Auch abseits der Zivilisation, etwa bei Expeditionen in der Wildnis, kann es zu akuten medizinischen Problemen kommen. Was tun, wenn Sie ohne einen gut ausgestatteten Notfallkoffer Erste Hilfe leisten müssen und die nächste Klinik viele Stunden entfernt ist? Dann gelten andere Regeln als in Ihrer Praxis und Sie müssen improvisieren.

Mit der Ausnahme von Extremsportarten wie Bergsteigen in extremen Höhen sind Todesfälle und schwere Erkrankungen während einer Expedition erfreulicherweise selten. Bei etwa 94 % der Behandlungen in der Wildnis handelt es sich um leichte Erkrankungen und kleine Verletzungen, welche auch vor Ort adäquat abschließend ärztlich versorgt werden können [2].

Das Royal College of Surgeons of Edinburgh [1]unterscheidet für Expeditionen drei Level der "Abgeschiedenheit" – also der Zeit, bis ein Patient ein Akutkrankenhaus, in dem alle relevanten Erkrankungen und Verletzungen behandelt werden können, erreicht:

1. Weniger als vier Stunden entfernt

2. Vier bis zwölf Stunden entfernt

3. Mehr als zwölf Stunden entfernt


Dieser Artikel geht insbesondere auf Situationen ein, bei denen eine medizinische Einrichtung erst nach über vier Stunden erreicht werden kann.

Traumatologische Notfälle

Die Vorgehensweise bei einem traumatologischen Notfall in der Wildnis unterscheidet sich in der ersten Phase grundsätzlich nicht von der generell üblichen präklinischen Vorgehensweise: Zunächst muss beurteilt werden, ob eine Gefahr für den Verletzten und/oder die Hilfeleistenden – z. B. durch weiter herunterstürzende Steine oder ein Gewitter – besteht. Falls dies der Fall ist, muss der Verletzte umgehend in einen sicheren Bereich gerettet werden, sofern dies ohne Gefährdung der Hilfeleistenden möglich ist. Bei der ersten Beurteilung des Verletzten ("Primary Survey") wird zunächst eine Verlegung der Atemwege ausgeschlossen (Abb. 1), dann wird die Atmung untersucht (beim Trauma ist hier besonders auf einen Spannungspneumothorax zu achten), dann der Kreislauf (Herzfrequenz, Rekapillarisierungszeit) und schließlich der Bewusstseinszustand. Akute Blutungen werden unverzüglich gestillt. Da in der Wildnis keine Möglichkeit für eine Bluttransfusion besteht, kommt der schnellen Blutstillung eine besondere Bedeutung zu. Im nächsten Schritt ("Secondary Survey") erfolgt eine Untersuchung mit dem Ziel, Verletzungen, die den Erhalt einer Extremität gefährden, zu erkennen und zu behandeln. Bei kalten Außentemperaturen darf der Verletzte dabei nur so weit wie unbedingt nötig entkleidet werden, um einen Wärmeverlust zu vermeiden. Sowohl das Primary als auch das Secondary Survey müssen regelmäßig wiederholt werden, um eine Verschlechterung des Zustandes rechtzeitig zu erkennen.

Frakturen und Luxationen

Während Frakturen mit Dislokation und Luxationen bei kurzen Transportwegen und erhaltener Durchblutung auch in der vorgefundenen Lage geschient werden und schnell in die nächste Klinik transportiert werden können, ist in der Wildnis eine schnellstmögliche Reponierung in Längsachse anzustreben (Abb. 2 und 3). Das gilt auch für offene Frakturen. Luxationen sind schnellstmöglich zu reponieren. Je früher eine Reposition durchgeführt wird, desto einfacher ist sie. Bei länger bestehenden Dislokationen entwickelt sich oft ein Muskelspasmus, so dass dann oft eine Reponierung nur nach Muskelrelaxation durchführbar ist. Die Reposition führt meist zu einer deutlichen Schmerzreduktion. Oft ist eine achsgerechte Stellung der Extremitäten auch eine Voraussetzung für einen Transport des Verletzten in der Wildnis unter einfachen Bedingungen. Kompartmentsyndrome, arterielle Durchblutungsstörungen und bleibende Nervenschäden treten bei frühzeitig durchgeführter Reposition deutlich seltener auf. Nach der Reponierung sind Durchblutung, Motorik und Berührungssensibilität in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren.

