AIDS ist auch nach mehr als 35 Jahren eine Krankheit, die mit maximaler Ausgrenzung, Diskriminierung und irrationalem Verhalten einhergeht – trotz der heutigen guten Prophylaxe- und Behandlungsoptionen. Seit einigen Monaten gibt es in Deutschland den HIV-Heim-/Selbsttest im Handel. Dieser Test kommt ohne ärztliche Beratung aus. Bei der Interpretation reaktiver Ergebnisse ist das jedoch hoch problematisch.

Beim Thema AIDS setzte sich in den frühen 1980er-Jahren die bundesweite, flächendeckende Prävention mit personalkommunikativen Maßnahmen und der Einrichtung von Beratungsstellen im öffentlichen Gesundheitsdienst durch. Das war die Geburtsstunde des Bundesmodellprojekts der AIDS-Beratungsstellen in den örtlichen Gesundheitsämtern. Jedes Amt bekam eine "AIDS-Fachkraft", die anonyme, kostenlose und ergebnisoffene HIV-Testberatungen anbot und die Tests durchführte. Aus den Praxen verschwanden sodann die HIV-Tests. Sie durften dort nur noch bei Indikation und dringendem Verdacht auf eine HIV-Infektion vorgenommen und abgerechnet werden. Die AIDS-Hilfen als Betroffenenorganisationen entwickelten sich als weitere Säule der AIDS-Prävention, zunächst um Patienten zu begleiten und um gegen Diskriminierung zu kämpfen. Die AIDS-Beratungsstellen wurden ein voller Erfolg: Sie arbeiteten anonym und kostenlos, aber auch lebensweltorientiert, freiwillig, ergebnisoffen und empathisch. Das zeichnet die Arbeit der Beratungsstellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes auch heute noch aus.

Kombinierte Beratung

Die guten Erfahrungen mit dieser auf Eigenverantwortung setzenden AIDS-Prävention führten auch bei der Einführung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) dazu, dass in Paragraph 19 IfSG (Aufgaben des Gesundheitsamtes in besonderen Fällen) die "Geschlechtskrankenfürsorge" mit den Pflichtuntersuchungen und der Ausstellung des "Bockscheins" (amtsärztliches Gesundheitszeugnis) der Vergangenheit angehörte. Ab 2001 b0ten die Gesundheitsämter freiwillig und anonym die Beratung und Untersuchung zu HIV und weiteren sexuell übertragbaren Erkrankungen an oder stellten dies in Kooperation mit anderen Einrichtungen sicher. In vielen Gesundheitsämtern führte diese Entwicklung zu kombinierten, freiwillig und anonym arbeitenden Beratungsstellen für HIV und sexuell übertragbare Erkrankungen (STI = Sexual transmitted infection). Teilweise fachärztlich mit gynäkologischen, dermatologischen oder urologischen Fachärzten besetzt, hat sich hier eine enorme Expertise zu HIV und STI entwickelt, die leider den niedergelassenen Kollegen vielfach nicht bekannt ist.

Bei der Behandlung zeigte sich erst Mitte/Ende der 1990er-Jahre ein Silberstreif am Horizont: 1996 stellte die Welt-AIDS-Konferenz in Vancouver die erste HAART (High active anti retrovitral therapy) vor: die erste Kombinationstherapie, die AIDS zu einer behandelbaren, chronischen Infektionserkrankung machte. Die AIDS-Stationen in den Krankenhäusern verschwanden, auch mit einer HIV-Infektion war das Überleben kein Glücksfall mehr, wurde bald zur Normalität. HIV und AIDS verschwanden jedoch zeitgleich aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Im Januar 2008 zeigte Pietro Vernazza, ein Schweizer Infektiologe und Wissenschaftler, dass HIV-positive Menschen, die suffizient behandelt wurden, deren Viruslast mindestens sechs Monate unter der Nachweisgrenze lag und bei denen keine STI vorlag, auch bei ungeschützten sexuellen Kontakten nicht mehr ansteckend sind. Dieses Papier wurde als Schweizer Statement der "Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen" (EKAF) veröffentlicht. "Schutz durch Therapie" oder international "TasP" (Treatment as prevention) gehört heute zu den allgemeinen Präventionsbotschaften im Rahmen von Safer-Sex-Strategien, ebenso wie die Postexpositionsprophylaxe (PEP) oder die Präexpositionsprophylaxe (PrEP).

