Die häufigsten Schwindelerkrankungen können im Wesentlichen durch Anamnese und klinische Untersuchung diagnostiziert werden. Ausgedehnte apparative Diagnostik ist in den wenigsten Fällen notwendig oder hilfreich. Bei chronischem Schwindel sind häufig psychische und organische Ursachen im Spiel. Die Therapieoptionen müssen diesem Umstand Rechnung tragen.

Kasuistik
Eine 48-jährige Berufsschullehrerin klagt über einen seit mehreren Monaten bestehenden ungerichteten Schwankschwindel. Dieser sei in seiner Intensität sehr fluktuierend, morgens häufig nur sehr leicht vorhanden und nehme dann im Tagesverlauf langsam zu. Manchmal wäre es aber auch so schlimm, dass sie sich fast gar nicht mehr bewegen kann. Autofahren oder Einkaufengehen im Supermarkt würden ihr sehr schwerfallen. Sie hätte das Gefühl, überhaupt nicht geradeaus laufen zu können und muss sich entweder an einer Begleitperson festhalten oder einen Rollator zu Hilfe nehmen aus Angst zu fallen. Gestürzt sei sie aber bisher nicht. Unter Entspannung und nach einem halben Glas Rotwein würde die Symptomatik fast sistieren. Begonnen hat der Schwindel mit einer sehr heftigen Schwindelattacke frühmorgens direkt nach dem Aufwachen, mit Übelkeit, aber ohne Erbrechen. Zunächst habe sich der ganze Raum gedreht, was dann nach wenigen Minuten mit ruhig gehaltenem Kopf wieder nachgelassen hatte. Sie hätte allerdings noch über mehrere Tage ähnliche Schwindelattacken verspürt, besonders morgens nach dem Aufstehen oder nach schnellen Kopf- und Körperdrehungen. Diese Attacken seien dann langsam abgeklungen und der Schwindel hätte seine jetzige Form angenommen. Arbeiten war sie seit Beginn der Symptomatik nicht mehr.

In der klinischen Untersuchung finden sich keine Auffälligkeiten, der Halmagyi-Kopfimpulstest zeigte keinen Anhalt für ein peripher-vestibuläres Defizit und die diagnostischen Lagerungsproben nach Dix-Hallpike waren ohne Anhalt für einen benignen peripheren paroxysmalen Lagerungsschwindel.

Die Patientin leidet an einem somatoformen Schwindel auf dem Boden eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels. Während dieser in den diagnostischen Lagerungsproben nun nicht mehr nachweisbar ist, zeigt die Patientin die typische Symptomatik eines somatoformen Schwindels (siehe unten).

Schwindel ist mit einer Prävalenz von bis zu 23 % das zweithäufigste Symptom in der Neurologie nach Kopfschmerzen und eine der häufigsten Beschwerden beim Arztbesuch allgemein [1]. Die Lebenszeit-Prävalenz für peripher-vestibulären Schwindel liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 7,4 % [2].

Häufig sind mehrere Besuche bei unterschiedlichen Fachärzten wie Hals-Nasen-Ohren-Ärzten und Neurologen. Aber auch Orthopäden werden mit dem Problem Schwindel häufig konfrontiert in der Annahme, dass chronische Schwindelbeschwerden mit Fehlstellungen der Halswirbelsäule zu tun haben könnten. Hierfür fehlt bisher der wissenschaftliche Nachweis. Besonders Patienten mit chronischen Schwindelbeschwerden, die länger als sechs Monate andauern, werden häufig als schwierig in der Diagnose und Therapie eingeschätzt. Dies ist zum Teil durch residuelle Zustände z. B. nach abgelaufener Neuritis vestibularis zu erklären, zum Teil aber auch durch eine sich zusätzlich entwickelnde psychische Komponente der Schwindelerkrankung mit Depression, Angst und Vermeidungsverhalten.

