Säuglinge und Kleinkinder machen ihre Sinneserfahrungen zum großen Teil mit Lippen, Zunge und Gaumen. Alles, was sie in die Finger bekommen, wird in den Mund gesteckt und womöglich auch verschluckt. Kinder unter drei Jahren sind daher besonders gefährdet, eine Vergiftung zu erleiden. Wie der Hausarzt in einem solchen Fall vorgehen kann, um das Risiko einzuschätzen, welche Therapiemöglichkeiten es gibt und welche überholt sind, soll im folgenden Beitrag dargestellt werden.

Nach Daten der neun Giftinformationszentren in Deutschland aus dem Jahr 2007 [1] betrifft knapp die Hälfte (47 %) der telefonischen Beratungen wegen möglicher Vergiftungen Kinder unter 15 Jahren. Innerhalb dieser Gruppe sind 89 % Kinder unter sechs Jahren. Besonders gefährdet sind die Ein- bis Dreijährigen. Unter einem Jahr ist der Aktionsradius noch nicht so groß und ab dem dritten Jahr lernen Kinder allmählich, Essbares von nicht Essbarem zu unterscheiden.

Statistik

In drei Viertel der gemeldeten Verdachtsfälle waren keine Symptome zu erkennen, 18 % verliefen leicht, 2 % mittelschwer, 0,2 % schwer und bei 4,8 % war der Verlauf nicht bekannt [1].

Die meisten Vergiftungen von Kindern werden durch Haushaltschemikalien (Hand- und Maschinenspülmittel, Entkalker, Rohrreiniger, Allzweckreiniger, Waschmittel, WC-Reiniger) verursacht. Platz 2 nehmen Medikamente ein (Mittel gegen Entzündungen, Husten- und Erkältungsmittel, Herz- und Kreislaufpräparate, Psychopharmaka, Antibiotika, Magen-Darm-Mittel, Hormonpräparate), gefolgt von Pflanzen, vor allem solchen mit attraktiven Beeren, und Kosmetika (Haarpflegemittel, Badezusätze, Seifen, Nagelpflegemittel).

Laut Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes sind im Jahr 2007 insgesamt 17 Kinder unter 15 Jahren an einer Vergiftung gestorben.

Nicht selten wird von besorgten Eltern zuerst der Hausarzt kontaktiert, wenn eine Vergiftung des Kindes möglich erscheint. Dieser sollte dann die Nummer des zuständigen Giftinformationszentrums parat haben und wissen, welche anamnes­tischen Angaben und Untersuchungsbefunde erforderlich und welche therapeutischen Maßnahmen ggf. einzuleiten sind. Was genau zu tun ist, beschreiben texanische Ärzte in der US-Zeitschrift „American Family Physicians“ [2].

Untersuchen und entscheiden

Die erste Frage bei einem Telefonanruf wegen fraglicher Vergiftung eines Kindes sollte lauten: Bestehen Symptome? In diesem Fall muss der kleine Patient sofort in die Klinik. Wurde die Ingestion beobachtet und es handelte sich um eine nicht giftige Substanz und das Kind zeigt keine Symptome, kann es in der Praxis untersucht werden. Die weitere Beobachtung kann dann ggf. zu Hause erfolgen. Bestehen jedoch nur geringste Zweifel an der Toxizität, sollte auch beim asymptomatischen Kind das Giftinformationszentrum kontaktiert werden. Die Untersuchung kann in der Arztpraxis oder in der Notaufnahme erfolgen. Anamnestische Daten, die erfragt werden sollten, sind Alter, Geschlecht, die beobachtete oder vermutete Zeit der Toxiningestion, die Art der fraglichen Substanz und die Art der Aufnahme (z. B. oral, Inhalation, Hautkontakt). Außerdem sollte die Originalverpackung der verschluckten Substanz bzw. die Medikamentenpackung eruiert werden und im Zweifel alle im Haushalt vorhandenen Medikamente. Auch Medikamente, die möglicherweise durch Besucher in die Wohnung gebracht worden sind (Handtasche, Pillendöschen), sind zu berücksichtigen.

Notfallmaßnahmen

Die Notfall-Stabilisierung umfasst als Erstes die Überprüfung von Atemwegen, Atmung und Puls, gefolgt von einer gründlichen körperlichen Untersuchung. Bei Patienten, die kardiotoxische Medikamente eingenommen haben (z. B. Antidepressiva, Digoxin, Kalziumantagonisten, Betablocker, Antiarrhythmika), sollte ein EKG geschrieben und bei Abnormitäten eine Monitorüberwachung eingeleitet werden.

Bei mentalen Auffälligkeiten oder Lethargie und bei der vermuteten Einnahme von hypoglykämisch wirkenden Subs­tanzen oder Alkohol ist die Bestimmung der Blutglukose sinnvoll. Bei Zeichen einer Hypoglykämie (kühle, feuchte Haut, Schwitzen, Benommenheit, Verwirrtheit) ist – unabhängig von gemessenen niedrigen BZ-Werten unter 80 mg/dl (4,4 mmol/l) – die rasche intravenöse Gabe von Dextrose zu empfehlen (Tabelle 1). Eine Thiamingabe vor der Dextroseapplikation hilft, eine Wernicke-Enzephalopathie zu verhindern. Falls sich die i.v.-Gabe als schwierig erweisen sollte, kann auch Glukagon (1 mg) i.m. als vorübergehende Maßnahme gespritzt werden.

Eine Pulsoxymetrie ist insbesondere bei Patienten mit Bewusstseins- oder Atemstörung hilfreich. Bei Bewusstseinsstörung und Verdacht auf Opioid-Überdosierung kann die Gabe von Naloxonhydrochlorid helfen (Tabelle 1).

