Kulturelle Differenzen, wie sie auch in Arztpraxen vorkommen können, sind manches Mal frustrierend, weil sie uns verwirren und unvorhersehbar erscheinen. Vor diesem Hintergrund stellt sich heute stärker denn je die Frage, wie interkulturelle Beziehungen am besten zu gestalten sind. In diesem Artikel erhalten Sie Hinweise, die Sie in der Arztpraxis in Ihrer täglichen Arbeit anwenden können.

Bitte beachten Sie beim Lesen stets, wenn ich in diesem Artikel auf verschiedene Kulturen eingehe, dass dies immer nur eine Tendenz sein kann, die aber bei weitem nicht für alle Menschen der jeweils benannten Kultur gilt.

Unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sind kulturell geprägt:
  • was wir unter Krankheit verstehen (Krankheitsverständnis)
  • wie wir unsere Beschwerden darstellen (Schmerzausdruck)
  • an wen wir uns wenden (einen Arzt oder einen volksmedizinischen Heiler (Hodscha)) und
  • welche Behandlung wir für angemessen halten (volksmedizinische Erklärungsmuster). Das muss nicht immer die wissenschaftlich-schulmedizinische Behandlung sein. Gerade in der Türkei sind magische Praktiken noch weit verbreitet.

Wie können Sie muslimische Patientinnen mit Kopftuch einordnen?

Die Pflicht, ein Kopftuch zu tragen, ist nicht direkt aus dem Koran ableitbar. Wenn Musliminnen ihren Kopf bedecken, hat das nicht unbedingt einen religiösen Hintergrund. Dies ist meist nur der Fall, wenn kein einziges Haar mehr unter dem Kopftuch zu sehen ist. Für manche Türkinnen hat das Kopftuch auch eine "magische Schutzfunktion" vor dem "bösen Blick". Der "böse Blick" wird vor allem mit Neid in Verbindung gebracht. Daher kann ein Kleidungsstück, das Ursachen für Neid – wie Schönheit oder Jugend – verbirgt, vor dem "bösen Blick" schützen.

Das Kopftuch kann in manchen Fällen auch eine modische Erscheinung sein oder praktische Gründe haben – als Schutz vor Umwelteinflüssen wie Sonne, Regen und Wind. Außerdem ist es für viele türkische Frauen einfach Gewohnheit, ein Kopftuch zu tragen. Es würde ihnen sehr schwerfallen, sich von dieser Gewohnheit zu lösen.

Der Umgang mit muslimischen Patienten

Für viele muslimische Patienten ist der Gang zum Arzt eine große Belastung. Die Ursachen hierfür sind hauptsächlich:
  • Sprachprobleme,
  • gefühlte Isolation der Migranten,
  • ggf. das andere Geschlecht des Behandelnden
  • und nicht zuletzt das Gefühl, dass ihre Religion und Sichtweisen als minderwertig angesehen werden könnten.

Ich möchte an dieser Stelle zu bedenken geben, dass der Islam und die Muslime verwirrend vielfältig sind. So vielfältig, wie es eine Vielzahl muslimischer Gesellschaften in den 57 Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz gibt. Eine kopftuchtragende Patientin oder ein barttragender Pflegebedürftiger sind keine zuverlässigen Parameter für die muslimische Zuordnung. Nicht alle Muslime befolgen streng religiöse Gebote und Verbote.

Hintergrundinfo: Islamische Medizinalethik
  • Blutspenden und Transfusion ist erlaubt.
  • Vorübergehend wirkende Verhütungsmittel sind mit Einverständnis beider Eheleute gestattet.
  • Abtreibung ist grundsätzlich nicht erlaubt; Ausnahme bei medizinischer Indikation.
  • Künstliche Befruchtung ist nur zwischen den Eheleuten, während des Zeitraumes ihrer intakten Ehe gestattet.
  • Die Zirkumzision des Knaben ist empfehlenswert bzw. verpflichtend.
  • Gentechnik ist erlaubt, um eine Krankheit zu heilen, jedoch ist das Eingreifen in das Erb-Gen des Menschen nicht gestattet; des Weiteren ist das Klonen nicht erlaubt.
  • Schweineprodukte wie Insulin, Herzklappen oder Gelatine werden erlaubt, sofern keine Substitute zur Verfügung stehen.
  • Alkohol wird in geringen Prozenten geduldet, falls er im Herstellungsprozess benötigt wird. Er darf jedoch nicht sedierend wirken. Falls vorhanden, sollte eine Alternative angewendet werden!