Einheitliche Diagnosekriterien für die unterschiedlichen Schwindelsyndrome gibt es nur begrenzt und auch die deutsche Sprache stellt manchmal ein differenzialdiagnostisches Problem dar, da Schwindel ein Überbegriff für viele unterschiedliche Zustände ist und viele Patienten auch ein Benommenheitsgefühl und Gangunsicherheit als Schwindel beschreiben. Im Englischen ist dies einfacher und wird mit "vertigo" – am ehesten als Drehschwindel übersetzt – und "dizziness" – was am ehesten einem Benommenheitsgefühl und Schwankschwindel entspricht – beschrieben. Häufig ist es für die korrekte Diagnosefindung hilfreich, diese unterschiedlichen Zustände sorgfältig zu differenzieren. Gerade bei älteren und multimorbiden Patienten kann es sein, dass sich mehr als eine Ursache für die beklagten Schwindel-Symptome finden lässt. Auch hier ist eine möglichst genaue Einordnung und Priorisierung wichtig, um eine adäquate Therapie einleiten zu können. Auch bei Schwindelbeschwerden, die mehrere Jahre bestehen, ist eine spezifische Therapie noch möglich und hat häufig eine gute Prognose.

Gerade bei chronischem Schwindel sind die Möglichkeiten der medikamentösen Beeinflussung allerdings limitiert und physiotherapeutische Schwindelübungen können hier bei vielen Schwindelerkrankungen hilfreich sein. Diese Schwindelübungen sind in ihrer Ausführung häufig sehr variabel, beinhalten aber immer Blickstabilisationsübungen, Übungen zur Reduktion der visuellen und somatosensorischen Abhängigkeit, Übungen zur Otolithen-Rekalibration und Blickfolgeübungen. Selbst bei Schwindelbeschwerden, die mehrere Jahre bestehen, ist eine spezifische Therapie noch möglich. Wichtigste Bausteine sind Physiotherapie und körperliche Bewegung. Bei länger bestehenden Schwindelbeschwerden kommt aber in den meisten Fällen eine nicht zu unterschätzende psychische Komponente mit ins Spiel, die ebenfalls beachtet und therapiert werden sollte.

Differenzialdiagnose Schwindel

Die Diagnosefindung stützt sich hauptsächlich auf die klinische Untersuchung. Apparative Untersuchungen sind in den wenigsten Fällen wirklich notwendig. Die klinische Untersuchung sollte allerdings einige wichtige Elemente wie das diagnostische Lagerungsmanöver nach Dix-Hallpike, den Kopfimpulstest nach Halmagyi-Curthoys sowie eine ausführliche Untersuchung der Augenbewegungen nach Spontan- und Blickrichtungsnystagmus inklusive der Betrachtung unter der Frenzelbrille beinhalten. Beim Kopfimpulstest beurteilt der Untersucher die kompensatorischen Augenbewegungen nach passiver Kopfdrehung. Apparative Untersuchungen wie die Video- oder Elektronystagmographie können eine peripher-vestibuläre Schädigung sichern, während eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels eine stattgehabte zerebrale Ischämie nachweisen kann. Eine negative MRT schließt allerdings einen kleinen abgelaufenen Hirnstamminfarkt nicht aus und auch eine normale Nystagmographie kann partielle Schädigungen des Gleichgewichtsorgans nicht gänzlich ausschließen. In beiden Fällen ist die sorgfältige klinische Untersuchung häufig überlegen.

Gerade bei chronischen Schwindelbeschwerden, die täglich in ähnlicher Ausprägung mit nur wenigen Schwankungen auftreten, fällt die differenzialdiagnostische Unterscheidung zwischen psychischer und organischer Schwindelursache häufig schwer, da sich die beiden nicht selten überlappen. Bei den organisch bedingten Ursachen muss häufig die Entscheidung getroffen werden, ob es sich um eine zentral-vestibuläre Schädigung im Sinne eines Schlaganfalls (Hirnstamm oder Kleinhirn) oder um eine peripher-vestibuläre Schädigung im Sinne einer Neuritis vestibularis oder bilateralen Vestibulopathie handelt. Dies betrifft nicht nur die Akutsituation, sondern führt häufig auch zu diagnostischen Unsicherheiten in der Beurteilung des Defekt- oder Residualzustandes nach abgelaufener zentral- oder peripher-vestibulärer Schädigung.

