Sibzg Jaar seind üns vergunnt auf dyr Erdn; guet, sollnd s achtzge sein, dös ist schoon vil", sagt eine bayerische Fassung des Psalm 90. Doch diese biblische Weisheit hat sich in den letzten Jahrzehnten erkennbar verändert.

Ich stand kurz vor dem Abitur, als meine Urgroßmutter im ansehnlichen Alter von 89 Jahren verstarb. Drei Jahre später, als Famulus einer städtischen Hausarztpraxis, fragte mich der Praxisinhaber mit listig blitzenden Augen, wie alt ich wohl einen sehr rüstigen und geistig vollkommen klaren, älteren Herrn schätzen würde, den er betreute. Souverän taxierte ich den mindestens zehn Jahre jünger aussehenden Senior auf 90 Jahre und "mein Doktor" war enttäuscht. Was er nicht wusste: Ich kannte den ob seiner Vitalität stadtbekannten Patienten, weil er der Großvater eines Schulfreundes war.

Mit solchen Fangfragen kann man einen Medizinstudenten der jetzigen Generation nicht mehr in Verlegenheit bringen. Mit der wachsenden Zahl von Methusalems ist die Geriatrie aufgeblüht und zu einer wichtigen eigenständigen Disziplin geworden. Das biblische Sterbealter von achtzig Jahren ist dabei noch lange keine Grenze, allenfalls ein Anfang. Allein in unserer Praxis liegt die Zahl älterer Menschen zwischen 8 und 10 Dezennien nur wenig unter der Gruppengröße der von uns betreuten Teenager und Twens. Zwei der von uns betreuten Senioren sind deutlich über 100 Jahre alt. Der Mikrokosmos unserer Praxis bildet faktisch die weltweite Bevölkerungsentwicklung ab, für die bis 2050 mehr als doppelt so viele 60-Jährige wie unter 20-Jährige vorhergesagt werden.

Gerade mit den höchstbetagten Senioren habe ich oft die amüsantesten, aber auch bedenkenswertesten Momente. So hatte ich es kürzlich mit einem Endneunziger zu tun, der flankiert von seiner Tochter wegen der Hörgeräte zu mir kam. Schließlich wollte er noch wissen, ob man bei ihm auch eine Krebsvorsorgeuntersuchung machen könne. Die Tochter verdrehte die Augen und äußerte mit spitzem Unterton, ob sich das bei ihm denn überhaupt noch lohne. Das hätte sie besser bleiben lassen, denn diese Mindertaxierung hat den älteren Herrn nachvollziehbar ziemlich verstimmt. Das sei selten bei ihrem Vater, erzählte mir die Tochter später. Er sei immer zufrieden, interessiert und vor allem mit einer stoischen Gelassenheit gesegnet, vielleicht ein Rezept seines hohen Alters.

Denkbar ist aber auch noch eine weitere Komponente, um diesen Altersgipfel zu erklimmen. Bei einer Visite im Altenheim kam mir unsere 104-jährige "Alterspräsidentin" mit dem Rollator entgegen. Tage zuvor konnte sie wegen einer Gastroenteritis ihr Bett nicht mehr verlassen, das nahende Ende deutete sich an. Als sie mein erstauntes Gesicht sah, war ihr Kommentar eindeutig: "Ja Herr Doktor, man darf sich nicht gehen lassen." Diese Botschaft gab mir zu denken. So können wir Jüngeren notwendigerweise viel von unseren Methusalems lernen, denn "wir befinden uns mitten in einer stillen Revolution, die … weitreichende ökonomische, soziale, kulturelle, psychologische und geistige Auswirkungen mit sich bringt (K. A. Annan)."


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (11) Seite 107