Es bedarf einer neuen Berufsethik, die den Arzt in den Mittelpunkt rückt und der Profession und den Menschen Respekt zollt.

"Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten." So steht es im Genfer Gelöbnis. In einer Zeit der geforderten Rundumverfügbarkeit ärztlicher Leistungen ist dies dringend geboten. Was können und was müssen Ärztinnen und Ärzte leisten?

Es ist richtig, dass jeder Kranke zu jeder Zeit und an jedem Ort die erforderliche medizinische Behandlung auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse erhält. Die Forderungen nach einer Terminvergabe rund um die Uhr und nach immer mehr Sprechstunden bedienen aber eine falsche Erwartungshaltung bei den Patienten und bringen uns Ärzte in ein Dilemma: In die Position derer, die einerseits die Patienten nicht wegschicken dürfen, andererseits am Bedarf vorbei behandeln und damit wiederum die Patientenerwartung auf eine 24-Stunden-Versorgung von Befindlichkeiten nähren.

Natürlich müssen die Versorgungsstrukturen so organisiert sein, dass der Zugang zu den erforderlichen medizinischen Leistungen möglich und gesichert ist. Dennoch muss die Gesellschaft wieder lernen, Bedarf von Bedürfnissen zu unterscheiden und ihre Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben. Dies insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets, das verspricht, dass alles jederzeit zur Verfügung steht.

Arztgesundheit bedeutet nämlich sowohl die Einhaltung der Arbeitszeitgesetze in den Krankenhäusern als auch die Entlastung im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Eine gesunde "Work-Life-Balance" gelingt dort nicht, wo der Beruf krank macht. Hier ist die Politik in die Pflicht zu nehmen, den Menschen zu erklären, was das Sozialgesetzbuch V mit dem § 12 vorgibt, in dem es heißt: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen."

Stattdessen kommen in immer kürzeren Abständen Gesetze, die ärztliches Tun reglementieren, sowie Aussagen, die mit Wertschätzung unseres Berufsstandes nichts zu tun haben, denn natürlich betreiben wir Ärzte in unserer Freizeit auch Sport – und das ist zu begrüßen. Hier sind die Krankenkassen in die Pflicht zu nehmen, die mit dem Versprechen hausieren gehen, alles medizinisch Mögliche stehe dem Patienten zu, dabei aber die notwendigen Finanzmittel offenbar einbehalten. Unser Krankenversicherungssystem beruht nicht nur auf dem Prinzip der Solidarität, sondern auch der Subsidiarität. Dabei immer nur auf Wirtschaftlichkeitsreserven in der ärztlichen Behandlung zu pochen, kann krank machen.

Es bedarf einer neuen Berufsethik, die den Arzt mehr in den Mittelpunkt rückt. Die ihm auch psychosoziale Unterstützung zuteilwerden lässt bei und nach belastenden Situationen, die ein sanktionsfreies Fehlermanagement ermöglicht und die der Profession und den Menschen Respekt zollt.



Autor:

Dr. med. Gerald Quitterer

Facharzt für Allgemeinmedizin, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer
81677 München

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (7) Seite 5