Immer wieder hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, kurz SVR, darauf hingewiesen, dass das deutsche Gesundheitssystem trotz etlicher Reformen immer noch unter Über-, Unter- und Fehlversorgung leide. Mit Spannung war deshalb erwartet worden, welche Empfehlungen die Gesundheitsweisen in ihrem Gutachten zur "Bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung" abgeben würden, um diese Fehlsteuerung zu bekämpfen. Deutlich wird nun: Die Hausärzte sollen dabei eine zentrale Rolle spielen.

Mehr als 700 Seiten umfasst das SVR-Gutachten, und darin enthalten sind insgesamt 70 Empfehlungen, wie die medizinische Versorgung hierzulande verbessert werden könnte. Einige dieser Empfehlungen betreffen explizit die Allgemeinärzte, denn sie sollen primär die Funktion des Lotsen übernehmen, der die Patienten durch das komplexe Gesundheitssystem leitet.

Der Weg führt in ein Primärarztsystem

Wie wollen die Gesundheitsweisen unter dem Vorsitz des Allgemeinarztes Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach das erreichen? Kurz zusammengefasst läuft es darauf hinaus, dass die Hausärzte die Patientenwege besser koordinieren sollen, als dies bisher geschieht. Dazu schlägt der SVR vor, die Modelle zur Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) auszuweiten, die vorsehen, dass immer zuerst der Hausarzt aufgesucht wird, der dann wenn nötig die Patienten gezielt weiterüberweist. Unterstützt werden könnte diese Lotsenfunktion noch dadurch, dass alle Krankenkassen dazu verpflichtet werden, einen vergünstigten Wahltarif für die Teilnahme an der HzV anzubieten, so der Sachverständigenrat.

Sollte dieser finanzielle Anreiz noch nicht ausreichen, um die Patienten in die gewünschte Richtung zu lenken, will der SVR noch einen Schritt weitergehen. So könnte über eine sogenannte Kontaktgebühr nachgedacht werden, die der Patient bei jedem Besuch eines Facharztes oder in der Notfallambulanz ohne Überweisung berappen müsste. Wie hoch diese ausfallen würde, müsse die Politik entscheiden. Vor der Einführung einer solchen Selbstbeteiligung sollte allerdings geprüft werden, ob der dafür notwendige administrative Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu der zu erwartenden Kostenersparnis und der Steuerungswirkung steht.

Auch wenn der Begriff im SVR-Gutachten wohl aus politischen Gründen nicht explizit genannt wird, so klingt dies doch ganz danach, dass in Deutschland ein Primärarztsystem eingeführt werden solle. Unterstützung erhält der SVR dabei sowohl vom Deutschen Hausärzteverband (DHÄV), der sich in seiner HzV-Strategie bestätigt sieht, als auch von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), die sich erst kürzlich selbst für ein Primärarztsystem ausgesprochen hatte.

Als einen weiteren Punkt, der für die Patientensteuerung wichtig sei, spricht sich der SVR dafür aus, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken. Idealerweise sollte bereits in der Schule damit begonnen werden, das Verständnis für evidenzbasierte Medizin aufzubauen und den Umgang mit Gesundheitsinformationen zu erlernen. Dazu beitragen könne zudem ein nationales Gesundheitsportal als zentrale Anlaufstelle für die Bürger, über das sie auch einen verbesserten Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen erhalten können. Darüber hinaus sollen Modelle zur partizipativen Entscheidungsfindung gefördert werden. Die Patienten sollen also mehr mitreden und mitentscheiden können.

Notfallversorgung "aus einer Hand"

Eine weitere Baustelle, der sich der SVR in seinem Gutachten ausführlich zuwendet, ist die zukünftige Ausgestaltung der Notfallversorgung. Derzeit stehe das bisherige System kurz vor dem Kollaps, weil immer öfter ambulant gut behandelbare Patienten direkt den Rettungsdienst und die Kliniken in Anspruch nehmen und so mit vergleichsweise harmlosen Beschwerden die Behandlungskapazitäten blockieren. Hier fehle es klar an einer sinnvollen Steuerung, konstatiert der SVR und empfiehlt Maßnahmen für eine koordinierte Notfallversorgung "aus einer Hand". Auch hier werde es ohne eine intensive Beteiligung der Allgemeinärzte nicht funktionieren.

