Im Ranking junger "Digital Natives" landet hausärztliche Arbeit eher in der Kategorie Old-school-medicine: uncool und provinziell, mit dem Charme einer Seniorenresidenz. Das Arztleben in der Klinik hat da mehr Glamour: im Emergency Room jagt ein lebensbedrohlicher Notfall den anderen und medizinische Highlights geben sich die Klinke in die Hand. Immer lächelnde und gestylte StationspflegerInnen umschwärmen sie, die omnipotenten Weißkittelträger beiderlei Geschlechts.

Gemwessen an dieser vermeintlichen Realität ist das Hausarzt-Sein deutlich weniger aufsehenerregend: eine endlose Kette hustender und schnupfender Menschen, zwischendurch mal Bauch-, Herz-, Rückenschmerzen, ein Ausschlag mit und ohne Fieber, permanenter Papierkrieg, Auseinandersetzungen mit vielerlei Behörden und internetschlauen, auf Konfrontation gebürsteten Zeitgenossen.

Als hausärztliches Fossil mit bald vier Jahrzehnten Joberfahrung kenne ich beide Welten: den Broterwerb in Krankenhäusern jeder Versorgungsstufe und in meiner Retropraxis. Und ich behaupte: Die krankheitsgeplagte Menschheit sieht man in ihrer Variabilität am besten durch das hausärztliche Kaleidoskop. Das beginnt schon mit der Altersspanne meiner "Kundschaft": Vom Säugling bis hoch hinauf zum Über-Hundertjährigen muss ich mich fast täglich mit allen Jahrgängen und ihren spezifischen Geschichten auseinandersetzen. Dazu gehören der plötzliche Kindstod ebenso wie das Schreibaby mit seinen Nabelkoliken, der drogenpsychotische, suizidale Jugendliche genauso wie der Greis mit einer fast schmerzlosen, dennoch lebensbedrohlichen Gallenblasenruptur und seine demente Ehefrau mit einem Dutzend Diagnosen und zwei Dutzend Medikamenten.

Oder jene immer wieder durch Eiweißmangelödeme bedrohte Dame im Rentenalter, die durch eine jahrzehntelange Anorexia nervosa ein aktuelles Leichtgewicht von 19 kg und dadurch einen rekordverdächtigen BMI von knapp 10 erreicht hat. Sie ist der Gegenentwurf zu jenem jetzt herzinsuffizienten und diabetischen Patienten, den ich noch als normalgewichtigen Jugendlichen kennengelernt habe und der sich dank zuckerhaltiger Aufputschgetränke und einer überkalorischen Nuss-Nougat-Creme zu einem gehunfähigen Koloss mit 220 kg Kampfgewicht und einem Body-Mass-Index von 73 herausgefressen hat.

Trotz aller Routine gibt es keinen Tag, an dem man nicht hellwach sein muss. Hinterlistigerweise mischt sich nämlich unter die regelmäßig häufigen Beratungsergebnisse noch der Exot, als Spatz verkleidet. Ich denke da an das lymphoepitheliale Mandelkarzinom einer Patientin mit nur leichtem Halskratzen, den Vorhoftumor einer kreislauflabilen, anämischen 19-Jährigen oder die plötzlich notwendig werdende Reanimation einer stark unterkühlten Frau, die es mit 32 Grad Körpertemperatur gerade noch in die Praxis geschafft hatte, ehe sie einen Atemstillstand direkt vor meinen Augen erlitt.

Wachsam und "cool" bleiben, das wird vom Hausarzt verlangt, dem Facility Manager im großen Menschheitszoo. Und das ist keine "Old-school-, sondern unspektakuläre, aber anstrengende und fordernde General Medicine im schönsten Sinn.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (13) Seite 80