Ein Anruf wegen Suizidalität, eines Erregungszustandes, einer akuten Verwirrung, oder Gewalttätigkeit unter Alkoholeinfluss - was tun? Bei der psychiatrischen Krisenintervention ist eine aufs Wesentliche eingegrenzte Vorgehensweise gefragt, deren Prinzipien und Methoden hier dargestellt werden sollen.

Mit Krise beschreiben wir eine Situation, in welcher der größte Teil der psychischen Energie eines Individuums und eventuell auch seines Umfeldes auf die Bewältigung einer außerordentlichen Herausforderung gerichtet ist. Es zeigen sich Stress und allenfalls eine Verschlimmerung einer vorbestehenden psychischen Störung.

Beim Notfall, dem akuten Fall einer Krise, besteht unmittelbarer professioneller Handlungsbedarf wegen Selbst- oder Fremdgefährdung. Die Abwendung von Gefahr steht im Vordergrund. Eventuell müssen dafür sogar Zwangsmaßnahmen getroffen werden.

In Notfallsituationen bewährt sich die Intervention vor Ort. Dort können in kurzer Zeit die Belastbarkeit der Angehörigen, die Selbsthilfekompetenz des Patienten und tägliche Belastungen erkannt werden. Da bei allen Kriseninterventionen, speziell jedoch im Notfall, das persönliche Umfeld unmittelbar betroffen ist, zielt die Intervention nicht nur auf das Wohl des Patienten, sondern auch auf das seines Umfeldes. Die Angehörigen - man denke auch an die Kinder - sind überfordert und brauchen (im Notfall sofortige) Entlastung.

Methodik der Notfallintervention

Ein Mensch und sein mitbetroffenes Umfeld bedürfen in der Krise einer gelassenen, jedoch auch entschiedenen Vorgehensweise - außerhalb des üblichen Behandlungsrahmens. Eine korrekte diagnostische Beurteilung ist im Notfall mit vertretbarem Aufwand nicht möglich und deshalb auch nicht anzustreben. Notfallhelfer vor Ort müssen von laienhaft umschriebenen Situationsbeschreibungen ausgehen, die im Folgenden als sogenannte Schlüsselsyndrome bezeichnet sind:

  • Bedrohliche Bewusstseinsstörung (Wichtig: Ausschluss einer sofort behandlungsbedürftigen körperlichen Störung)
  • Verlust des Realitätsbezugs, Wahnvorstellungen
  • Verzweiflung, Suizidalität
  • Aggression, Konflikt mit Drohung und Gewalt
  • Rausch oder Entzug
  • Angst und Panik
  • Chronisch-akute Problematik, z. B. bei chronischer Suizidalität

Es gilt: Syndromal beurteilen statt diagnostizieren! So muss z. B. während des Notfalleinsatzes die Gefahr einer lebensgefährlichen Vergiftung oder eine Selbst- bzw. Fremdgefährdung erkannt, jedoch die dahinterliegende Störung nicht korrekt diagnostiziert werden.

Je geringer die Kommunikationskompetenz, desto eher sind Angehörige beizuziehen. Je geringer die Handlungskompetenz (z. B. wegen Verzweiflung oder Gewalttätigkeit), desto eher sind organisatorische Maßnahmen zu treffen. Je größer der emotionale Druck (insbesondere Erregung), desto eher sind Medikamente einzusetzen. Zwangsmaßnahmen sind aus einer Güterabwägung einzuleiten bei akuter Selbst- und/oder Fremdgefährdung und fehlender Kooperation trotz methodischer Vorgehensweise.

Bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Notfallintervention vor Ort bewährt sich ein Handlungsablauf in fünf Phasen (vgl. Übersicht).

Hilfeangebot klar definieren

Wichtige Voraussetzungen für einen gelassenen Notfalleinsatz sind genügend Zeit (mindestens eine Stunde Gesprächszeit rechnen), wenige und sinnvolle Ausrüstung, Hinzuziehen anderer Helfer und v. a. der Polizei bei fraglicher Fremdgefährdung. Zudem sollte das Anliegen der Hilfesuchenden schnell geklärt werden. Der (gesetzliche) Auftrag des Notfallhelfers und sein Hilfeangebot sind ausdrücklich zu definieren. Auftragskonflikte sind eher die Regel als die Ausnahme. So möchte z. B. ein akut suizidaler Patient nicht in die Klinik, obschon die Angehörigen um eine derartige Maßnahme ersuchen. Solche Konflikte lassen sich klar benennen. Der Notfallhelfer definiert ausdrücklich seine berufliche Rolle, den gesetzlichen Auftrag, sein Hilfsangebot und dessen Grenzen sowie die Prioritäten seiner Intervention aufgrund seiner Einschätzung von Zuständigkeit und Dringlichkeit. Damit wird deutlich, dass der Notfallhelfer die Intervention leitet und sich notfalls auch durchsetzt, was viel zur Situationsklärung beiträgt.