Häufige Vergiftungen

Das Alter des Kindes kann helfen, das Spektrum der infrage kommenden Substanzen einzugrenzen. So gelangen etwa Säuglinge kaum in die Nähe von Objekten außerhalb ihrer Reichweite wie Kosmetika und Seifen. Zwar verursachen die weitaus meisten Vergiftungen bei Kindern keine oder nur milde Symptome. Doch bei bestimmten höher toxischen Substanzen (Übersicht 1) reichen bereits kleine Mengen. Dazu gehören z. B. Eisen, Antidepressiva, Salizylate, Antikonvulsiva und kardiovaskuläre Medikamente. Zu bedenken ist zudem, dass es sich um ein Medikament handeln könnte mit verzögerter Wirkung, so dass der Patient zu Beginn asymptomatisch ist (Übersicht 2).

Die Eisenvergiftung ist eine der gefährlichsten Vergiftungen im Kindesalter. Bei eisenhaltigen Vitamintabletten für Kinder droht wegen des geringen Eisengehalts keine große Gefahr, auch wenn eine ganze Packung geleert wurde. Dagegen können bereits fünf bis zehn Eisenfumarat-Tabletten für Erwachsene ein Kind schwer schädigen oder sogar töten.

Vergiftungssyndrome

Bestimmte Symptomkonstellationen, auch Vergiftungssyndrome oder Toxidrome genannt, sind typisch für Vergiftungen mit bestimmten Substanzen. Auf solche Toxidrome sollte bei der körperlichen Untersuchung geachtet werden (Tabelle 2). So deuten kleine Pupillen etwa auf cholinerge Medikamente oder Opioide hin. Zu achten ist außerdem auf Bewusstseinszustand, Hautturgor und -farbe, Pupillenreaktionen und Darmgeräusche. Wichtige Indikatoren können auch Pulverreste oder Reste von Erbrochenem am Mund oder ein außergewöhnlicher Mundgeruch sein.

Labortests

Meist genügen eine gründliche Erhebung der Anamnese und eine körperliche Untersuchung. Manchmal können einzelne Laborparameter aber auch zusätzliche wichtige Informationen liefern. Das Basis-Labor umfasst Tests auf die gefährlichsten Toxine und sollte bei allen Patienten mit signifikanter Toxinexposition durchgeführt werden (Tabelle 3). Paracetamol etwa ist in vielen Haushalten vorhanden und hat eine hohe toxikologische Potenz. Daher werden die Paracetamol-Serumspiegel meist routinemäßig bei Vergiftungen bestimmt, idealerweise vier Stunden nach Exposition. Ohne entsprechenden konkreten Verdacht sind umfangreiche Drogen-Screenings nicht sinnvoll. In einer Studie waren nur 3 % aller in einer pädiatrischen Notfallstation ohne konkreten Verdacht durchgeführten Screening-Tests positiv.

Therapie

Lange Zeit wurden alle Vergiftungen mit einem starren Vorgehen, bestehend aus aggressiver Dekontamination und Standard-Antidots, behandelt. Heute werden die Gabe von Aktivkohle und die Magenspülung nicht mehr routinemäßig empfohlen, sondern sollten besonders schweren Fällen vorbehalten bleiben und dann auch nur bis zu einer Stunde nach Gifteinnahme. Die Magenspülung, bei der durch großvolumige orogastrale Schläuche Kochsalzlösung so lange zugeführt wird, bis die Spülflüssigkeit klar ist, kann zwar signifikante Mengen an Mageninhalt entfernen. Die Prozedur wird jedoch schlecht toleriert und kann Komplikationen wie Aspiration, mechanische Verletzung bzw. Perforation oder Elektrolytverschiebungen nach sich ziehen.

Aktivkohle kann die Absorption einer ganzen Reihe von Toxinen im Magen und Darm verringern, insbesondere von Carbamazepin, Phenobarbital, Theophyllin, Salizylaten oder Phenytoin. Sie unterbricht zudem die enterohepatische und enteroenterische Rezirkulation von Drogen im Darmlumen. Allerdings ist der Effekt dadurch eingeschränkt, dass sich Kinder wegen des Aussehens und Geschmacks der Kohle weigern, diese zu trinken bzw. sie wieder erbrechen. Und bei Einnahme von Alkohol, starken Säuren oder Laugen, Mineralien, Eisen, Lithium oder Hydrocarbon hilft die Kohle wahrscheinlich nicht. Auch sie sollte nicht routinemäßig und nach einem Zeitfenster von einer Stunde nach Giftexposition gar nicht mehr gegeben werden. Was die Dosierung angeht, so sollte das Kohle-Gift-Verhältnis 10:1 betragen. Bei unbekannter Giftmenge empfiehlt sich eine Dosis von 1 bis 2 g/kg KG. Die erste Dosis wird oft zusammen mit einem abführenden Medikament (Sorbitol) gegeben, um den Geschmack und die Darmpassage zu verbessern.

Syrup Ipecac wird heute nicht mehr zur Behandlung von Vergiftungen empfohlen, da die Evidenz für einen Nutzen fehlt, auch wenn das Emetikum innerhalb von Minuten nach der Giftaufnahme verabreicht wurde.

Die wichtigsten Empfehlungen zum Management von Vergiftungen sind in Tabelle 4 nochmals zusammengefasst.


Literatur
1) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Sicher aufwachsen. Kinder vor Vergiftungen schützen, http://www.kindersicherheit.de/pdf/2009DatenFakten.pdf
2) T. McGregor, MD, et al.: Evaluation and Management of Common Childhood Poisonings, Am Fam Physician, 1.3.2009; 79 (5): 397 – 403



Autor:
Dr. med. Vera Seifert

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (13) Seite 18-24