Zentral-vestibulärer Schwindel

Unter zentralen Ursachen für Schwindel versteht man eine Schädigung von Hirnarealen, die für die Verarbeitung und Aufrechterhaltung von Gleichgewicht zuständig sind. Häufigste Ursache sind ischämische Schlaganfälle oder Blutungen im Bereich des Hirnstamms und des Kleinhirns. Aber auch entzündliche Läsionen durch Multiple Sklerose oder Kleinhirndegeneration, Demenzen, Tumoren oder eine Enzephalitis können zu einem zentral-vestibulären Schwindel führen. Nur in sehr seltenen Fällen sind hierbei die Symptome der Patienten in der klinischen Untersuchung auf den Schwindel beschränkt. Häufig zeigen sich weitere fokal-neurologische Ausfälle wie Augenbewegungsstörungen (Blickrichtungs-, Up- oder Downbeat-Nystagmus), Arm- oder Beinataxie oder Sprech- und Schluckstörungen [3].

Chronische Gang- und Standunsicherheit ist ein häufiges Symptom einer Vielzahl von neurodegenerativen Erkrankungen wie der spino-zerebellären Ataxie, der Friedreich-Ataxie, verschiedenen Parkinson-Syndromen, Normaldruckhydrocephalus und anderen. Hier ist es wichtig, die genaue Symptomatik des Patienten zu erfragen und es nicht bei der allgemeinen Beschreibung Schwindel zu belassen. Die zusätzlich vorhandenen neurologischen Symptome ermöglichen eine klare Abgrenzung zu peripher-vestibulären Ursachen.

Therapeutisch ist hier überwiegend spezielle Physiotherapie sinnvoll, um die noch verbliebenen Ressourcen zur zentral-vestibulären Kompensation zu mobilisieren. Je nach Lokalisation der ZNS-Schädigung hat dies unterschiedliche Erfolgsaussichten, sollte aber auf jeden Fall probiert werden. Systematisch untersucht wurde die Wirkung von vestibulärem Rehabilitationstraining für Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma, zerebellären Erkrankungen inklusive Ischämien, Multipler Sklerose und Parkinson-Syndrom [4]. Für medikamentös-supportive Maßnahmen gibt es bisher keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz, sie können deshalb nicht allgemein empfohlen werden.

Neuritis vestibularis und residuelles peripher-vestibuläres Defizit

Bei fehlerhafter zentral-vestibulärer Kompensation oder unzureichender Erholung eines Gleichgewichtsorgans kann es zu einem persistierenden residuellen peripher-vestibulären Defizit kommen. Häufig ist dies die Folge einer unerkannten oder nicht behandelten Neuritis vestibularis, eines langjährigen Verlaufs von M. Menière oder Folge eines Traumas oder einer Operation. Die Patienten klagen häufig über einen permanenten Schwankschwindel mit Gangunsicherheit, der fast ausschließlich in Bewegung auftritt und im Liegen und Sitzen nicht oder kaum vorhanden ist. Dieser Schwindel fluktuiert manchmal in seiner Intensität über den Tag, ist aber bei Bewegung immer vorhanden. Typischerweise nimmt die Schwindelsymptomatik und Gangunsicherheit auf unebenem Boden (bei Wegfall der somatosensorischen Rückmeldung) und im Dunkeln (bei Wegfall der visuellen Kontrolle) deutlich zu. Anamnestisch lässt sich häufig ein chronologischer Ablauf mit initialem Drehschwindel mit Übelkeit, Erbrechen, Stand- und Gangunfähigkeit und protrahierter Erholung über Tage und Wochen als Hinweis auf eine abgelaufene Neuritis vestibularis erfragen. In der klinischen Untersuchung fällt meist ein pathologischer Kopfimpulstest, ggf. ein Provokationsnystagmus und eine kalorische Mindererregbarkeit eines Vestibularorgans in der Elektro- oder Videonystagmographie auf. Die Stand- und Gangunsicherheit ist in den erschwerten Gangversuchen und im Romberg-Stehversuch objektivierbar. Das omnidirektionale Schwanken zeigt im Gegensatz zu somatoformen Schwindelbeschwerden keine Besserung unter Ablenkung, z. B. von 50 an rückwärts zählen.