Muslimischen Patienten fällt es oft schwer, den deutschen Ärzten die Symptome ihrer Erkrankung verständlich zu beschreiben. Nach der muslimischen Tradition wird ein Gebrechen erst als echte Krankheit gewertet, wenn es Schmerzen bereitet. Daher meiden viele Muslime Impfungen, routinemäßige Kinderuntersuchungen oder Vorsorgeuntersuchungen, wie sie Urologen, Zahn- oder Frauenärzte anbieten.

Tabuthemen für Muslime

Es ist im islamischen Kulturkreis tabu, mit Außenstehenden über folgende Themen zu sprechen:
  • Familiäre Probleme und Intimes. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um einen gegengeschlechtlichen Gesprächspartner handelt. Besonders bei muslimischen Frauen sollten Sie nicht mehrfach konkret nachfragen, da diese sich schämen und von allein derartige Themen nicht ansprechen. Es kann vorkommen, dass muslimische Patienten auf die Frage nach familiären Problemen sehr abweisend reagieren, da es nicht üblich ist, darüber mit einem Nichtmuslim zu sprechen.
  • Türkische Patienten schämen sich häufig, körperliche Funktionen wie Stuhlgang, Wasserlassen, Auswurf und Erbrechen zu erwähnen.
  • Über Schwangerschaft wird mit einem Mann nicht gesprochen. Auch wenn eine schwangere Frau Blutungen hat, wird dies oft nicht erzählt, da man Angst hat, jemand könnte etwas Böses wünschen oder herbeireden.
  • Eine ledige muslimische Frau zu fragen, ob sie Kinder hat, gilt als ungehörig, da außerehelicher Geschlechtsverkehr verboten ist. Es kann ebenfalls als Beleidigung aufgefasst werden, wenn eine verheiratete kinderlose Frau gefragt wird, ob sie Kinder habe. Die Frau hat dann das Gefühl, man werfe ihr ihre Kinderlosigkeit vor.

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient

Auch in Deutschland verwenden türkische Patienten bisweilen den Vornamen und sprechen den Gesprächspartner mit Du an, auch wenn sie von diesem gesiezt werden. Manche türkische Patienten würden allerdings sehr empfindlich darauf reagieren, wenn man sie von vornherein mit Du anredet.

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist in der Türkei vertrauter als in Deutschland. Der Arzt erkundigt sich beispielsweise immer nach dem Befinden der Familie. Zum Teil sprechen türkische Patienten den Arzt mit "Bruder" (abi) an, um so ein familiäres Verhältnis herzustellen. Dies beinhaltet zugleich auch die Verpflichtung für den Arzt, sich um den Patienten wie um einen Bruder zu kümmern. Um mit den Patienten vertrauter zu werden, könnten Sie sich beispielsweise ebenfalls nach dem Befinden der Familie erkundigen oder den Patienten auf seine Heimat ansprechen.

Körperliche Gesten vonseiten des Arztes sind in der Türkei häufiger als in Deutschland. Zum Beispiel klopft der Arzt dem Patienten aufmunternd auf die Schulter oder nimmt seine Hand. Dies verringert die soziale Distanz und wird vom Patienten als Teil der traditionellen Arztrolle erlebt. Die eher nüchtern sachliche Beziehung zwischen Arzt und Patient, wie sie hierzulande üblich ist, wird von türkischen Patienten häufig als unzureichend empfunden. Viele Muslime sind auf der Gefühlsebene leichter zu erreichen als auf der deutschen sachlichen Ebene.