Für einen Transport müssen Frakturen der Extremitäten in der Regel geschient werden. Professionelle Hilfsmittel stehen hierzu oft nicht zur Verfügung, daher muss häufig improvisiert werden: Für die Schienung distaler Radiusfrakturen eignen sich zum Beispiel Zeitungen oder abgepackte Nahrungsmittel in Kombination mit einem Dreiecktuch und/oder Klebeband, für die untere Extremität Walkingstöcke (Abb. 4). Wegen der in der Wildnis langen Transportwege ist unbedingt auf eine ausreichende Polsterung zu achten. Häufig ist auch nach Reposition die Gabe von Analgetika erforderlich. Eine orale Analgesie ist zum Beispiel durch die Kombination eines NSAR mit Tilidin (welches in den meisten Ländern nicht als Betäubungsmittel gilt) möglich.

Wunden und offene Frakturen

Bei stark blutenden Wunden muss zunächst eine suffiziente Blutstillung erfolgen. In den meisten Fällen gelingt dies durch eine manuelle Kompression der Wunde über 10 – 15 Minuten mit einer Kompresse. Anschließend kann bei Bedarf ein Druckverband angelegt werden.

Verschmutzte Wunden sollten in der Wildnis – im Gegensatz zu der Situation in der Zivilisation – vor Ort gereinigt werden. Da sterile Lösungen meistens nicht zur Verfügung stehen, kann Trinkwasser verwendet werden [3, 4].

Wenn die definitive chirurgische Wundversorgung voraussichtlich länger als drei Stunden dauern wird, sollte – sofern vorhanden – innerhalb der ersten Stunde nach der Verletzung eine systemische Antibiotikatherapie eingeleitet werden [6]. Hierfür kann zum Beispiel Amoxicillin in Kombination mit Clavulansäure verwendet werden.

In den meisten Fällen lassen sich Wunden durch einen trockenen Verband ausreichend adaptieren. Eine klaffende Wunde, die sich nicht adaptieren lässt, wird mit einer feuchten Kompresse abgedeckt, damit sie nicht austrocknet. Die Kompresse sollte mehrmals täglich gewechselt werden.

Nicht komprimierbare Blutungen

Im Falle von nicht komprimierbaren Blutungen (z. B. Blutungen in den Bauchraum) kommt auch in der Wildnis das Konzept der "permissiven Hypotonie" zur Anwendung: Der systolische Blutdruck sollte nicht über 80 – 90 mmHg angehoben werden, da höhere Blutdruckwerte die Blutung verstärken. Ausnahme von dieser Regel sind Verletzte mit Schädel-Hirn-Trauma: Hier sollte der systolische Blutdruck bei 90 – 100 mmHg liegen, um einen ausreichenden zerebralen Perfusionsdruck sicherzustellen. In der Wildnis besteht allerdings häufig keine Möglichkeit, größere Mengen Flüssigkeit intravenös zu verabreichen.

Eine Hypothermie führt zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung und verstärkt damit eine Blutung. Es ist deshalb essenziell, einen Verletzten mit Blutverlust warm zu halten.Verletzte in der Wildnis sind häufig unterkühlt und dehydriert. Eine Narkose ist kurzfristig ohnehin nicht möglich. Sie dürfen deshalb – ggf. warme, gezuckerte – Getränke trinken und wenn sie Hunger haben auch etwas essen.