Therapeutisch ist physiotherapeutisch angeleitetes Stand- und Gangtraining zu empfehlen, das dem Gehirn die Möglichkeit gibt, das Informationsdefizit des geschädigten Gleichgewichtsorgans durch andere Sinne (Sehen, Tiefensensibilität) zu kompensieren. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als zentral-vestibuläre Kompensation. Die Patienten müssen unbedingt über die langsame Rückbildung der Symptomatik im Sinne einer zentral-vestibulären Kompensation aufgeklärt werden, damit sie die benötigte Zeitspanne auch durchhalten und die Übungen nicht vorzeitig und enttäuscht abbrechen.

Bilaterale Vestibulopathie

Die bilaterale Vestibulopathie mit sequenziellem oder gleichzeitigem beidseitigen Ausfall der Labyrinthe und/oder des achten Hirnnerven ist charakterisiert durch eine in Dunkelheit und auf unebenem Grund akzentuierte Gangunsicherheit mit Schwankschwindel sowie Oszillopsien (Scheinbewegungen der Umwelt) [5]. Jedoch leiden lediglich 40 % der Betroffenen an Oszillopsien [6]. Die häufigsten Ursachen für eine bilaterale Vestibulopathie sind ein bilateraler M. Menière, ototoxische Aminoglykoside (z. B. Streptomycin, Gentamicin) ggf. in Kombination mit dem ebenfalls ototoxischen Furosemid und Enzephalitis oder Meningitis. Leider bleibt in mehr als 50 % der Fälle die Ursache unklar [7]. Ein beidseits pathologischer Kopfimpulstest und/oder eine fehlende vestibuläre Erregbarkeit in der kalorischen Testung sind diagnostisch wegweisend. Durch konsequentes Gang- und Gleichgewichtstraining (wie oben beschrieben) kommt es vielfach zu einer Besserung der Gangunsicherheit [8].

Somatoformer Schwindel

Somatoformer Schwindel (Synonyme: phobischer Schwankschwindel, funktioneller Schwindel) kann durch unterschiedliche Erkrankungen bedingt sein, wie Angsterkrankungen, Panikstörungen und Phobien (z. B. soziale Phobie oder Agoraphobie), depressive Erkrankungen und Burnout-Syndrom, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen, Anpassungsstörungen (Reaktionen auf schwere Lebensbelastungen) oder Depersonalisationssyndrome. Häufig kommt es auch infolge einer ursprünglich organischen Schwindelerkrankung wie dem M. Menière, der vestibulären Migräne oder einer Neuritis vestibularis zu der Entwicklung eines somatoformen Schwindels. Somatoforme Schwindelformen stellen in der Altersgruppe zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr die häufigste Ursache für Schwindel überhaupt dar, mit einem Anteil von 22 – 26 % in spezialisierten Schwindelambulanzen [9].

