Eine Diabetes-Erkrankung sowie die damit verbundene Medikation können die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen. Patienten müssen über die Risiken hinreichend und gründlich aufgeklärt werden. Eine neue S2e-Leitlinie "Diabetes und Straßenverkehr" der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) bringt hierzu neben medizinisch-wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn zusätzliche Rechtssicherheit für Ärzte.
Auf welcher Basis sollten Ärzte die Fahrtauglichkeit ihrer Patienten ermessen? Die "Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen" hat gemäß Anlage 4a zu § 11 FeV auf Grundlage der amtlichen Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (BGLL) [2] zu erfolgen. Es wird vorausgesetzt, dass Ärzte die dort enthaltenen Vorgaben zumindest in Grundzügen kennen, um die erforderliche Aufklärung leisten zu können. Die BGLL stellen klar, dass "gut eingestellte und geschulte" Menschen mit Diabetes sowohl PKW als auch LKW sicher führen können – dies gilt auch für die Personenbeförderung (Taxi, Omnibus) [3]. Voraussetzung ist allerdings, dass Unterzuckerungen rechtzeitig wahrgenommen werden. Beim Diabetes mellitus hängt hiernach das Risiko einer "Gefährdung der Verkehrssicherheit […] in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen" [4] ab. Die Teilnahme am Straßenverkehr ist in der Regel aber kein Problem, sofern und solange Hypoglykämien rechtzeitig wahrgenommen werden. Die BGLL unterscheiden bei den Bewertungskriterien zur Fahrtauglichkeit zwei Gruppen von Führerscheinklassen [2] (siehe Kasten).
- Gut eingestellte und geschulte Menschen mit Diabetes können Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen.
- Ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung ist Voraussetzung.
- Mehr als eine fremdhilfebedürftige Hypoglykämie im Wachzustand in den letzten Monaten: In der Regel so lange keine Fahrtauglichkeit, bis wieder eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt ist.
Hypoglykämierisiko im Fokus
Bei der Bewertung der Fahreignung ist in erster Linie auf das Hypoglykämierisiko und die Fähigkeit zur Hypoglykämiewahrnehmung abzustellen:
Wiederholte schwere Hypoglykämien im Wachzustand schließen die Fahreignung zunächst aus. "Schwere Hypoglykämie" bedeutet die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person. "Wiederholte Hypoglykämie" bedeutet das zweimalige Auftreten einer schweren Hypoglykämie innerhalb von 12 Monaten. Die Fahreignung kann bei Hypoglykämiewahrnehmungsstörung in der Regel auf der Grundlage einer fachärztlichen (diabetologischen) Begutachtung durch geeignete Maßnahmen wie das Hypoglykämiewahrnehmungstraining, Therapieänderungen und vermehrte Blutzuckerselbstkontrollen wiederhergestellt werden.
Die weiteren ärztlicherseits erforderlichen Maßnahmen – nachdem eine Fahreignung wie oben beschrieben ausgeschlossen wurde – sind in den Begutachtungsleitlinien jedoch insgesamt nur wenig konkretisiert und lassen einigen Freiraum. Für den Arzt bedeutet dies ein nicht unerhebliches Risiko: Denn lässt er den Patienten wieder fahren, obwohl dieser nicht (wieder) fahrgeeignet ist, dann kann er möglicherweise in Haftung genommen werden – beispielsweise von Unfallgegnern, Versicherungen oder dem Patienten selbst. Noch mehr Graubereich gibt es hinsichtlich der Bewertung von entgleisten hyperglykämischen Lagen: Die Begutachtungsleitlinien verweisen hierzu regelmäßig auf die Beurteilung im Einzelfall, ohne hierfür jedoch konkrete Handlungsempfehlungen oder Vorgaben zu treffen.
Neben Hypoglykämien sind auch die mit einer Therapieumstellung verbundenen Risiken zu beachten. Nach einer Stoffwechseldekompensation ist daher eine Einstellung bzw. Neueinstellung erforderlich. Dabei ist die Normalisierung des Sehvermögens ein Indikator für das Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage. Insbesondere "Hyperglykämien mit ausgeprägten Symptomen wie z. B. Schwäche, Übelkeit oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen können das Führen von Kraftfahrzeugen ausschließen".
S2e-Leitlinie der DDG
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat nun – unter Beteiligung zahlreicher anderer medizinischer Fachgesellschaften (u. a. der DEGAM) – eine wissenschaftliche Leitlinie erstellt. Diese wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) als sog. S2e-Leitlinie klassifiziert. Hierzu war eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege (Evidenz) zu den relevanten klinischen Fragestellungen erforderlich. Für Fragestellungen, für die man keine hinreichenden Belege finden konnte, wurden begründete Empfehlungen auf Basis eines Expertenkonsenses gegeben.
