Kennen Sie auch diese Situation? Es ist Freitagabend, der letzte Patient hat es eilig und fordert noch schnell vor Antritt der Urlaubsreise bei scheinbar eindeutiger Diagnose ein Rezept. Eine gefährliche Mischung, so das Urteil der österreichischen Allgemeinärzte Dr. Waltraud Fink und Dr. Gustav Kamenski, die 2016 die "Braun-Gruppe" auf der practica erstmals moderierten.

Robert N. Braun wollte die Allgemeinmedizin lehrbar machen, erklärte Dr. Fink. Und er wollte die Kollegen auch psychologisch auf den Hausarztberuf vorbereiten. "Ihr werdet es ein- bis zweimal pro Jahr erleben, dass etwas schiefgelaufen ist, was euch schlaflose Nächte bereitet. Dann verzweifelt bitte nicht und hängt nicht gleich euren Beruf an den Nagel", war sein Anliegen. Daraus wurde die Idee geboren, sich über solche "Quälschmerzfälle" auszutauschen. Prof. Frank H. Mader hat die "Braun-Zirkel" auf die practica geholt, wo sie heute noch stattfinden. Auch diesmal wurde lebhaft diskutiert.

Aggressive Patienten

Wie geht man mit fordernden, angriffslustigen oder gar unverschämten Patienten um, war eines der Themen. Eine Kollegin schilderte den Fall einer 50-jährigen Patientin, die von den Helferinnen außerhalb der Sprechstunde ein Rezept für ihr Schilddrüsenpräparat forderte und sich über angeblich falsch angegebene Sprechstundenzeiten beschwerte. Einige Zeit später wollte sie eine AU wegen einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber, aber ohne konkrete Erkrankung. Das verweigerte ihr die Kollegin, fragt sich aber später, ob sie vielleicht aufgrund einer persönlichen Abneigung gegen diese Frau zu emotional reagiert hatte.

Statt ärgerlich zu reagieren, rät ein Teilnehmer, Distanz zu wahren: "Ich will nicht Ihr Problem zu meinem machen." "Wenn jemand unverschämt wird und es sich um keinen Notfall handelt, kann man ihm auch mal die Tür weisen", so ein anderer Kollege. "Eine kurzfristige AU aufgrund einer emotionalen Ausnahmesituation ist in Ordnung, aber keine längerfristige."

Wunschrezept ohne Untersuchung?

Ein anderer Fall: Ein 50-jähriger Patient kommt in die Freitagabend-Sprechstunde auf den letzten Drücker. Er wünscht sich Ciprofloxacin, das ihm wiederholt geholfen habe, wenn er – wie auch diesmal – Brennen beim Wasserlassen verspürt. Harn konnte er nicht abgeben. Es eilt, anderntags ist eine Flugreise geplant. Auf eine Untersuchung wird verzichtet. Eine Woche später muss der Mann in Spanien notoperiert werden wegen akuter Appendizitis. Ein nagendes Gefühl bleibt: Hätte es Anzeichen gegeben, die sich mit einer abdominellen Palpation hätten aufdecken lassen?

Vielleicht, vielleicht auch nicht, so die Meinung der Kollegen. Manchmal entwickelt sich eine Appendizitis auch sehr schnell. Ein Kollege hat sich den Satz "Bei Verschlimmerung konsultieren Sie mich erneut" deshalb bei nahezu jeder Konsultation zum Grundsatz gemacht. Fest steht: Die Kombination aus Zeitdruck und einem dem Patienten bekannten Leiden kann zu mangelnder Sorgfalt führen. Auch hier muss der Arzt sich gemäß R. N. Braun fragen: "Sieht so aus wie ..., aber was ist es wirklich?"

Hochbetagte im Pflegeheim

Die Betreuung Hochbetagter, insbesondere in Pflegeeinrichtungen, erfordert viel Einfühlungsvermögen und Kenntnisse der familiären Hintergründe, wie der folgende Fall zeigt: Eine 92-Jährige, die eines Abends sehr unruhig wird und bei der Visite total gestresst wirkt, soll beruhigt werden. Haldol® und Dormicum® wären vorrätig, doch der Kollege versucht ein Gespräch.Schließlich konnte ein Streit unter den beiden Söhnen der Frau als ursächlich für ihre Ängste aufgedeckt werden. Eine Aussprache beruhigt die Lage und bessert die Situation schlagartig.