Prinzipiell können beim psychosomatisch bedingten Schwindel alle Schwindelqualitäten vorkommen und die Schwindelsymptomatik alleine lässt nicht auf die ursächliche Grunderkrankung schließen. Die meisten Patienten leiden unter einem diffusen, permanent vorhandenen, aber in der Intensität zum Teil stark fluktuierenden Schwankschwindel. Seltener berichten Patienten auch über eine transiente Sekunden bis Minuten andauernde Symptomatik. Der Schwindel wird als Schwankschwindel, Drehschwindel, Liftschwindel oder lediglich als ein unspezifisches Benommenheitsgefühl beschrieben. Häufig wird auch über ein Gefühl der Leere im Kopf sowie über diffusen Kopfdruck geklagt. Richtige Kopfschmerzen geben die Patienten meistens nicht an. Zum Teil kommt es zu sehr heftigen autonomen Begleitreaktionen mit Übelkeit, Brechreiz, Herzrasen, Blutdruckanstieg, Atemnot, Schweißausbruch, Durchfall und Harndrang. Hier kann eine Abgrenzung zu einer organischen Ursache manchmal schwerfallen. Dieser Schwindel wird häufig auch im Sitzen oder Liegen erlebt und verhält sich weitgehend unabhängig von Bewegung oder Lageänderung. Starke Bewegungen können die Symptomatik aber verschlimmern. Die häufig beklagte Gangunsicherheit oder ein vermeintliches Torkeln ist nur subjektiv vorhanden und kann in der Regel vom engeren Umfeld nicht objektiviert werden.

Vermeidungsverhalten aus Angst vor Schwindel

Die Patienten klagen häufig über eine zum Teil sehr ausgeprägte Sturzangst, ohne dass es bisher zu (gravierenden) Stürzen mit Verletzungen gekommen ist. Hieraus kann sich dann im Rahmen der psychischen Fehlverarbeitung ein übersteigertes Wahrnehmen physiologischer Körperschwankung mit konsekutiv vermehrter Haltungskontrolle entwickeln. Durch aktive, kleinste Gegenbewegungen wird das Schwindel- und Gangunsicherheitserleben noch verstärkt. Wie oben bereits erwähnt entwickelt sich dieses Verhalten aus den Erfahrungen einer organischen Schwindelerkrankung (am häufigsten M. Menière und vestibuläre Migräne). Meist entwickelt sich auch ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, was z. B. das Verlassen des Hauses, Bahn- oder Busfahren, Einkaufen oder soziale Kontakte angeht. Interessanterweise bessert sich die Schwindel-Symptomatik durch körperliche Bewegung und Sport sowie durch angenehme Ablenkung und geringe Mengen Alkohol.

Die Therapie richtet sich selbstverständlich nach dem zugrundeliegenden Auslöser. Bei Verdacht auf eine schwerwiegende psychosomatische Grunderkrankung sollte eine psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung so schnell wie möglich angestrebt werden. In Abhängigkeit von der Ausprägung der Symptomatik kann eine supportive Therapie z. B. mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI; z. B. Citalopram 20 mg tgl.) ergänzt werden. Eine verhaltenstherapeutische Intervention ersetzen kann dies aber nicht.

Basistherapie bei somatoformem Schwindel

Bei leichter betroffenen Patienten und insbesondere beim unkomplizierten somatoformen Schwindel besteht die Basis der Therapie im Wesentlichen aus einer gründlichen Aufklärung des Patienten und der Erkenntnis, dass er grundsätzlich organisch gesund ist und sein Problem auf psychischer Ebene liegt. Darüber hinaus sollte man die Patienten zur Eigendesensibilisierung anleiten, um die zum Teil sehr ausgeprägten Vermeidungsverhaltensschablonen zu durchbrechen und schließlich zu überwinden. Hierbei sollen Situationen, die aus Angst, Schwindel auszulösen oder zu verstärken, bisher gemieden wurden, bewusst gesucht werden. Auch regelmäßiger Ausdauersport hat einen unterstützenden Effekt zur Desensibilisierung und Rekalibrierung des Gleichgewichtssystems. Die Patienten machen zudem die Erfahrung, dass körperliche Bewegung die Symptome eher bessert als verschlimmert. Spezielles physiotherapeutisches Schwindeltraining analog zur Therapie von peripher-vestibulären Erkrankungen kann hier eine erste Maßnahme sein, um die körperliche Beweglichkeit zu reaktivieren. Diese einfachen Mittel helfen den allermeisten Patienten bereits beträchtlich weiter und führen auch bei schwerwiegenderen Fällen in Kombination mit einer verhaltenstherapeutischen Intervention bei ca. 75 % der Betroffenen zu einer Beschwerdebesserung [9, 10].

