Die Fazialisparese ist die häufigste Hirnnervenneuropathie. Sie wird üblicherweise als idiopathische Fazialisparese bezeichnet, wobei dieser Begriff eine Ausschlussdiagnose ist. Dem gegenüber stehen akute Paresen mit spezifischer Ursache. Bei Patienten mit Fazialisparese tritt eine partielle oder komplette Schwäche der Fazialis-innervierten mimischen Muskulatur auf, üblicherweise innerhalb eines Tages. Prädilektion und Risikofaktoren sind unspezifische Virusinfekte und auch ein anatomisch enger Fazialiskanal.

Die Inzidenz der Fazialisparese beträgt 20 bis 30 auf 100.000 Personen, Risikofaktoren sind Schwangerschaft, Diabetes mellitus, Bluthochdruck. Beide Seiten sind gleich häufig betroffen, wie auch Frauen und Männer. Üblicherweise handelt es sich um eine selbstlimitierende benigne und auch spontan remittierende Erkrankung mit einer kompletten Erholung in bis zu 80 %. Rezidive sind selten, zum Teil auf derselben oder auf der kontralateralen Seite. Ungünstige Prognosefaktoren sind höheres Alter, Diabetes mellitus, Schwangerschaft und verminderte Speichelflussrate. Eine Verbesserung kann auch nach bis zu einem Jahr auftreten.

Symptome und Befund

Im neurologischen Untersuchungsbefund besteht eine mimische Schwäche der Gesichtshälfte einschließlich des Platysmas. Bei Augenschluss dreht sich der Bulbus nach oben und innen, das sogenannte Bellsche Phänomen. Bei der peripheren Fazialisparese ist im Gegensatz zur zentralen Parese der motorische Stirnast mitbeteiligt. Fakultativ kommt es zur Verminderung der Tränensekretion auf der betroffenen Seite, einer Hypakusis und einer verminderten Speichelsekretion mit Geschmacksstörungen in den vorderen zwei Dritteln der Zunge. Ein Vertäubungsgefühl oder Schmerzen im Ohrbereich werden häufig subjektiv geschildert, obwohl kein echter sensibler Ausfall besteht.

Zusatzdiagnostik

Im Bereich der klinischen Untersuchung ist die wichtigste Zusatzdiagnostik die Otoskopie zum Ausschluss eines Zoster oticus. Eine HNO-ärztliche Mituntersuchung wird empfohlen.

Elektrophysiologisch können die Fazialisneurographie und die Myographie durchgeführt werden. Wenn bei der Fazialisneurographie im Laufe von zehn Tagen die Amplitude weniger als 10 % abgesunken ist, ist die Prognose eher schlecht. In der Regel zeigt sich aber eine zufriedenstellende Erholung des Nerven. Die Elektromyographie zeigt die Denervierung und Reinnervierung und ist auch zur Prognoseabschätzung geeignet. Die Blinkreflexuntersuchung und auch die Magnetstimulation sind für Verlaufsuntersuchungen nicht geeignet.

Die Kernspintomographie ist routinemäßig bei idiopathischer Fazialisparese nicht immer notwendig, sie kann eine Gadolinium-Anreicherung des Nervs zeigen. Die Indikation zur Lumbalpunktion sollte großzügig gestellt werden, da hier spezifische virologische Befunde erhoben werden können.

Pathophysiologie

Die Erkrankung ist wahrscheinlich eine Mononeuritis cranialis viraler oder parainfektiöser Genese. Eine Reaktivierung von Herpes-simplex-Virus Typ 1 ist wahrscheinlich. Durch eine Reaktivierung im sensorischen Ganglion kommt es zu einer Virusreproduktion und anterograden Wanderung des Virus entlang der Axone. Histologisch zeigen Nervenpräparate Ödeme, Lymphozyteninfiltrate und Endmarkung. Das Ödem des Nervus facialis im Fazialiskanal trägt zur sekundären Druckschädigung der Nervenfasern bei.

Therapie

Gemäß mehrerer plazebokontrollierter Studien und Metaanalysen wird eine orale Steroidtherapie über zehn Tage empfohlen. Alternativ können zweimal täglich 25 mg/Tag oder einmal täglich 1 mg pro kg Körpergewicht verabreicht werden. Therapiebeginn sollte innerhalb von 24 Stunden sein.

Virustatische Therapie

Eine Monotherapie mit Aciclovir führt nicht zu einer Prognoseverbesserung. Eine kombinierte Therapie zeigt geringe, aber nicht signifikante Vorteile der Kombinationsbehandlung, so kann bei schwerer Parese im Individualfall und bei negativen prognostischen Faktoren eine kombinierte Therapie (Aciclovir 800 mg fünfmal täglich) erfolgen. Möglich sind auch Valaciclovir oder Famciclovir. Besonders immunsupprimierte Patienten sollten eine zusätzliche virustatische Therapie erhalten. Bei Borrelien-assoziierter Fazialisparese erfolgt eine Behandlung mit Steroiden in Kombination mit Ceftriaxon 2 g am Tag.

Begleittherapie

Relevant ist der Schutz der Cornea, um zu verhindern, dass das Auge austrocknet. Künstliche Tränen, Augensalbe und Uhrglasverband sollten verwendet werden. Bei lagophthalmischer Hornhautschädigung kann in fortgeschrittenen Fällen ein Lidschluss vorübergehend mit Botulinumtoxin erfolgen oder später im Verlauf eine Beschwerung der Lider mit Goldgewichten ophthalmochirurgisch.

Bei Synkinesien kann Botulinumtoxin hilfreich sein.

Physikalische Therapie

Wirkungsvoll sind mehrfach tägliche mimische Bewegungsübungen vor dem Spiegel. Elektrotherapie hat sich nicht als wirksam erwiesen. Auch Reizstromtherapie führt zu keinem verbesserten Verlauf.

Operation

Die Dekompression des Nervus facialis im Fazialiskanal wurde aufgrund insuffizienter Datenlage verlassen.


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Autor:

PD Dr. med. Oliver Kastrup

Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie
Katholisches Klinikum Essen – Philippusstift
45355 Essen

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (19) Seite 48-50