Mit zunehmendem Anteil älterer Menschen nehmen Multimorbidität und zwangsläufig die Mehrfachmedikation unserer Patienten zu. Gleichzeitig gibt es wenige Studien, die ein pharmakologisches Austherapieren multipler Komorbiditäten unterstützen. Die Belege für potenzielle Schäden jedoch nehmen zu.

Obwohl für das Zustandekommen von Multimedikation keinesfalls alleine verantwortlich, tragen Hausärzte bei den Entscheidungsprozessen mit den Patienten die Hauptlast der Verantwortung.

Es gibt zwar Hilfen wie die PRISCUS-Liste [1] und die Hausärztliche Leitlinie Multimedikation [2], die Forschung zum Management und zur pharmakologischen Priorisierung befindet sich jedoch noch am Anfang.


Fallbeispiel: Von null auf zwanzig Medikamente in zwei Jahrzehnten


Ein Beispiel für eine typische Polypharmazie-Laufbahn bietet folgender 55-jährige Patient: Er ist etwas übergewichtig, raucht Zigaretten, hat keine Beschwerden und fühlt sich gesund. Medikamente nimmt er keine ein.

Im Alter von 57 Jahren werden erstmals Gicht, Hypertonie und Diabetes mellitus diagnostiziert, hierfür werden ihm Allopurinol, Enalapril und Metformin verschrieben. Lebensstiländerungen bringen trotz ernsthaftem Bemühen nicht den erwünschten Erfolg. Mit 60 Jahren entwickelt sich aufgrund der Raucheranamnese eine COPD, die mit Tiotropiumbromid behandelt wird. Im weiteren Verlauf entwickelt er Kniebeschwerden: Für seine neu diagnostizierte Gonarthrose nimmt er ein Schmerzmittel. Im Alter von 65 Jahren erhält er für seine Hypertonie zusätzlich Metoprolol und wird außerdem trotz jetzt reduziertem Gewicht insulinpflichtig. Ein weiteres Jahr später wird seine weiter verschlechterte Hypertonie zusätzlich mit Amlodipin und HCT behandelt. Seine Lungenfunktion wird schlechter und er bekommt Formoterol dazu. Außerdem leidet er an einem Prostataadenom, wofür der Patient Tamsulosin erhält. Hinzu tritt ein gastroösophagealer Reflux, der mit Omeprazol behandelt wird.

Im Alter von 72 Jahren kommen neurologische Erkrankungen hinzu: Für seine Demenz bekommt er Rivastigmin, nach einer TIA zusätzlich ASS. Mit 75 Jahren erleidet er einen NSTEMI und erhält noch Simvastatin und Clopidogrel, aufgrund einer Osteoporose mit Wirbelkörperfraktur kommen auch noch Fentanyl und Alendronat, Calcium und Vitamin D sowie bei einem stationären Aufenthalt wegen exazerbierter COPD auch Roflumilast und vorübergehend Prednison und wegen Unruhezuständen noch Risperidon hinzu.

Der Medikationsplan sieht nun wie folgt aus: Allopurinol, Enalapril, Amlodipin, HCT, Metoprolol, Metformin, Insulin, Formoterol, Roflumilast, Tiotropiumbromid, Tamsulosin, Omeprazol, Rivastigmin, ASS, Alendronat, Calcium+Vitamin D, Fentanyl-TTS, Clopidogrel, Simvastatin und Risperidon, bedarfsweise Schmerzmittel und Prednison. Er nimmt jetzt mit 75 Jahren über 20 Medikamente mit Tagestherapiekosten von ca. 20 €.


Leitlinien und fachspezifische Therapien versagen bei multimorbiden Patienten

Schon vor Jahren wiesen Cynthia Boyd und Kollegen darauf hin, dass auf Einzelerkrankungen fokussierende medizinische Leitlinien (LL) zu unerwünschten Wirkungen bei multimorbiden Patienten führen können und dass widersprüchliche Behandlungsstrategien und Polypharmazie resultieren können [3].

Über 40 % der Patienten über 65 Jahre nehmen mehr als fünf Wirkstoffe ein [4]. Auch zehn bis 15 Medikamente sind keine Seltenheit. Übermedikation ist aus pharmakologischer Sicht nicht ungefährlich: So liegt das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen bei weniger als fünf parallel eingenommenen Medikamenten bei etwa 4 %, steigt mit der Zahl der Arzneimittel aber exponentiell stark an auf etwa 25 % bei mehr als sechs verschiedenen Substanzen [5]. Auch Probleme bei der Einnahme (wie z. B. Verwechslungen von Medikamenten) und Einbußen der Compliance sind mit der Zahl der verordneten Medikamente eng assoziiert [6].

Jede Erkrankung kann für sich genommen gut vom Hausarzt oder vom jeweiligen Spezialisten leitlinienorientiert behandelt werden, wie das Fallbeispiel im Kasten zeigt. Doch bei multimorbiden Patienten können sich verschiedene leitliniengerechte Arzneimitteltherapien zu einem gefährlichen Medikamentencocktail summieren.

