Manchmal wache ich in der Nacht verstört auf. Drohende Betriebsprüfung? Regressalarm? Mitnichten! Wieder einmal hat der Albtraum einer vermeintlich anstehenden Prüfung zugeschlagen, meist im Fach Altgriechisch, das einem Damoklesschwert gleich über meiner Reifeprüfung schwebte.

Sprachlich ist mir vom homerischen Griechisch wenig geblieben, aber die sokratische Erkenntnis "Ich weiß, dass ich nichts weiß" hat mich zu lebenslänglicher Skepsis bei scheinbar klaren Tatsachen gemahnt. Mit Ausnahme dieser aufschreckenden altphilologischen Rückblenden hat die Schulzeit bei mir im Unterschied zu vielen meiner heutigen Schülerpatient:innen keine merklichen Traumata hinterlassen. Bis zur gymnasialen Mittelstufe bekam ich mit dem meist grottenschlechten Jahreszeugnis fast regelmäßig die gelbe Karte, konnte aber eine zusätzliche Trainingsrunde immer vermeiden. In den letzten Klassen mutierte ich zum Streber, beschleunigte rechtzeitig vor dem Ziel und absolvierte mit dieser bewährten Strategie dann auch das Medizinstudium.

Dennoch hatte ich kürzlich wieder ein Flashback-Erlebnis. Meine Nichte machte ihr finales mündliches Medizinerexamen, exakt 42 Jahre später als ich. Da stand mir meine eigene letzte Zitterpartie wieder vor Augen. Und ja, es war bei ihr kaum anders als bei mir. Das fing schon beim Dresscode an, der vor Jahren selbst im Deutschen Ärzteblatt thematisiert wurde: "Mündliches Examen. Was ziehe ich an?" Der schwarze Anzug war zu meiner Zeit obligat. Ungetragen seit dem Abend des Abiturballs, spannte er aufgrund der prüfungsinduzierten Körperfülle gefährlich, garantierte dafür aber eine kerzengerade, Contenance signalisierende Körperhaltung. Das war auch gut so, weil die Fragen zumindest aus studentischer Perspektive eher abseitig schienen und Cleverness angesagt war. So interpretierte ich trotz relativer Erfahrungslosigkeit die Schüller-Röntgenbilder eines mir zugelosten HNO-Falles perfekt, weil mir mein Examenspatient die entsprechenden Überlegungen aus der letzten Chefvisite haarklein soufflieren konnte.

Exotisch ging es auch bei meiner Nichte zu. Ihr wurde der akute gynäkologische Notfall einer 15-jährigen Jugendlichen unterbreitet, die wegen akuter Unterbauchschmerzen bei Amenorrhoe und Pollakisurie in die klinische Notaufnahme gekommen war. Im hausärztlichen Notdienst hätte ich eine Tubargravidität mit begleitender urologischer Symptomatik erwogen, im Staatsexamen wäre ich damit grandios gescheitert. Die Lösung: Hämatometra und Molimina menstrualia bei Hymenalatresie. Alles klar? In mehr als drei Jahrzehnten erfolgreicher Hausarzttätigkeit habe ich diese gynäkologische Notfallrarität nie zu Gesicht bekommen. Dafür ließen mir gewöhnlichere Probleme graue Haare wachsen: Das wirkliche Hausarztleben stellt eben andere Fragen.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (8) Seite 73