrel für ein Jahr nach perkutaner koronarer Intervention (PCI) und Drug eluting stent (DES) konnte sich in der Megastudie GLOBAL LEADERS [22] behaupten. Eine weitgehende Monotherapie mit Ticagrelor für zwei Jahre zeigte sich hinsichtlich Reinfarkt-Rate und Mortalität unterlegen.


Literatur
1. McNeil, J. J. et al. Effect of Aspirin on Cardiovascular Events and Bleeding in the Healthy Elderly. New England Journal of Medicine DOI: 10.1056/NEJMoa1805819, September 16, 2018 (2018).
2. McNeil, J. J. et al. Effect of Aspirin on All-Cause Mortality in the Healthy Elderly. New England Journal of Medicine 0, null (2018).
3. Guirguis-Blake, J. M., Evans, C. V., Senger, C. A., O’Connor, E. A. & Whitlock, E. P. Aspirin for the Primary Prevention of Cardiovascular Events: A Systematic Evidence Review for the U.S. Preventive Services Task Force. Ann. Intern. Med. 164, 804–813 (2016).
4. ESC Congress 2018 In Review - Main Edition. Available at: http://europe.nxtbook.com/nxteu/medicom/esccongress_main_2018/index.php#/24 . (Accessed: 11th October 2018)
5. Gaziano, J. M. et al. Use of aspirin to reduce risk of initial vascular events in patients at moderate risk of cardiovascular disease (ARRIVE): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 392, 1036–1046 (2018).
6. Effects of Aspirin for Primary Prevention in Persons with Diabetes Mellitus. New England Journal of Medicine 0, null (2018).
7. ASS bleibt in der Primärprävention umstritten. Kardiologie.org (2018). Available at: http://https://www.kardiologie.org/esc-kongress-2018/ass-bleibt-in-der-primaerpraevention-umstritten/16074484 . (Accessed: 21st October 2018)
8. Bibbins-Domingo, K. & U.S. Preventive Services Task Force. Aspirin Use for the Primary Prevention of Cardiovascular Disease and Colorectal Cancer: U.S. Preventive Services Task Force Recommendation Statement. Ann. Intern. Med. 164, 836–845 (2016).
9. Piepoli, M. F. et al. 2016 European Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice: The Sixth Joint Task Force of the European Society of Cardiology and Other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice (constituted by representatives of 10 societies and by invited experts)Developed with the special contribution of the European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation (EACPR). Eur. Heart J. 37, 2315–2381 (2016).
10. Nelson, M. R. & Doust, J. A. Primary prevention of cardiovascular disease: new guidelines, technologies and therapies. The Medical Journal of Australia 198, 606–610 (2013).
11. Neue Europäischen Leitlinien für Bluthochdruck: Was ändert sich? - Aktiv gegen Bluthochdruck. Available at: https://www.hochdruckliga.de/pressemeldung/items/neue-europaeischen-leitlinien-fuer-bluthochdruck-was-aendert-sich.html. (Accessed: 12th October 2018)
12. Neue Hypertonie-Leitlinie der ESC/ESH – was Sie wissen sollten. Kardiologie.org (2018). Available at: http://https://www.kardiologie.org/esc-kongress-2018/neue-hypertonie-leitlinie-der-esc-esh---was-sie-wissen-sollten/16092506 . (Accessed: 12th October 2018)
13. Williams, B. et al. 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur. Heart J. 39, 3021–3104 (2018).
14. Neue ESC-Leitlinie Synkope: Die wichtigsten Änderungen. Kardiologie.org (2018). Available at: http://https://www.kardiologie.org/ehra-kongress-2018/neue-esc-leitlinie-synkope-die-wichtigsten-aenderungen/15565650 . (Accessed: 21st October 2018)
15. Brignole, M. et al. 2018 ESC Guidelines for the diagnosis and management of syncope. Eur Heart J 39, 1883–1948 (2018).
16. Antikoagulation nach TAVI: Studie mit Rivaroxaban wegen erhöhter Risiken gestoppt. Kardiologie.org (2018). Available at: http://https://www.kardiologie.org/praevention---rehabilitation/antikoagulation-nach-tavi--studie-mit-rivaroxaban-wegen-erhoehte/16188118 . (Accessed: 21st October 2018)
17. BfArM - Rote-Hand-Brief zu Rivaroxaban (Xarelto®). Available at: http://https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2018/rhb-xarelto.html . (Accessed: 21st October 2018)
18. Spyropoulos, A. C. et al. Rivaroxaban for Thromboprophylaxis after Hospitalization for Medical Illness. N. Engl. J. Med. 379, 1118–1127 (2018).
19. Zannad, F. et al. Rivaroxaban in Patients with Heart Failure, Sinus Rhythm, and Coronary Disease. New England Journal of Medicine 379, 1332–1342 (2018).
20. Eikelboom, J. W. et al. Rivaroxaban with or without Aspirin in Stable Cardiovascular Disease. N. Engl. J. Med. 377, 1319–1330 (2017).
21. Neue KHK- und PAVK-Indikation für Rivaroxaban. Kardiologie.org (2018). Available at: http://https://www.kardiologie.org/praevention---rehabilitation/neue-khk--und-pavk-indikation-fuer-rivaroxaban/16070006 . (Accessed: 21st October 2018)
22. Vranckx, P. et al. Ticagrelor plus aspirin for 1 month, followed by ticagrelor monotherapy for 23 months vs aspirin plus clopidogrel or ticagrelor for 12 months, followed by aspirin monotherapy for 12 months after implantation of a drug-eluting stent: a multicentre, open-label, randomised superiority trial. Lancet 392, 940–949 (2018).



Autorin:
Dr. med. Sophie Christoph, Medical Writer, Deutschland



Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (21) Seite 42-45