Dr. Jennifer Demmerle ist Hausärztin im rheinland-pfälzischen Winnweiler, einer knapp 5.000 Einwohner starken Ortsgemeinde. Getreu unserem Serien-Motto "Hausärzt:in hautnah" beschreibt sie ganz persönlich, warum sie ihr Leben als Landärztin liebt – und welche Herausforderungen und Vorurteile es mit sich bringt.

Landarztmangel. Diesen Begriff kennen wir mittlerweile alle, spätestens nach Einführung der sogenannten Landarztquote. Wenn die Bevölkerung an den "Bergdoktor" denkt, sieht sie den Arzt, der, wenn’s darauf ankommt, auch ein Kalb zur Welt bringt und sich tagelang um die Rundumbetreuung einer einzigen Patient:in kümmert. Doch neulich habe ich von einer angehenden Kollegin gehört, wir würden "nur den Bauern die Pickel ausdrücken". Auch in den allermeisten Klinikentlassungsbriefen wird wegen einer Wundkontrolle eine fachärztlich-chirurgische Vorstellung empfohlen oder zur Abklärung einer Hypothyreose eine Überweisung in die Nuklearmedizin.

Alleskönner oder Spezialisten?

Aber was entspricht denn jetzt den Tatsachen? Können wir alles? Oder können wir nur den Schnupfen behandeln?

Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Auch wir Landärzt:innen können nicht einfach so nebenbei ein Kalb entbinden, aber es gibt eine Rundumbetreuung. Wie alle Allgemeinmediziner:innen sind wir eher die "Allrounder" als die Spezialist:innen. Unser Gesichtsfeld erstreckt sich über 360°, denn wir nehmen die ganze Patient:in wahr. Wir kümmern uns nicht nur um die Cholesterinerhöhung, sondern auch um die Versorgung zu Hause, wenn eine Kanufahrt zweimal die Woche (wie im Entlassungsbrief der Neurologie empfohlen) durch die Hemiparese nach Apoplex nicht mehr durchführbar ist.

Dann werden die Patient:innen sogar von uns zu Hause besucht. Auf dem Land gibt es ein MEHR an Hausbesuchen. Ein Mehr bzgl. der Anzahl und ein Mehr bzgl. der gefahrenen Kilometer. Wir fahren nicht nur in die nächste Straße, sondern auch in die vielen kleinen umliegenden Dörfer. Das kostet nicht nur viel Zeit, sondern auch Nerven und Sprit.

Aber nicht nur wir fahren zu Hausbesuchen, sondern auch die Patient:innen müssen fahren, nämlich dann, wenn ein Besuch bei der Fachärzt:in nötig wird. Diese gibt es selten vor Ort, sodass es vielen älteren Patient:innen kaum möglich ist, dorthin zu gelangen. "Ich fahre höchstens noch zur nächsten Ortschaft." Bus- und Bahnverbindungen sind leider zu vernachlässigen, da kaum vorhanden. Dies führt dazu, dass wir Hausärzt:innen ranmüssen. Nicht nur bei der Hypothyreose, sondern auch beim Herzinfarkt, bei großen und kleinen Wunden nach großen und kleinen Unfällen mit Fahrrad, Motorsäge oder nach den heimlichen Fahrversuchen mit dem Motorrad auf dem Feldweg. Auch gastrointestinale Blutungen jeder Schwere (es reicht ja, wenn die Hausärzt:in mal nach dem Golfen nach der mittlerweile kreislaufrelevanten unteren GI-Blutung sieht) werden uns vorgestellt.

Für die bereits erwähnten Pickel ist im Übrigen (ganz ohne GKV-Karte) die Kosmetikerin vor Ort zuständig. Allerdings brauchen wir zum Nähen einer Wunde oder zur Eröffnung eines Abszesses in aller Regel auch keine Chirurg:in.

Manchmal wünscht man sich Mitstreiter

Nehmen wir die Zahlen der KBV – 2019 waren es in der Westpfalz (Donnersbergkreis) 56 Hausärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen. Nimmt man dagegen Ludwigshafen, Kaiserslautern oder München, kamen 2019 rund 75 Hausärzt:innen auf 100.000 Einwohner:innen, in Garmisch sogar 96. Gestern hatte ich rund 75 Patient:innen und ich weiß, dass einige Kolleg:innen schon mehr an einem Tag versorgt haben. Das lässt sich dann nicht mehr ganz mit dem zeitlichen Bild des "Bergdoktors" vereinen.

Aber auch eine gute Seite hat das hohe Patientenaufkommen – eine Hausärzt:in im ländlichen Gebiet muss eigentlich keine finanziellen Sorgen haben. In der Regel fürchtet man keine "Konkurrenz", sondern wünscht sich welche (Mitstreiter:innen).

Ruhe und Beständigkeit – aber niemals anonym

Die Ruhe, die das Landleben so mit sich bringt, ist definitiv erholsam. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass nicht mal eben am Feierabend noch Kino, Bar oder Theater in Fußnähe zu finden sind. Dafür ist das Bauland erschwinglich und bei uns auf dem Dorf können die Kinder noch im großzügigen eigenen Garten spielen, mit dem Fahrrad alleine durch die Straßen ziehen und Baumhäuser bauen. Für die Familienplanung gibt es ausreichend Kindergartenplätze.

Es gibt Beständigkeit – nicht nur in der Nachbarschaft und im Freundeskreis, sondern auch im Patientenstamm. Die Patient:innen sind ihrer Hausärzt:in in aller Regel sehr treu. Ein Wechsel kommt nur bei wirklichen Zerwürfnissen infrage. Dies ist nicht zuletzt der Ortsgemeinschaft zu verdanken. Die Menschen kennen sich untereinander. Auch die Ärzt:in ist integriert und oft nicht nur berufliche Vertrauensperson. Das führt für die Hausärzt:in zu einer oft hautnah miterlebten Anamnese und für die Patient:innen zu einem vertrauensvollen Ansprechen aller Beschwerden. Auch der psychischen. Diese müssen bisweilen allein von uns abgefangen werden, da eine Psychotherapeut:in entweder erst in 6 bis 12 Monaten verfügbar ist, oder die Patient:in leider immer noch aus Scham eine neutrale Anlaufstelle bevorzugt.

Es kann auch mal vorkommen, dass ich beim Einkaufen oder im Schwimmbad doch nochmal hier und da etwas betrachten soll oder eine Beratung über medizinische Belange führen muss. Aber darüber ist leicht hinwegzusehen, wenn man von seinen Patient:innen aus Dankbarkeit wieder mit selbstgebackenen Plätzchen, selbstgemachter Marmelade oder Tomaten aus dem Garten verwöhnt wird.

Alles in allem kann ich mir keinen abwechslungsreicheren und persönlicheren Bereich der Medizin vorstellen. Für mich war es, bei allen Unwägbarkeiten, die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.



Autorin
Dr. Jennifer Demmerle

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (1) Seite 56-57