Seit vielen Jahren wird in den USA diskutiert, dass die Menschen dort übertherapiert und über- diagnostiziert werden, vieles doppelt angeordnet wird und die Ressourcen immer knapper werden. Bereits 2002 wurde öffentlich diskutiert, dass bei einigen Menschen übertrieben viel agiert wird, bei anderen fehlt es am Nötigsten. Daraus ist 2012 die Kampagne „Choosing wisely“ entstanden. Die beteiligten medizinischen Fachgesellschaften (mittlerweile fast alle) legen „Top-5“-Listen vor mit Untersuchungen oder Therapien, die nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen durchgeführt werden sollen; hier soll der Arzt zusammen mit dem Patienten weise wählen, was zu tun ist.

Diese Aktion findet weltweit Nachahmer, und so finden sich entsprechende Empfehlungen in Kanada, Australien, Italien und der Schweiz, andere Länder folgen. In Deutschland erregte der DGIM-Kongress im April 2015 großes Aufsehen mit einem zentralen Vortrag zu diesem Thema. Und auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) bereitet gerade eine S3-Leitlinie zum Thema Fehl- und Überversorgung vor, wobei auch die Unterversorgung, partizipative Entscheidungsfindung mit dem Patienten und Implementierung vorhandener Leitlinien in der täglichen Praxis wichtige Themen sind.

Im Folgenden sind ausgewählte Empfehlungen verschiedener internationaler Fachgesellschaften aufgeführt, zum Schluss auch Ideen, wie deutsche Empfehlungen aussehen könnten (nähere Erläuterungen und Literaturbelege zu den entsprechenden Empfehlungen finden sich in den Originalpublikationen).

  • Keine Bildgebung bei Kreuzschmerzen in den ersten 6 Wochen, außer bei Vorliegen von „red flags“ (AAFP, CFPC, SIMG, SGAIM).

Frühere Bildgebung erhöht die Kosten, verbessert aber nicht die Ergebnisse.

  • Keine Antibiotika für milde bis moderate obere Atemwegsinfekte in den ersten 7 Tagen (auch nicht bei Sinusitis), außer bei Verschlechterung nach initialer Verbesserung (AAFP, CFPC, SIMG, SGAIM).

Auch farbiges Sekret ist kein Hinweis auf bakterielle Infektion. Über 80 % der Infektionen sind viral. Gefahr besteht durch Resistenzentwicklung und Nebenwirkungen, z. B. Allergie.

  • Keine Screening-DEXA-Osteodensitometrie bei Frauen unter 65 und Männern unter 70 ohne Risikofaktoren. Screening nicht häufiger als zweijährlich (AAFP, CFPC, AME, ACR).

Häufigere Untersuchungen sind kostenintensiv und ohne medizinischen Nutzen.

  • Kein Screening auf Karotisstenose bei asymptomatischen Erwachsenen (AAFP). Bei einer Prävalenz von 6,9 %, einer Sensitivität von 89 % und Spezifität von 84 % der Sonographie ergeben sich die in Abb. 1 angegebenen Zahlen.

Somit wird die Diagnose bei 209 Patienten gestellt, aber 148 von diesen haben keine Stenose und werden weiter diagnostiziert und evtl. operiert, was mit erhöhter Morbidität und evtl. Mortalität verbunden ist. Der positive prädiktive Wert liegt somit bei 0,29 (29 % der per Sonographie als Karotisstenose diagnostizierten Patienten haben wirklich eine).

  • Kein routinemäßiges Screening auf Prostatakarzinom mit PSA-Test oder rektaler Untersuchung (AAFP, SGAIM, ACPM).