Wirbelsäulenverletzung

Erfreulicherweise sind instabile Wirbelsäulenverletzungen in der Wildnis sehr selten. Bei bewusstseinsklaren Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen ist eine Stabilisierung der Verletzung meist bereits durch den verletzungsbedingt erhöhten Muskeltonus gegeben. Die Indikation zur Immobilisierung der Wirbelsäule ist in der Wildnis sehr streng zu stellen. Häufig stehen entsprechende Hilfsmittel wie ein Spineboard oder eine Vakuummatratze sowieso nicht zur Verfügung. Halskrausen können den intrakraniellen Druck durch eine Behinderung des venösen Rückstroms erhöhen und Druckgeschwüre verursachen. Bei der Lagerung auf einem Spineboard können bereits nach 90 Minuten Druckgeschwüre entstehen [6]. Eine Immobilisierung der Wirbelsäule ist deshalb in der Regel nur dann sinnvoll, wenn der Patient bewusstlos ist, die Umgebung sicher und warm ist und eine kurzfristige Evakuierung – z. B. mittels Hubschrauber – möglich ist.

Verdacht auf Myokardinfarkt

Wichtigste Maßnahme ist hier die frühzeitige Gabe von Acetylsalicylsäure in einer Dosierung von 300 – 500 mg oral. Nitrate sollten nur gegeben werden, wenn keine Hypotonie vorliegt und ein Hinterwandinfarkt mit rechtsventrikulärer Beteiligung mittels 12-Kanal-EKG – welches in der Wildnis natürlich nicht zur Verfügung steht – ausgeschlossen ist. Der Betroffene sollte möglichst schnell in die Nähe eines automatischen Defibrillators gebracht werden, um beim Auftreten von Kammerflimmern defibrillieren zu können.

Kardiopulmonale Reanimation

In der Wildnis ist die Indikation für eine kardiopulmonale Reanimation strenger zu stellen. Bei einem durch Trauma bedingten Herzstillstand sind die Erfolgsaussichten einer Reanimation extrem gering, deshalb sollte in der Wildnis bei einem traumatisch bedingten Herzstillstand in der Regel keine Reanimation durchgeführt werden.

In allen anderen Fällen müssen die Erfolgsaussichten gegen das Risiko für die Retter (durch Erschöpfung und/oder Unterkühlung) abgewogen werden. In der Wildnis sollte eine Reanimation in der Regel nach 20 Minuten abgebrochen werden, wenn es nach dieser Zeit zu keiner Rückkehr des Spontankreislaufs ("ROSC", Return of Spontaneous Circulation) gekommen ist. Falls ein automatischer Defibrillator zur Verfügung steht, sollte die Reanimation allerdings mindestens so lange fortgesetzt werden, wie ein defibrillierbarer Rhythmus besteht. Ausnahmen von dieser Regel sind durch Blitzschlag, Ertrinken und Hypothermie bedingte Herzstillstände: in diesen drei Sonderfällen sollte die Reanimation – wenn personell möglich – auch in der Wildnis für einen längeren Zeitraum durchgeführt werden [7].

Im Falle eines vermuteten Herzstillstandes bei Hypothermie muss der Puls für mindestens 60 Sekunden getastet werden. Hintergrund ist, dass bei Hypothermie oft eine Bradykardie vorliegt, welche nur durch längeres Tasten der zentralen Pulse erkannt werden kann. Ein nicht erkannter durch Bradykardie bestehender Minimalkreislauf könnte bei schwerer Hypothermie durch eine Herzdruckmassage in ein Kammerflimmern überführt werden. Solange die Körperkerntemperatur unter 30 Grad liegt, sollten im Rahmen der Reanimation keine Medikamente gegeben werden, da sie unterhalb dieser Körpertemperatur nicht wirksam sind. Bei Kammerflimmern sollten bei einer Körperkerntemperatur von unter 30 Grad maximal drei Defibrillationen durchgeführt werden.

