Die COVID-19-Pandemie hat hierzulande und weltweit das bunte Gemenge unserer Spezies aufgewühlt und auch den weniger beliebten Gattungstyp "Vordrängler" nach oben gespült. Dabei blitzen hausärztliche Flashbacks an Zeitgenossen mit besonders spitzen Ellenbogen auf.

Denken wir nur an die Hysterie um den modifizierten "Schweinegrippe"-Influenzaimpfstoff vor etwas mehr als einem Jahrzehnt. Seinerzeit gab es ebenfalls nur wenig Vakzine für einen speziell gefährdeten Personenkreis. Ich kann mich noch gut an besonders "gesundheitsbewusste" Mitbürger:innen erinnern, die mir damals ein extraordinäres Honorar in Aussicht stellten, wenn es mir gelänge, diesen Impfstoff "so hintenherum" für sie und ihre Familie zu besorgen.

Und jetzt war und ist die Lage ähnlich. Als die anfängliche Sorge wegen vermuteter Nebenwirkungen den ersten Impfenthusiasmus vergiftete, war der Andrang bekanntermaßen verhalten. Mit den einsetzenden Impfungen zeichneten sich erste Vorteile für die Impfnovizen ab und schon begann das Gerangel und Geschiebe trotz einer von Experten konzipierten Priorisierungsliste. Ein Blick zurück: Menschen in eine medizinisch begründbare Behandlungsrangfolge zu bringen, ist nicht so selbstverständlich, wie man vielleicht vermuten könnte. Das Prinzip leitet sich aus der Seefahrt ab, denn früher galt bei Schiffsunglücken nur ein Motto: "Rette sich, wer kann!" Doch dann kam es zu einer denkwürdigen Katastrophe. 1852 lief die HMS Birkenhead der Royal Navy auf ein Riff. Sie hätte Soldaten mit ihren Familien nach Südafrika bringen sollen. Entgegen der bis dahin üblichen Marinetradition ließ Kommandeur Alexander Seton die Soldaten auf dem untergehenden Schiff so lange antreten, bis alle Kinder und Frauen in den Rettungsbooten sicher waren. Nahezu alle Männer kamen ums Leben.

Dieser Verhaltenskodex ("Birkenhead Drill") machte Geschichte und begründete den Schutz Schwächerer oder Schutzbedürftiger zu Lasten Stärkerer. Unter dieser Prämisse sollte eine Priorisierung für alle gleichermaßen gelten. Doch der real existierende bundesrepublikanische Alltag hat erneut bewiesen, dass alle gleich, doch manche gleicher sind. Ein gut geschmiertes Räderwerk und ein paar blinde Flecken in der Charakterbildung aller Beteiligten spielen da wohl eine wichtige Rolle. In mehr als der Hälfte der deutschen Bundesländer sollen sich illustre Mitbürger:innen des öffentlichen Lebens als eigennützige Vordrängler entpuppt und auf das Impftempo, pardon die rettende Spritze gedrückt haben. Einmal aufgeflogen, haben sich manche von ihnen sogar als selbstlose Heroen der Impferprobung inszeniert. Aber seien wir ehrlich: Ist das keine Gemeinheit an allen? Nicht umsonst spricht man doch gerade in diesen Kreisen vom Dienst an der (All-)Gemeinheit.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (4) Seite 63