Bis heute ist es nicht möglich, die Patienten mit einem aggressiven Verlauf des Prostatakarzinoms von denen mit einem benignen Verlauf zu unterscheiden. Prostatakrebs wird lediglich früher erkannt, aber die Sterblichkeit ändert sich kaum bis nicht (je nach Studie). In Zahlen ausgedrückt heißt das: von 1 000 Männern, die 10 Jahre lang 1- bis 4-jährig mit PSA gescreent werden, stirbt einer weniger an Prostatakrebs (genaugenommen: 0,7). Auf der anderen Seite werden von diesen 1 000 aufgrund von Behandlung etwa 29 impotent, 18 harninkontinent, 2 erleiden einen Herzinfarkt oder Schlaganfall und 1 eine tiefe Beinvenenthrombose bzw. Lungenembolie. Obwohl die Zahl der Prostatakrebs-Patienten sich durch das flächendeckende Screening deutlich erhöht hat (bis zum 3-Fachen), hat sich die Sterblichkeit an Prostatakrebs nicht geändert, das Screening hat also keinen nachweisbaren Effekt auf die Sterblichkeit der Männer. Prostatakrebs-Screening sollte daher nur dann angeboten werden, wenn der Patient über diese Zahlen informiert ist und dennoch eine entsprechende Untersuchung wünscht.

  • Keine jährlichen Routine-Laborkontrollen, außer wenn das individuelle Risikoprofil dies erfordert (CFPC). Der Erkenntnisgewinn ist gering und falsch-positive Befunde ziehen kostspielige Kontrollen und Folgeuntersuchungen sowie unnötige psychische Belastung der Betroffenen nach sich.
  • Keine routinemäßige Blutzucker-Selbstmessung bei Diabetikern ohne Insulintherapie (CFPC, RACGP).

Die Teststreifen sind sehr teuer und fast nie wird eine Konsequenz aus den Messungen gezogen. Bei Therapieumstellungen oder unklaren Situationen gilt dies nicht.

  • Keine Protonenpumpeninhibitoren (PPI) bei Patienten mit unkompliziertem Verlauf ohne Versuch der Dosisreduktion oder des Absetzens (RACGP, SIMG, SGAIM, AGA, SHM, FADOI).

PPI haben Neben- und Wechselwirkungen und häufig wird z. B. nach stationärem Aufenthalt vergessen, diese abzusetzen. Es muss dabei bedacht werden, dass rasches Absetzen i. S. eines Rebound zu erheblichen Refluxbeschwerden führen kann, daher ist langsame Dosisreduktion erforderlich.

  • Keine Verordnung von NSAR ohne initiale u. wiederkehrende Berücksichtigung der Indikation und dem Risiko für Nebenwirkungen (SIMG).

Die Therapie mit NSAR ist mit potenziell gefährlichen Nebenwirkungen verbunden (Blutungen in Magen oder Darm, Niereninsuffizienz, kardiale ischämische Ereignisse) und eine Dauertherapie ist nur sehr selten notwendig.

  • fT3-Messung ist bei den meisten Schilddrüsenerkrankten nicht notwendig (AME).

Der zusätzliche Erkenntnisgewinn gegenüber der reinen TSH-Messung ist minimal, vor allem auch dann, wenn schon fT4 bestimmt wurde.

  • Keine routinemäßigen Laborbestimmungen (inkl. Gerinnungstests) oder gynäkologische Untersuchungen für die Verschreibung oraler Kontrazeptiva (AAFP, ANDIRA).
  • Keine präoperativen medizinischen Tests vor Augenoperationen, außer wenn es spezielle Indikationen hierfür gibt (AAO).

Augenoperationen sind kurz und bergen keine großen Risiken. Daher werden routinemäßig weder Labortests benötigt noch körperliche Untersuchung, EKG oder Röntgen des Thorax.

  • Kontroll-Koloskopie nach Entfernung von bis zu 2 Polypen (max. 1 cm Größe) ohne hochgradige Dysplasie frühestens nach 5 Jahren (AGA).
  • Keine Tests auf Gerinnungsstörungen bei Patienten, die die erste Episode einer tiefen Beinvenenthrombose aufgrund einer bekannten Ursachen erlitten haben (SVM).