Trotz der teils bahnbrechenden Entwicklung bleibt ein Problem: Wie erreichen wir Menschen, die infiziert, aber nicht getestet und behandelt sind? Diese sogenannten "Late Presenter", deren Infektionen erst in einem sehr späten Stadium erkannt werden, fallen nicht in die klassischen Risikogruppen: Männer, die Sex mit Männern (MSM) haben, oder Drogenkonsumenten. Häufig sind es Migrantinnen, die schon lange in Deutschland leben, oder Frauen ungeouteter Männer, die Sex mit Männern haben, also heimliche homosexuelle Beziehungen in einer heterosexuellen Partnerschaft.

In der Hausarztpraxis bleibt oft keine Zeit für eine Sexualanamnese. Für den Arzt ist es zudem schwierig, langjährige Patienten auf ihre sexuellen Gewohnheiten und Vorlieben anzusprechen. Die behandelnden Hausärzte zögern daher oft, ihre Patienten auf sexuell übertragbare Erkrankungen anzusprechen, oder sehen kein Risiko. Die "Late Presenter" tauchen also beim Allgemeinarzt auf, werden aber nicht als HIV-positive Patienten identifiziert, fallen so durchs Netz.

Das Robert Koch-Institut schätzt, dass zwischen 10.000 und 14.000 Menschen ungetestet und unbekannt infiziert sind. Diese Zahl liegt im fehlenden Risikoprofil begründet, aber auch darin, dass HIV nicht mehr in den Köpfen ist und als Verdachtsdiagnose geäußert wird. Das Thema "Sexualität" spielt beim Hausarzt ohnehin oft keine Rolle und wird deshalb gar nicht erst angesprochen.

Seit vielen Jahren gibt es HIV-"Schnelltests". Sie ermöglichen eine zuverlässige Suche nach HIV-Antikörpern aus einem Kapillarblutstropfen. In den richtigen Händen und nach kompetenter Beratung sind sie für Menschen geeignet, die die Wartezeit zwischen Blutabnahme und Ergebnismitteilung scheuen. Die Bezeichnung "Schnelltest" ist jedoch irreführend. Denn "schnell" bezieht sich auf den Zeitraum zwischen Testung und Ergebnismitteilung – nicht aber auf die Zeit zwischen Risikozeitpunkt und Test, die beim "Schnelltest" zwölf Wochen beträgt. Im Gegensatz zum Labortest, der einen Sechs- Wochen-Zeitraum für eine exakte Diagnose nach stattgehabtem Risiko bis zur labordiagnostischen Abklärung vorschreibt und den sicheren Ausschluss einer Infektion erlaubt.

Aus dem Regal holen, bezahlen, fertig: Den HIV-Schnelltest gibt es seit letztem Jahr frei verkäuflich im Handel.

Kompletter Paradigmenwechsel

Im Herbst 2018 wurde der Heim-/Selbsttest von der Medizinprodukteverordnung (MPVO) ausgenommen und ist seitdem frei verkäuflich, etwa in Sexshops, Drogerien und Apotheken. Während es den Test schon früher im Ausland am Automaten zu kaufen gab, war er hierzulande noch an die MPVO gebunden. Selbst auf eine Apothekenpflicht wurde jetzt verzichtet. Auch eine kompetente Beratung beim Kauf eines Heim-/Selbsttests entfällt. Es gibt demnach einen kompletten Paradigmenwechsel. Bislang galt die Beratung testwilliger Menschen auf der Basis von Freiwilligkeit und Anonymität als unabdingbare Voraussetzung für eine Testung. Bei Bedarf wurden Risiken erklärt sowie der optimale Zeitpunkt des Tests und die möglichen Konsequenzen der Ergebnisse besprochen. Das fällt jetzt alles weg.

Der Public-Health-Gedanke, durch Beratung selbstbestimmt zu agieren und sich zu schützen, wird hier nicht berücksichtigt. Ohne jegliche Information können Menschen, für die – trotz aller Behandlungsfortschritte – eine HIV-Infektion eine Katastrophe darstellt, jetzt diesen Test machen. Ob dabei die Zeitspanne von zwölf Wochen eingehalten wird, die Handhabung fehlerfrei ist und die Ergebnisse korrekt interpretiert werden, ist fraglich.