Ratlos erhofft sich ein Kollege Anregungen aus der Runde: Eine 92-jährige Heimbewohnerin verweigert die Mahlzeiten, sie habe "schwarze Körnchen" gesehen und ist nun überzeugt, man wolle sie vergiften. Trotz aller Bemühungen, einschließlich eines gerontopsychiatrischen Konsiliums, ist sie nicht zu überzeugen, wieder normal zu essen, und nimmt immer mehr an Gewicht ab. "Wenn keine akute Gefährdung besteht, können und sollten Sie nichts machen", so die Meinung eines Kollegen.

Patient fordert Diagnostik: was tun?

Wie sollen wir uns verhalten, wenn ein Patient überzeugt davon ist, an einer bestimmten Krankheit zu leiden, die uns aber unwahrscheinlich erscheint? Der folgende Fall wird geschildert: Bei Praxisübernahme findet sich in der Kartei der 55-jährigen Patientin u. a. der Eintrag: "seit vielen Jahren in psychiatrischer Behandlung wegen Angststörung." Nun klagt sie über kurzzeitige Sehprobleme bei Computerarbeit. Kurz darauf kommt es zu einem Notarzteinsatz wegen Schwindel, Kribbeln am ganzen Körper. Die Symptome werden einer Panikattacke zugeordnet. Atosil®-Tropfen sollen bei solchen Zuständen in Zukunft helfen. Als die Patientin erlebt, dass eine Freundin an einer Lungenembolie verstirbt, glaubt sie selbst tödlich erkrankt zu sein. Schließlich klagt sie auch über Kopfschmerzen und meint: "Ich habe bestimmt einen Hirntumor." Tatsächlich deckt das MRT ein faustgroßes Glioblastom auf.

Angstpatienten können praktisch jedes neurologische Symptom in ihrer Angst produzieren, berichtete ein psychotherapeutisch tätiger Kollege. Aber es kann tatsächlich ein somatischer Befund dahinterstecken. Hier gilt es abzuwägen zwischen Überdiagnostik, die zu somatischer Fixierung führen könnte, und berechtigter Wachsamkeit, insbesondere bei ungewöhnlichen oder eigenartigen Symptomen.

Die bei Hirntumoren in Lehrbüchern erwähnte Wesensveränderung ist oft schwer zu erkennen, so die Erfahrung einiger Kollegen. Hier könnte eine Anamnese mit Angehörigen weiterhelfen. Bei einem Patienten, der nach Bagatelltrauma ein subdurales Hämatom entwickelte, half z. B. der Hinweis von der Ehefrau, dass er plötzlich Wortfindungsstörungen hatte, auf die richtige Fährte. Bei einem anderen Patienten führten schließlich Sprachstörungen zur Diagnose eines frontalen Meningeoms. Retrospektiv gesehen seien auch leichte Wesensveränderungen vorhanden gewesen, die der Kollege aber eher als menopausal bedingt gedeutet hatte. Die Patientin war übrigens seine Ehefrau, berichtete der Kollege leicht verschämt.

Pflegende Angehörige

Als Arzt/Ärztin für Allgemeinmedizin und Familienmedizin fühlt man sich entsprechend verantwortlich auch für die an sich gesunden, pflegenden Angehörigen.

Eine 50-jährige Patientin mit metastasierendem Mammakarzinom lässt sich von ihrer 14-jährigen Tochter pflegen. Sie ist fest davon überzeugt, dass sich ihr Leiden mit Kaffeeeinläufen und ausgeklügelter Diät heilen lässt. Ihrer Tochter bürdet sie diese intensive Pflege auf, was den Teenager schließlich überfordert. Als das Mädchen dann gar nicht mehr in die Schule kommt, legt die Hausärztin ihrer Patientin nahe, ihre Tochter nicht so sehr zu belasten. Daraufhin werden Hausbesuche durch diese Ärztin von der Patientin verweigert und drei Tage später verstirbt sie.

Ein anderer Hausarzt beobachtet, wie sich der Gatte einer Schlaganfall-Patientin mit der Pflege seiner Frau völlig aufreibt und seine eigene Gesundheit gefährdet. Ein schwieriges Thema, sind sich alle Teilnehmer einig, für das es keine Patentlösung gibt.



Autorin:

Dr. med. Waltraud Fink

Ärztin für Allgemeinmedizin
A-3722 Straning 153

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (20) Seite 50-52