Automatisierte Arzneimittelchecks und Softwarelösungen sind im Alltag schwierig anzuwenden. Scores und Listen problematischer Arzneimittel (wie die schon erwähnte PRISCUS-Liste) machen zwar auf die Schwierigkeiten aufmerksam, beschreiben aber meist nur die bekannten Probleme und helfen im konkreten Einzelfall oft nicht, zu Lösungen zu kommen.

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Das Interview mit Dr. med. Hans-Otto Wagner finden Siehier.

Die Hälfte der Arzneimittel absetzen

Eine Machbarkeitsstudie zum gezielten Absetzen von Medikamenten bei älteren Patienten stammt aus Israel [7]. Als kleine, unkontrollierte prospektive Interventionsstudie genügt sie nicht den strengen Anforderungen der evidenzbasierten Medizin. Dennoch lassen sich aus ihr wertvolle Erkenntnisse ableiten: Immerhin gelang es den Autoren, mit ihrem Algorithmus 50 % der vormals verabreichten Arzneimittel abzusetzen, ohne dass sich die gesundheitliche Situation der Patienten verschlechterte. Meist besserte sich nach Absetzen eines Großteils der Medikamente sogar deutlich die subjektive Lebensqualität der Patienten.

Tipps für die Praxis: Wie reduziere ich sinnvoll Medikamente?
  • Ziele definieren: Welche Therapieziele haben oberste Priorität für den Patienten und welche Medikamente sind hierfür unabdingbar?
  • Strategie festlegen: Medikamente, die nicht als zwingend erforderlich angesehen werden, versuchsweise absetzen.
  • Folgen abschätzen: Verzichtbare Medikamente immer einzeln absetzen, damit die therapeutischen Konsequenzen klar erkennbar sind.
  • Geduld haben: Es kann leicht ein Jahr dauern, bis der Patient seinen Medikamentenverbrauch auf fünf bis sechs verschiedene Präparate reduziert hat.
  • Rückschläge in Kauf nehmen: Mit jedem stationären Aufenthalt kann das „Spiel“ wieder von Neuem beginnen, weil der Patient im Krankenhaus wieder auf neue Medikamente eingestellt bzw. oft nur umgestellt wird, deren Zusatznutzen vom Hausarzt gemeinsam mit dem Patienten erst wieder neu bewertet werden muss.

Welche Ziele hat der Patient?

Wichtig ist in erster Linie, dass der Patient gemeinsam mit dem Hausarzt seine aktuellen Gesundheitsziele definiert: Steht eher Lebensqualität oder die Lebenslänge im Zentrum des Patientenwunsches? Der Hausarzt ist letztlich für jedes von ihm unterschriebene Rezept alleine verantwortlich, auch wenn es vom Krankenhaus oder Spezialisten empfohlen wurde. Und nur er hat den Überblick über alle Krankheiten und die komplette Medikation des Patienten.

Die Entschleunigung in der Arzt-Patient-Beratung, pharmakotherapeutische Kompetenz des Hausarztes und Leitlinien, die das Problem zukünftig explizit berücksichtigen, sind der Schlüssel zum Erfolg. Denn die Frage, die schon 1988 im renommierten Fachjournal LANCET aufgeworfen wurde, hat noch nichts von ihrer Brisanz verloren: „Need we poison the elderly so often?“

Interessenkonflikte: Mitglied im Präsidium und der Ständigen Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, Vortrags- und Autorentätigkeit für das Institut für hausärztliche Fortbildung, Evidenzbasierte Medizin

Literatur:
1. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31-32): 543-51.
2. Hausärztliche Leitlinie "Multimedikation - Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation" Version 1.06 I 04.09.2013. Leitliniengruppe Hessen
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten
3. Boyd CM, Darer J, Boult C, Fried LP, Boult L, Wu AW. Clinical practice guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases: implications for pay for performance. JAMA. 2005;294(6):716-724.
4. Thürmann PA, Holt S, Nink K, Zawinell A. Arzneimittelversorgung älterer Patienten. In: Günster C, Klose J, Schmacke N. Versorgungs-Report 2012. Schattauer-Verlag Stuttgart 2012:111-130
5. Mühlberg W et al.: Neben- und Wechselwirkungen von Pharmaka im Alter. In: Platt D, Mutschler E (Hg.): Pharmakotherapie im Alter, 1999
6. Beardon PHG, McGilchrist MM, McKendick AD et al. Primary non-compliance with prescribed medication in primary care. BMG 1993; 307: 846-848
7. Garfinkel D, Mangin D: Feasibility Study of a Systematic Approach for Discontinuation of Multiple Medications in Older Adults. In: Arch Intern. Med. 2010; 170: 1648

Dr. med. Hans-Otto Wagner


Kontakt
Dr. med. Hans-Otto Wagner
Facharzt für Allgemeinmedizin
20246 Hamburg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (1) Seite 30-31