Vertraute Personen hinzuziehen

Bei besonders heiklen Situationen, z. B. bei erregten Verzweifelten, sind vertraute und freundschaftlich zugewandte Personen hinzuzuziehen. Im Notfallgespräch ist es wichtig, Prioritäten zu setzen, das Thema klar aufs aktuell Wichtige (die Abwendung der Gefahr) einzugrenzen und zu überprüfen, ob das Übermittelte auch wirklich verstanden wurde. Das Ergebnis der Intervention wird evaluiert.

Dabei ist es wichtig, auf die eigene innere Wahrnehmung zu achten (z. B. die Veränderung der eigenen Besorgnis gegenüber suizidalen Menschen). Verzweifelte Menschen sind häufig ambivalent. Einerseits ist Hoffnung versteckt, andererseits sind die betroffenen Patienten sowie v. a. auch ihre Angehörigen durch die Zeichen von Destruktivität alarmiert. Diese Kräfte treten in eine Wechselbeziehung zum Interventionsimpuls des Notfallhelfers. Die Beobachtung des Verlaufs dieser Interaktion gibt wichtige Hinweise auf das weiter bestehende Gefährdungspotenzial sowie auf die spätere Kooperationsbereitschaft im Rahmen eines ambulanten Settings. Der aktuelle Schweregrad einer Störung ergibt sich denn auch weitgehend aus der geringen Beeinflussbarkeit durch die Notfallintervention. Es ist im Zweifelsfall Aufgabe des Patienten, den Notfallhelfer zu überzeugen, dass keine Spitaleinweisung notwendig ist.

Lösungsorientiert vorgehen

Die Intervention soll im Rahmen einer ruhigen und klaren Moderation durch den Notfallarzt (Situationsmanagement)

  • Hilflosigkeitstendenzen eingrenzen,
  • Wichtiges von Unwichtigem trennen,
  • Komplexes übersichtlicher werden lassen,
  • Selbsthilfekräfte fördern,
  • Belastung und Kompliziertheit reduzieren,
  • einen Schutz vor Destruktivität herstellen und
  • nach verborgenen konstruktiven Lösungsansätzen fragen.

Der zerstörerische Anteil im Patienten soll respektiert, der konstruktive Anteil unterstützt werden. Der Patient sollte durch sofort wirksame Maßnahmen entlastet, jetzt zugängliche Ressourcen sollten erschlossen werden (z. B. Hilfeangebote von Angehörigen). Kontakte zu vertrauten Personen sind möglichst im Beisein des Notfallhelfers zu knüpfen.

Darüber hinaus sind konkrete Vereinbarungen zu treffen, z. B. ein Non-Suizid-Vertrag oder das Einrichten eines Alarmsystems bei einem Rückfall. Neue Kommunikationsspielregeln in der Interaktion mit dem Therapeuten sind zu praktizieren. Um eine sofortige Entlastung von belastenden Aufgaben zu erreichen, hat es sich bewährt, kleine Handlungsaufträge zu geben, wie z. B. sich einen Tee zu kochen und eine Tagesstruktur festzulegen. Alles wird befristet bis zum nächsten Arztkontakt (in der Regel am nächsten Tag).

Medikamente?

Eine medikamentöse Behandlung ist in der Regel nur notwendig als Einmaldosis zum Schlafen oder um den gefahrlosen Transport in eine nachbehandelnde Institution zu gewährleisten.

Die wichtigsten Medikamente sind Halo­peridol bei Erregungszuständen und kurzwirksame Benzodiazepine als Beruhigungsmittel. Merke: Priorität bei der Notfallintervention hat die Behebung von akuter Selbst- und Fremdgefährdung durch sofortige Entlastung, Vernetzung und schützende Maßnahmen.


Literatur
1. RUPP M (2010) Notfall Seele. Ambulante Notfall- und Krisenintervention in der Psychiatrie und Psychotherapie. 3. Aufl., Thieme , Stuttgart

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Manuel Rupp


Kontakt:
Dr. med. Manuel Rupp
Facharzt für Psychiatrie
Psychotherapie FMH
CH-4057 Basel

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2010; 32 (7) Seite 16-18