Für Deutschland wurde kritisiert, dass die Unterversorgung nicht ausreichend berücksichtigt wird bei den bisherigen Listen, die Erstellung dieser Listen nicht ausreichend konsentiert ist, die bereits existierenden Leitlinien kaum einfließen und Patienten zu wenig involviert sind. Bewusst wurde daher auch als Slogan "Gemeinsam klug entscheiden" gewählt. Auf dem Berliner Forum der AWMF am 15.10.2015 haben verschiedene Fachgesellschaften ihre Ideen vorgestellt, beispielhaft soll hier aus den Beiträgen von Prof. Scherer (DEGAM) und Prof. Werdan (DGK) zitiert werden:

DEGAM: Am Beispiel der S3-Leitlinie "Müdigkeit" wird aufgezeigt, welche Empfehlung es zur Vermeidung von Überversorgung geben könnte (z. B. keine weiterführende Tumordiagnostik, Gabe von müde machenden Medikamenten, Amalgamsanierung) oder auch gegen Unterversorgung (z. B. Therapie der obstruktiven Schlafapnoe, Basis-Müdigkeitsdiagnostik immer durchführen, auch wenn bestimmte Grunderkrankungen schon bekannt sind, Screening auf Depression, Therapie einer Herzinsuffizienz).

DGK: Es werden am Beispiel der bestehenden kardiologischen Leitlinien und der Abweichungen davon Listen mit "to do" und "not to do" angegeben:

To do

  • Leitliniengerechte Plättchenhemmung nach Herzinfarkt – fehlt bei 20 %.
  • Lipidsenkung in der KHK-Sekundärprävention – fehlt bei 40 %.
  • Antikoagulation bei VHF u. erhöhtem Schlaganfall-Risiko – fehlt bei 45 %.

Not to do

  • Keine Antikoagulation bei VHF u. niedrigem Schlaganfall-Risiko (60 %).
  • Keine Vorsorge-Koronarangiographie bei asymptomatischen Patienten mit niedrigem Risiko.
  • Keine Kontroll-Koronarangiographie nach unkomplizierten Koronarinterventionen.

practica 2015 Bad Orb
Kurs Nr. 318
Dr. med. Jürgen Herbers: Klug entscheiden – Choosing Wisely


Abkürzungen und Literatur:
AAFP = American Academy of Family Physicians
AAO = American Academy of Ophthalmology
ACPM = American College of Preventive Medicine
ACR = American College of Rheumatology
AGA = American Gastroenterological Association
AME = Italian Association of Medical Endocrinologists
ANDIRA = Italian Ass. For the Promotion of appropriate care in Obstetrics, Gynecology and Perinatal Medicine
AWMF = Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
CFPC = College of Family Physicians of Canada
DEGAM = Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
DGK = Deutsche Gesellschaft für Kardiologie
FADOI = Italian Federation of Associations of Hospital Internal Medicine
RACGP = Royal Australian College of General Practitioners
SHM = Society of Hospital Medicine
SIMG = Italian Society of General Practitioners
SGAIM = Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin
SVM = Society for Vascular Medicine

Strech, D. et al.: When Choosing Wisely meets clinical practice guidelines. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen 2014 108: 601-603
ABIM Foundation: Choosing Wisely recommendations. http://www.choosingwisely.org/wp-content/uploads/2015/01/Choosing-Wisely-Recommendations.pdf
Scherer, M.: Vortrag Berliner Forum der AWMF 15.10.15: http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Die_AWMF/Veranstaltungen/Berliner_Forum/BerlinerForum-2015/BF2015_Scherer.pdf
Werdan, K.: Vortrag Berliner Forum der AWMF 15.10.15http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Die_AWMF/Veranstaltungen/Berliner_Forum/BerlinerForum-2015/BF2015_Werdan.pdf
S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der extracraniellen Carotisstenose 06.08.2002
TGAM Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin: PSA-Screening. Patienten-Information. http://www.tgam.at/userupload/editorupload/files/files/Patienteninfo/tgam_psa_patienteninfo_2015.pdf


Autor:

Dr. med. Jürgen Herbers

Facharzt für Allgemeinmedizin
74385 Pleidelsheim

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (1) Seite 41-44