Hintergrundinfo: Wer ist der Ansprechpartner?
Wenn eine muslimische Patientin mit ihrem Ehemann in die Arztpraxis kommt, ist in der Regel der Mann der Ansprechpartner für die Praxismitarbeiter. Probleme, die die Patientin hat, werden zunächst einmal indirekt verhandelt. Es kann zu Konflikten kommen, wenn Sie Dinge ansprechen wollen, die gegen den Mann gerichtet sind. Sie müssten dazu die Frau alleine sprechen, da es undenkbar ist, dass sie sich im Beisein ihres Mannes negativ über diesen äußert.

Manche muslimische Patienten erwarten, dass der Arzt schnell diagnostiziert und heilen kann. Die Diagnose sollte recht einfach erläutert werden. Leider sieht der muslimische Patient eine Behandlung nur dann als Erfolg versprechend an, wenn er eine Medikation verschrieben bekommt. Schließlich hat er ja eine "ernste" Erkrankung und nur ein Medikament wird schließlich zur schnellen Heilung verhelfen. Und ohne Medikament ist man auch nicht krank. Muslimische Patienten können u. U. verwundert reagieren, wenn sie vom Arzt gefragt werden, was ihnen denn fehle, schließlich müsste das doch der Arzt wissen.

So vermeiden Sie Konflikte und Missverständnisse

Wenn Sie ausländische Patienten auf Deutsch ansprechen, sprechen Sie in normaler Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke. Verwenden Sie kurze Sätze, wie z. B.: "Ich bringe die Infusion."

Vor allem müssen die Sätze sprachlich korrekt und vollständig sein. Wörter wegzulassen oder die Verben nur im Infinitiv zu verwenden ist nicht angebracht. Je nach Sprachverständnis kann es jedoch hilfreich sein, schon bei einem einfachen Thema Bilder, anatomische Schautafeln und Modelle zur Illustration zu benutzen.

Formulieren Sie offene Fragen. Im Gespräch mit Ihren Patienten sollten Sie die geschlossenen Fragen, auf die nur mit Ja oder Nein geantwortet wird, vermeiden. Türkische Patienten werden Ihnen hier häufig einfach mit Ja antworten, da sie eine Verneinung als unhöflich gegenüber der fragenden Person empfinden.

Intensiver Blickkontakt zwischen Mann und Frau ist im islamischen Kulturkreis tabu, da dies als eindeutiges Zeichen der Annäherung verstanden wird. Eine muslimische Patientin wird daher vermutlich einem männlichen Praxismitarbeiter nicht längere Zeit in die Augen schauen. Dasselbe gilt für einen muslimischen Mann im Gespräch mit einer Frau.

Türkische Patienten drücken Schmerzen häufig intensiver, lauter und deutlicher aus als deutsche Patienten, auch was Mimik und Gestik angeht. Die Patienten versuchen dadurch, ihren Schmerz erlebbar und nachvollziehbar zu machen.

Zusätzlich wird der Schmerzausdruck in der Arztpraxis verstärkt:
  • durch Angst und Hilflosigkeit in der technischen und anonymen Arztpraxisumwelt.
  • durch die Angst des Patienten, die Praxismitarbeiter könnten ihm bei der Untersuchung oder Behandlung noch weitere Schmerzen zufügen.
  • wenn der Patient das Gefühl hat, dass er vom deutschen Arzt mit seinen Beschwerden nicht ernst genommen wird.
  • wenn der türkische Patient die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht, um seine Beschwerden adäquat darzustellen.

Es gibt allerdings auch muslimische Patienten, die ihren Schmerz nicht äußern:
  • Strenggläubige Muslime tendieren eher dazu, ihre Schmerzen zu verbergen. "Islam" bedeutet "Ergebung in den Willen Gottes", und so werden auch schmerzhafte Erkrankungen als gottgewollt hingenommen.
  • Es gibt außerdem Patienten, die ihren Schmerz nicht äußern, um im Praxisalltag nicht zu stören und aufzufallen.



Autorin:

Sibylle May

Beraterin, Trainerin, Systemischer Coach, Mediatorin
40489 Düsseldorf



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (5) Seite 61-63