Am 19. April 2022 jährt sich zum 140. Mal der Todestag von Charles Darwin, einem Urvater der Evolutionsbiologie. Als Sohn eines hoch angesehenen Arztes begann er ein Medizinstudium, das er aber zwei Jahre später abbrach und eine Theologenausbildung an- und abschloss. Unmittelbar danach startete er eine fünfjährige Weltumsegelung. Hierbei sollte er jene Beobachtungen machen, für deren Deutung er wissenschaftlich unsterblich wurde: die Evolution der Arten [1]. Weniger bekannt dürfte der nach ihm benannte Höcker im Bereich der Ohrmuschel sein.

Sein Hauptwerk veröffentlichte Darwin 1859 unter dem Titel "On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life" [2]. Diese Publikation gilt als ein Standardwerk der Evolutionsbiologie, löste aber auch heftige Widersprüche in fundamentalistisch-orthodoxen Glaubenskreisen ("Kreationisten") aus [3]. Im Februar 1871 erschien Darwins zweibändiges Werk "The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex". Anderthalb Textseiten investierte Darwin in die Feststellung, dass es Formvarianten im hinteren oberen Helixbereich der menschlichen Ohrmuschel gebe, die wohl ein Überbleibsel ehemals spitzer Ohren seien und gelegentlich beim Menschen wieder auftauchten. Diese später nach ihm benannten Veränderungen (Darwinhöcker, Darwinsche Spitze oder Apex auriculae Darwini) seien variabel in Größe und Position, manchmal träten sie auch nur auf einem Ohr auf. Darwin selbst beanspruchte im Übrigen kein Erstbeschreibungsrecht für diese Beobachtung. Vielmehr sprach er von der Woolnerschen Spitze ("WoolnerianTip"), weil es der britische Bildhauer Thomas Woolner war, der diese Variante der Ohrmuschelkontur in einer seiner Skulpturen dargestellt und sich mit Darwin darüber ausgetauscht hatte [4]. Dass sich schließlich die Bezeichnung "Darwin’s tubercle" durchsetzte, ist wohl der Erstveröffentlichung in gedruckter Form durch Darwin geschuldet [19].

Atavismus als Herausforderung für Evolutionsbiologen und Genetiker
Während der Evolution einer Art können stammesgeschichtlich überholt scheinende Merkmale verloren gehen, dann aber bei einzelnen Individuen plötzlich wieder auftreten. Dieser Vorgang wird als Atavismus (lat. "atavus", der Urahn) bezeichnet. Solche Attribute (Ohrhöcker, Halsrippen oder zusätzliche Brustwarzen bei Menschen, Zähne bei Vögeln) könnten ein Hinweis dafür sein, dass bestimmte Informationen quasi im Genpool erhalten bleiben und gelegentlich reaktiviert werden können. Allerdings scheinen Atavismen gegen das orthoevolutionäre Prinzip zu verstoßen, nach dem eine verlorene Komplexität keinesfalls in einem phylogenetisch jüngeren Organismus vollständig reevolutioniert werden kann (Dollosches* Gesetz der Irreversibilität). Obwohl noch nicht klar ist, was die Reaktivierung ruhender Merkmale auslöst und steuert, stellen Atavismen in jedem Fall eine bislang noch nicht endgültig gelöste Herausforderung für Evolutionsbiologen und Genetiker dar [12].

* Louis Dollo (1857–1931) war ein französischer Paläontologe.