Das Internet ist hier vermutlich die häufigste Bezugsquelle – das war vorher schon so, die Bestellung ist jetzt aber deutlich leichter. Der persönliche Kauf im Laden oder in der Apotheke ist da eher mit Hürden verbunden – ähnlich wie es schon der legendäre TV-Spot mit Hella von Sinnen aus dem Jahr 1989 zeigte: "Tina, wat kosten die Kondome?" Ein weiterer Nachteil: Es gibt keinerlei Evaluation. So bleibt unklar, wie viele Tests von wem gekauft, mit welchem Ergebnis und mit welcher Konsequenz sie durchgeführt werden. Zu befürchten ist außerdem, dass Paare, die sich erst kennengelernt haben, vor dem ersten Sex auf der Bettkante einen Test machen, der noch nicht aussagekräftig ist. Auch die dauernde Testung phobischer Menschen, die eine HIV-Infektion als gerechte Strafe für ihr "unmoralisches Tun" erwarten (etwa nach Besuch einer Sexarbeiterin), ist denkbar. Ebenso der gefährdete Mensch, der nach riskanten Kontakten zu früh testet und sich aufgrund des negativen Testergebnisses in falscher Sicherheit wiegt. Allen gemein ist: Es gibt kein Korrektiv. So können etwa Betreiber von FKK-Clubs oder Bordellen, die Frauen testen und mit deren "gesundem" Ergebnis an der Zimmertür werben, für ein Roll-Back sorgen.

Viele AIDS-Hilfen sehen den "Selbsttest" als Option, diesen ohne ärztliche Beratung zu begleiten und damit eine Lücke in ihren Beratungssettings zu füllen. Weil die Beratung durch einen Arzt fehlt, gibt es aber keine Möglichkeit, einen reaktiven Selbsttest durch eine venöse Blutentnahme in einem überschaubaren Zeitraum zu entkräften, weiterführende Kontrollen anzubieten oder ausführlich zu STI zu beraten.

Eine Beratungsstelle zu sexueller Gesundheit im öffentlichen Gesundheitsdienst, die im besten Fall mit einem Arzt, medizinischen Fachangestellten und Sozialarbeitern ausgestattet ist, bietet folgende Optionen:
  • Sie kann anonym und oft kostenlos oder kostengünstig weiterführende STI-Untersuchungen anbieten.
  • Sie kann einen reaktiven HIV-Test weiter abklären.
  • Sie hat Erfahrung im Mitteilen reaktiver/positiver Ergebnisse und bei deren Einordnung sowie in akuter Krisenintervention.

Der Selbsttest ist für wenige gut aufgeklärte Personen geeignet, die ihren Serostatus regelmäßig checken und anonyme Beratungsstellen meiden wollen. Hier kann man den HIV-Heimtest sicher empfehlen. Doch werden möglicherweise auch Menschen, die sich bisher aus diversen Gründen nicht testen ließen, den Heimtest nutzen. Ob hier die zeitlich korrekte Anwendung, die richtige Ergebnisinterpretation beziehungsweise die konsequente Reaktion auf ein reaktives Ergebnis erfolgt, sei dahingestellt. Zu hoffen bleibt, dass HIV-positive Patienten nach dem Test in den richtigen Versorgungsstrukturen ankommen.

Fazit für die Praxis
Der HIV-Selbsttest (oder HIV-Heimtest) ist in Deutschland seit Herbst 2018 im Handel erhältlich. Dieses Kontrollverfahren kann – auch wenn das Testergebnis nach etwa 15 Minuten vorliegt – eine HIV-Übertragung erst nach zwölf Wochen sicher ausschließen. Problematisch bleibt, dass dabei keine Beratung stattfindet und die Ergebnisse falsch interpretiert werden können. Die AIDS-Hilfen können hier lediglich nicht-ärztliche Beratungen anbieten. In den Beratungsstellen zu sexueller Gesundheit im öffentlichen Gesundheitsdienst sind dagegen auch Ärzte beratend tätig.



Autorin:
Dr. med. Astrid Platzmann-Scholten
Beratungsstelle "Sexuelle Gesundheit – AIDS/STI"
Gesundheitsamt Marl
45770 Marl

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (18) Seite 56-60