Jeder von uns kennt sie. Die Rede ist von den mehr oder weniger bedeutsamen Zeitgenossen der Subkategorien "furchtbar wichtig‚ überall dabei und immer unter Dampf". Gelegentlich schlagen solche Persönlichkeiten auch in einer Hausarztpraxis auf.

Sehr gut kann ich mich noch an ein Ereignis meiner ersten Praxisjahre erinnern. Es war der letzte Patient einer langen, in den Abend reichenden Nachmittagssprechstunde: Ein eloquenter, dynamisch wirkender Herr um die fünfzig gab meiner Wenigkeit die Ehre, begleitet von seiner distinguierten Gemahlin.

Noch ehe wir über Gesundheitliches sprechen konnten, überreichte er mir mit Grandezza seine Visitenkarte. Diese wies ihn als einen Akademiker mit Diplomabschluss und in leitender Position aus. Allerdings mit bürgerlichem Familiennamen, wie mir seine bessere Hälfte dann erläuterte, sie selbst sei eine "von", mithin durch Geburt geadelt. Sie sei auch die Triebfeder des Arztbesuchs, denn ihr Mann habe jetzt doch ein "kritisches Alter" erreicht.

Er selbst fühle sich in seiner wichtigen und repräsentativen Funktion maximal leistungsfähig. Ein exorbitant hoher Blutdruck, ständige Rastlosigkeit in einem "eng getakteten" Berufsalltag, Bewegungsmangel, ein selbst eingestandener Hang zu alkoholischen Getränken und eine nikotingeschwängerte Körperausdünstung deuteten schon die Risikofaktoren an, die es zu bearbeiten galt.

Trotz eindringlicher Gespräche wurde eine kardiologische Abklärung wieder und wieder verschoben, wahrscheinlich auch für überflüssig erachtet. Monate später kam das jähe Ende. An einem drückend warmen Junitag wurde ich als Notarzt zu einer Laienreanimation gerufen, bei eben jenem Patienten, der nach einem nächtlichen Alkoholexzess plötzlich leblos zusammengesackt war. Bei meinem Eintreffen war er schon tot, wahrscheinlich Folge eines akuten Herzversagens.

Wenige Jahre später erlebte ich eine ähnlich dramatische Entwicklung. Der noch nicht einmal 60-jährige Mann war eine weithin bekannte Betriebsnudel: Gewerkschafter, Lokalpolitiker, Parteimitglied, Betriebs- und Gemeinderat, dazu Führungspositionen in etwa 20 Vereinen. "Ja, Herr Doktor, was glauben Sie denn, wie viel Termine ich habe, jeden Abend Sitzungen." Für seinen Hochdruck, Diabetes & Co blieb da keine Zeit mehr, Nikotin und Alkohol taten das ihre. In rasantem Tempo entwickelte sich ein diabetisches Nierenversagen, eine Amputation beider Beine und mehrerer Finger folgte. Sein letztes Lebensjahr verbrachte er nur noch im Bett.

Recht drastisch reimte Eugen Roth in diesem Zusammenhang: "Was grad so wichtig noch erschienen, fällt hin: Was bleibt von den Terminen? Nur dieser einzige zuletzt: Am Mittwoch wird er beigesetzt – und schau, den hält er pünktlich ein, denn er hat Zeit jetzt, es zu sein."


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (20) Seite 85