Variantenreiche Darwinhöcker

Das "Darwin-Ohr" [5] und seine Höcker weisen kein einheitliches Erscheinungsbild auf. Vielmehr werden dem Darwin-Ohr diverse Fehlformungen des Ohrmuschelreliefs im kranialen Anteil der Helix zugeschrieben, variabel bezüglich Lokalisation, knotiger Ausformung und Prominenz (Abb. 1). Schon 1926 bemängelte Marx in seinen Ausführungen [6] zur Morphologie und Klinik der Ohrmissbildungen, dass "…nicht genau dieselben Ohrformen von verschiedenen Autoren als Darwinsches Ohr bezeichnet werden…", und mutmaßte, dass dabei auch Rasseneigentümlichkeiten eine Rolle spielen könnten. Bis zum heutigen Tag wurde selbst in Fachkreisen noch kein Konsens zur Klassifizierung oder Kategorisierung jener Veränderungen erzielt [7], die Gustav Alexander in seinen Betrachtungen über "Die Anthropologie des Gehörorganes" [8] folgendermaßen beschreibt: "Am freien Rand der Helix, und zwar meist am Übergang der vorderen oberen in die hintere Helix, werden am Menschen verschiedene rudimentäre Zacken beobachtet." Beim Darwin-Ohr im engeren Sinn [9] findet sich am Helixinnenrand, an der Kreuzung des absteigenden oberen Helixdrittels mit seinem mittleren Drittel (Abb. 1) eine höckerförmige, in Richtung Tragus weisende Verdickung, die "Darwinsche Spitze". Sie wird als eigentliches Homologon ("wahre Ohrspitze" oder "der vorspringende Punkt") der tierischen Ohrspitze aufgefasst [9, 10] und faltet sich wohl beim Umkrempeln des Helixrandes während der Embryogenese nach innen [8]: "Dieses Tuberculum entspricht derjenigen Stelle der menschlichen Ohrmuschel, die der Ohrspitze der Ohrmuschel der Säuger vergleichbar ist." Spektakulärer und deutlich auffälliger sind prominente Tubercula auf dem mittleren bis oberen Außenrand der Helix (Abb. 2), die aber ebenso als Darwinhöcker [11] apostrophiert werden. Im hinteren obersten Außenrandbereich werden sie, spitz oder flach verlaufend, als Scheitelspitze (Abb. 1) bezeichnet.

Wie häufig sind die Darwinhöcker und wie entstehen sie?

Darwinhöcker (engl. Darwin‘s tubercle, auricular tubercle, Darwin’s bump) werden am häufigsten als angeborene, hautüberzogene, knorpelige und aus dem Umgebungsniveau herausragende Strukturen am hinteren oberen Teil der Ohrmuschelhelix sowohl am Innen- wie auch am Außenrand beschrieben. Die Häufigkeit des Darwinhöckers variiert erheblich in verschiedenen Populationen. So wurden Darwinhöcker bei etwa 10,5% der spanischen und 40% der indischen Erwachsenen, aber bei 58% der schwedischen Schulkinder nachgewiesen [7].

Früher wurde angenommen, dass das Gen für Darwinhöcker autosomal-dominant mit unvollständiger Penetranz vererbt wird. Gen- und Familienstudien haben jedoch gezeigt, dass die Genese der Darwinhöcker wohl eher atavistisch (vgl. Infokasten) interpretiert werden muss. Eine Reminiszenz an Strukturen also, die bei der Entwicklung des tierischen hin zum menschlichen Ohr noch funktionelle Bedeutung hatten (Ohren spitzen, aufstellen, bewegen). Allerdings ist der Grad genetischer, umweltbedingter oder noch nicht bekannter Einflüsse auf diese Merkmalsexpression bislang unklar [7].

Klinische Bedeutung der Darwinhöcker

Als Teil des Gesichts gehört die Ohrmuschel zu einer hervorgehobenen Körperregion. Form, Größe, Relief, Proportionen sowie die Stellung und Position der Ohrmuschel charakterisieren das Gesicht jedes Individuums. Diese Einzigartigkeit geht so weit, dass eine Identifizierung von Personen anhand der Ohrmuschel bei forensischen Fragestellungen möglich [13, 14] ist. Darwinhöcker werden formal als Ohrmuschelmissbildung (Dysplasie Grad I, ICD-10-GM 2022: Q17.8) klassifiziert (Tabelle 1). Beeinträchtigungen des Hörvermögens oder systemische Anomalien müssen im Unterschied zu höhergradigen Dysplasien beim Vorhandensein eines Darwinhöckers nicht befürchtet werden, weshalb weiterführende Untersuchungen in der Regel nicht erforderlich sind [17]. Eine chirurgische Intervention mittels isolierter Resektion des verdickten Helixknorpels ist möglich, wenn diese rudimentäre Struktur von Betroffenen als kosmetisch störend empfunden wird [10].

Die Kenntnis dieser evolutionsbiologischen Auffälligkeit ist für Hausärzt:innen deshalb interessant, weil gelegentlich Eltern nachfragen, wenn sie bei ihren Kindern derartige Veränderungen sehen und "Dr. Google" sie ratlos zurücklässt.

Fazit

Knotenbildungen am äußeren Ohr sind in jedem Alter möglich. Meist geht es darum, ob die Veränderungen entzündlicher oder tumoröser Art sind. Diese Frage stellt sich bei der Blickdiagnose von Darwinhöckern nicht. Bei ihnen handelt es sich um angeborene, evolutionsbiologisch interessante Veränderungen ohne Wachstums- oder Malignitätstendenz. Zudem sind sie der Patient:in seit ihrer Kindheit bekannt, wodurch sie sich klinisch gut einordnen lassen. Weiterer Handlungsbedarf ergibt sich in der Regel nicht

Wichtig für die Sprechstunde
  • Darwinhöcker sind knotige Strukturen am oberen äußeren oder inneren Helixrand der Ohrmuschel.
  • Ihre Entstehung ist nicht abschließend geklärt, angenommen wird eine atavistische Genese.
  • Klinisch haben Darwinhöcker keine Bedeutung.