Ambulante Bedarfsplanung, Nachbesetzungen von Arztsitzen und Landarztförderung
Vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl von Ärzten, die bald die Altersgrenze erreichen werden, und der Zunahme von angestellten Ärzten schlagen die Gesundheitsweisen vor, die zukünftige Bedarfsplanung weniger an der Anzahl der Ärzte bzw. deren Kopfzahl auszurichten, sondern vielmehr an deren tatsächlichem Angebot bzw. deren Arbeitsstunden.

Kritik übt der SVR auch an der Entwicklung, dass Vertragsarztsitze in Ballungszentren deutlich an Wert gewonnen haben, während sich frei werdende Arztsitze in strukturschwachen Gebieten oft kaum noch nachbesetzen ließen. Die Knappheit von Arztsitzen in begehrten Gebieten führe dazu, dass bei Nachbesetzungsverfahren die jeweiligen Besitzer ihre Praxis zu überzogenen Preisen veräußern würden, als ob es sich bei dem Vertragsarztsitz um ein "eigentumähnliches" Gut handele. Dem will der SVR einen Riegel vorschieben und empfiehlt:

  • Übergangsweise die Übernahmepreise öffentlich und regional auszuwerten, um hier mehr Transparenz zu schaffen.
  • Die kassenärztliche Zulassung zeitlich zu limitieren. Bei MVZ und BAG könnten dies 30 Jahre sein, bei einzelnen Vertragsärzten bis zur Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit. Das würde bedeuten, dass die Arztpraxis dann nur noch so viel wert ist, wie die Immobilie als solche.
  • Erleichtert werden soll die Niederlassung von Vertragsärzten in Gebieten, die durch das baldige Ausscheiden mehrerer Vertragsärzte absehbar unterversorgt sein werden. Hier sollen Nachbesetzungen bereits 5 Jahre vor der voraussichtlichen Aufgabe eines Vertragsarztsitzes ermöglicht werden.
  • Um die Versorgung in strukturschwachen Gebieten aufrechtzuerhalten bzw. zu verbessern, sollen Landärzte bis zu 50 % Honorarzuschlag auf Grundleistungen erhalten.
  • Eine morbiditätsorientierte Pauschalvergütung pro Patient soll in der hausärztlichen Versorgung einen Anreiz für eine hohe Behandlungsqualität setzen. Dabei könne für spezifische Leistungen weiterhin die Einzelleistungsvergütung gelten. In einem solchen Vergütungssystem bedürfe es allerdings der genauen Zuordnung eines Patienten zu einem bestimmten Arzt, für den der Patient sich – wie in der HzV – frei entscheiden kann.

Nach den Plänen des SVR sollen zukünftig alle Bürger rund um die Uhr – möglichst über eine bundesweit einheitliche Rufnummer – schnell kompetente Ansprechpartner in Integrierten Leitstellen (ILS) erreichen. Dort sollen sowohl alle akuten Notrufe als auch alle Anrufe für den Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte zusammenlaufen. In den ILS sollen erfahrene Fachkräfte, unterstützt durch breit weitergebildete (Allgemein)Ärzte, eine qualifizierte Ersteinschätzung vornehmen und der Patient, noch bevor er sein Haus verlässt, auf den jeweils besten Versorgungspfad gelenkt werden. Viele der Patientenfragen sollten so aber schon durch die telefonische Beratung geklärt werden können, hofft der SVR.

Im Zuge der Neustrukturierung sollen die Praxen des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes nach und nach vollständig in interdisziplinäre und sektorenübergreifende Integrierte Notfallzentren (INZ) umgewandelt werden. Diese sollen an qualitativ besonders geeigneten nahe gelegenen Kliniken angesiedelt werden und ebenfalls rund um die Uhr erreichbar sein. In den INZ sollen niedergelassene Ärzte (idealerweise auch hier wieder Allgemeinärzte) und Klinikärzte – unter Leitung der KV, aber unter dem Dach der Klinik – Hand in Hand im Rahmen einer gemeinsamen Vergütung arbeiten und eine erneute Ersteinschätzung nach Schweregrad und Dringlichkeit vornehmen. Die Patienten sollen dann entweder ambulant von niedergelassenen Ärzten oder stationär von Klinikärzten weiterbehandelt werden.

Der SVR-Vorsitzende Gerlach sieht gerade in dieser Reform der Notfallversorgung ein "Pilot- und Eisbrecherprojekt" für die sektorenübergreifende Versorgung. Zumal das Bundesgesundheitsministerium bereits seine Zustimmung signalisiert habe, diese Reform noch in der laufenden Legislaturperiode umzusetzen.



Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (13) Seite 28-31