Unfallhäufigkeit bei Diabetikern nur unwesentlich erhöht
Bislang wurde häufig die Meinung vertreten, insulinpflichtige Patienten könnten in der Regel nicht mehr als Busfahrer oder Lkw-Fahrer arbeiten oder ein hoher Langzeitblutzuckerwert stelle einen Grund zur Verweigerung des Führerscheins dar. Die Leitlinie belegt nun, dass solche pauschalen Annahmen unbegründet und daher unzulässig sind: Die ausgewerteten Studien [5] beschreiben u. a., "dass ein Unfall infolge einer Unterzuckerung erst nach ungefähr einer durchschnittlichen Fahrleistung von circa 400.000 km beobachtet werden konnte."
Im Gegensatz zur Hypoglykämie haben hyperglykämische Blutglukosewerte (Nüchternglukosegehalt >100 mg/dl [5,5 mmol/l] bzw. 140 mg/dl [7,8 mmol/l] 2 Stunden postprandial) nach der aktuellen Studienlage keinen nachgewiesenen bedeutsamen Einfluss auf die Fahrsicherheit [6]. Auch die häufige Forderung von Führerscheinbehörden oder Gutachtern, dass der HbA1c-Wert unter einem bestimmten Wert liegen müsse, entbehrt jeder Grundlage. Bei hyperglykämischen Stoffwechsellagen muss somit immer für den Einzelfall beurteilt werden, ob die Fahreignung nennenswert beeinträchtigt ist.
Zusätzliche Rechtssicherheit für Ärzte
Nachdem es bis dahin keine vergleichbar detaillierten, anerkannten wissenschaftlichen Grundsätze zur Bewertung der Fahreignung gab, bestand eine erhebliche haftungsrechtliche Grauzone für Ärzte und Behandlungspersonal, insbesondere was die Pflicht zur Aufklärung der Patienten und die konkreten Vorgehensweisen betrifft. Die Leitlinie der Fachgesellschaft bringt hier nun fachliche und juristische Sicherheit und zeigt die fachlich gebotene Vorgehensweise auf. Ein Arzt, der sich an diese wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen hält, handelt grundsätzlich fachgerecht ("lege artis") und muss keine Haftung befürchten. Für Patienten ist es nun deutlich einfacher, gegen fachlich mangelhafte Gutachten vorzugehen bzw. einen deswegen drohenden Verlust der Fahrerlaubnis abzuwenden. Denn wenn ein Gutachten von den Vorgaben der Leitlinie abweicht und es dafür keine wirklich gute Begründung gibt, dann ist es fehlerhaft.
Aufklärung und Dokumentation
Grundsätzlich ist jeder Mit-Behandler verpflichtet, den Patienten auf die krankheits- bzw. therapiebedingten Risiken hinzuweisen und ggf. vom Führen von Kraftfahrzeugen abzuraten. Ein mündliches Aufklärungsgespräch ist unverzichtbar. Die Aufklärung ist in der Patientenakte zu dokumentieren. Eine fehlende Dokumentation begründet grundsätzlich die Vermutung, dass die Aufklärung nicht stattgefunden hat. Im Zweifelsfall empfiehlt sich auch die Hinzuziehung von Zeugen (Praxispersonal).
Es ist aus Beweisgründen dringend anzuraten, den Patienten zusätzlich auch noch schriftlich zu informieren und aufzuklären. Insbesondere wenn ein "ärztliches Fahrverbot" auszusprechen ist, sollte dies aus haftungsrechtlichen Gründen unbedingt zusätzlich in Schriftform mitgeteilt werden, um Missverständnisse oder Unklarheiten bezüglich des Inhalts dieser Aufklärung auszuräumen. Es kann erforderlich sein, die Aufklärung in gewissem Zeitabstand zu wiederholen. Insbesondere beim Übergang von OAD auf Insulin oder der Umstellung auf Insuline mit verändertem Wirkprofil sollte eine entsprechende Aufklärung erfolgen [7].
Im Zweifel sollte der Patient zur Abklärung an einen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation verwiesen werden, welcher zur Bewertung der Fahreignung ein entsprechendes Gutachten erstellt. Eine regionale Suche nach Ärzten mit der gem. § 11 Abs. 1 Nr. 1 Fahrerlaubnisverordnung geforderten Qualifikation ist über die Website der Deutschen Diabetes Gesellschaft möglich [8].
Oliver Ebert
Interessenkonflikte: Der Autor ist Vorsitzender des Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) sowie Koordinator und Mitautor der S2e-Leitlinie "Diabetes und Straßenverkehr". Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften Diabetes-Journal und Diabetes-Forum sowie verantwortlich für das Internetportal diabetes.forum.de. Als Rechtsanwalt berät er auch zu verkehrsrechtlichen Fragestellungen in Bezug auf Diabetes mellitus und bietet zu diesem Thema Vortragsveranstaltungen an.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (20) Seite 58-62