Literatur:
1. Ayala FJ. Darwin‘s greatest discovery: design without designer. Proc Natl Acad Sci U S A. 2007 May 15;104 Suppl 1(Suppl 1):8567-73. doi: 10.1073/pnas.0701072104
2. Tanghe KB. On the origin of species: the story of Darwin’s title. Notes Rec. 2019; 73, 83–100 doi:10.1098/rsnr.2018.0015 published online 22. August 2018
3. Bechly G. Darwin’s point: No evidence for common ancestry of humans with monkeys. https://evolutionnews.org/2017/09/darwins-point-no-evidence-for-common-ancestry-of-humans-with-monkeys/ (zuletzt eingesehen 09.12.2021)
4. Millard RD, Pichard RE. Darwin’s tubercle belongs to Woolner. Arch Otolaryngol 1970;91(4):334-5 doi: 10.1001/archotol.1970.00770040492005
5. Altmeyer P, Bacharach-Buhles M, Holzmann H. Bildlexikon der Dermatologie. 2. Auflage Springer Verlag Berlin Heidelberg New York 1995
6. Marx H. Morphologie und Klinik der Ohrmißbildungen. In: Die Krankheiten des Gehörorganes. Erster Teil. Bearbeitet von G. Alexander, G. Anton, K. Beck et al. Julius Springer Berlin und J. F. Bergmann München 1926
7. Loh TY, Cohen PR. Darwin’s tubercle: Review of a unique congenital anomaly. Dermatol Ther (Heidelb). 2016 Jun; 6(2): 143–149 doi: 10.1007/s13555-016-0109-6
8. Alexander G. Entwicklungsgeschichte, Anthropologie, Varietäten. In: Die Krankheiten des Gehörorganes. Erster Teil. Bearbeitet von G. Alexander, G. Anton, K. Beck et al. Julius Springer Berlin und J. F. Bergmann München 1926
9. Schätzle W, Haubrich J. Pathologie des Ohres. Springer Verlag Berlin Heidelberg New York 1975
10. Leithäuser D. Darwinsche Spitze. HNO-Nachrichten 2011; 4: 16
11. Werner JA, Lippert BM. HNO-Heilkunde. Farbatlas zur Befunderhebung, Differenzialdiagnostik und Therapie. Schattauer Verlag Stuttgart New York 2003
12. Tomić N, Meyer-Rochow VB. Atavisms: medical, genetic, and evolutionary implications. Perspect Biol Med Summer 2011;54(3):332-53. doi: 10.1353/pbm.2011.0034.
13. Krishan K, Kanchan T, Thakur S. A study of morphological variations of the human ear for its applications in personal identification. Egypt J Forensic Sci 9, 6 (2019). doi:org/10.1186/s41935-019-0111-0
14. Trube-Becker E. Identifizierung von Tätern durch Ohrabdruckspuren. In: Barz J., Bösche J., Joachim H., Käppner R., Mattern R., Frohberg H. (Hrsg.) Fortschritte der Rechtsmedizin. Springer Verlag Berlin, Heidelberg 1983
15. Weerda H, Siegert R. Klassifikation und Behandlung der Ohrmuschelmißbildungen. Dt Ärztebl 1999; 96: A-2216-2218 [Heft 36]
16. Weerda H. Chirurgie der Ohrmuschel. Georg Thieme Verlag Stuttgart 2003
17. Cohen Ph R. Darwin’s Tubercle. Sultan Qaboos University medical journal February 2018, Vol. 18, Iss. 1, pp. e112–113. doi.org/10.18295/squmj.2018.18.01.021
18. Gürkov R. BASICS Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. 5. Auflage; Verlag Urban & Fischer in Elsevier 2019
19. N. N. Nova et Vetera. The Woolner-Darwin Tubercle. BMJ 1946; 2: 170


Autor

Dr. Fritz Meyer

Facharzt für Allgemeinmedizin
Sportmedizin, Ernährungsmedizin (KÄB)
Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
86732 Oettingen/Bayern
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
Rechte: Alle Rechte für Abbildungen, Tabellen und Grafiken liegen beim Autor.



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (4) Seite 38-40