Eine präklinisch begonnene Reanimation bei Hypothermie muss so lange fortgesetzt werden, bis der Spontankreislauf zurückgekehrt ist oder ein Krankenhaus mit Intensivbehandlungsmöglichkeit erreicht ist.

Fazit für die Praxis: Was wird in der Wildnis anders gemacht?

Frakturen und Luxationen sollten in der Wildnis immer sofort reponiert werden. Verschmutzte Wunden sollten gereinigt werden, hierfür kann Wasser mit Trinkwasserqualität verwendet werden. Bei verschmutzten Wunden sollte innerhalb der ersten Stunde eine systemische Antibiotikagabe erfolgen. Verletzte müssen unbedingt vor Wärmeverlust geschützt werden – dies ist die wichtigste Maßnahme, um eine disseminierte intravasale Gerinnung und damit eine Verstärkung der Blutung zu vermeiden.

Die Indikation zur Wirbelsäulenimmobilisierung sollte in der Wildnis unter anderem wegen der Gefahr von Drucknekrosen sehr streng gestellt werden. Eine kardiopulmonale Reanimation sollte in der Wildnis in der Regel nach 20 Minuten abgebrochen werden, wenn bis dahin weder ein Spontankreislauf noch ein defibrillierbarer Rhythmus aufgetreten ist. Ausnahmen von dieser Regel und damit Indikationen für eine prolongierte Reanimation in der Wildnis sind Herzstillstände durch Blitzschlag, Ertrinken und Hypothermie. Bei Verdacht auf Herzkreislaufstillstand durch Hypothermie muss der Puls mindestens eine Minute lang getastet werden.


Literatur
1) Mellor A, Dodds N, Joshi R, Hall J, Dhillon S, Hollis S, Davis P, Hillebrandt D, Howard E, Wilkes M, Langdana B, Lee D, Hinson N, Williams TH, Rowles J, PynnH. Faculty of Prehospital Care, Royal Collegeof Surgeons Edinburgh guidance for medical provision for wilderness medicine. Extrem Physiol Med. 2015 Dec 1;4:22.doi: 10.1186/s13728-015-0041-x. eCollection 2015. PubMed PMID: 26629337; PubMedCentral PMCID: PMC4665843.
2) Lyon R, Wiggins C. Expedition medicine—risk of illness and injury. Wilderness Env Med. 2010;21:318–24.
3) Griffiths RD, Fernandez RS, Ussia CA: Is tap water a safe alternative to normal saline for wound irrigation in the community setting? J Wound Care 10(10): 407, 2001.
4) Moscati RM, Reardon RF, Lerner EB, Mayrose J: Wound irrigationwith tap water, Acad Emerg Med 5(11): 1.076, 1998.
5) Hospenthal DR, Murray CK, Andersen RC, et al.: Guidelines for the prevention of infection after combat-related injuries. J Trauma 64(3 Suppl): S211–220, 2008
6) Cordell WH, Hollingsworth JC, Olinger ML, et al.: Pain and tissue-interface pressures during spine-board immobilization, Ann EmergMed 26(1): 31, 1995.
7) Paal P, Milani M, Brown D, Boyd J, Ellerton J. : Termination of cardiopulmonary resuscitation in mountain rescue. High Alt Med Biol.2012;13 (3):200–8.Fazit für die Praxis:



Autor:

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Dr. Andreas H. Leischker, M.A.

Facharzt für Innere Medizin – Reisemedizin (DTG), Flugmedizinischer Sachverständiger
Gelbfieberimpfstation
Alexianer Krefeld GmbH
47918 Krefeld

Interessenkonflikte: Dr. Leischker hat Honorare/Reisekostenunterstützung von Pfizer, Novartis und Sanofi-Pasteur-MSD erhalten. Er ist Dozent und Mitglied der Akademie des Centrums für Reisemedizin (CRM) Düsseldorf


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (3) Seite 46-49