Multimodale Schwindeltherapie

Die multimodale Schwindeltherapie umfasst für alle Patienten sowohl das physiotherapeutische Training als auch die psychologische Behandlung mit Elementen aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Das physiotherapeutische Training beinhaltet entsprechend der aktuellen Studienlage zur vestibulären Rehabilitation Blickstabilisationsübungen, Übungen zur Reduktion der visuellen und somatosensorischen Abhängigkeit, Übungen zur Otolithen-Rekalibration und Blickfolgeübungen in Ruhe und Bewegung [11, 12]. Die Übungen sollten von einem erfahrenen Physiotherapeuten angeleitet werden und müssen vom Patienten konsequent auch zu Hause täglich weiter durchgeführt werden, um nach oftmals mehreren Wochen oder Monaten zu einer Besserung zu führen.

Neben der ausführlichen Aufklärung über die Erkrankung orientiert sich die psychologische Arbeit an der Behandlung von Phobien mit Mitteln der kognitiven Verhaltenstherapie und hier insbesondere einer systematischen Desensibilisierung [13]. Die Schwindelbehandlung erfolgt in vier Schritten:

Aufbau einer Angsthierarchie: Mit den Betroffenen werden Alltagssituationen gesammelt, die geeignet sind, Angst vor Schwindel auszulösen. In einem zweiten Schritt werden diese Situationen entsprechend ihrer Reizstärke hierarchisiert und mit 0 bis 100 skaliert.

Erlernen von Entspannungstechniken: Die Patienten erlernen die Progressive Muskelrelaxation (PMR).

Allmähliche Milderung der Ängste mit gleichzeitiger Entspannung: Zu Beginn der Sitzung wird die PMR durchgeführt. Dann stellen die Teilnehmer sich die Angstsituationen so lange vor, bis ihr Inhalt vollständig angstfrei erlebt wird (in der Regel zwei- bis viermal). Dabei werden sie angeleitet, das Vorgestellte wie einen Film zu sehen, den sie verlangsamen, anhalten, vor- und zurückspulen können. Man startet dabei mit der am wenigsten angstbesetzten Situation. Bei aufkommender Angst wird der Patient wieder in einen entspannten Zustand geführt. Dazu können vorab Zeichen oder Rückzugsräume zur Wiederentspannung vereinbart werden. Wird die Situation angstfrei bewältigt, geht man zur nächsten Stufe über bis zur direkten Konfrontation mit der am stärksten angstauslösenden Situation. Auf diese Weise wird die gesamte Hierarchie abgearbeitet.

Anwendung auf die Realität: Abschließend wendet der Patient das Erlernte auf reale Stimuli im Alltag an. Dies fördert ein realistisches Erleben der Angstsituationen.

Im Vergleich zur normalen ambulanten Therapie mit Aufklärungsgespräch und ggf. dem Mitgeben von Heimübungen oder Übungsanleitungsblättern zeigt die multimodale Therapie eine deutliche Überlegenheit (Abb. 1). So verbesserte sich der Dizziness Handicap Inventory (DHI) als Marker für die Beeinträchtigung des Patienten in der Durchführung von alltäglichen Dingen bei 234 Patienten um insgesamt 35,3 % (18 Punkte), was eine nicht nur statistisch bedeutsame, sondern auch eine klinisch relevante Verbesserung darstellt.

Fazit
Schwindelerkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der Medizin überhaupt und stellen eine große dia-gnostische und besondere therapeutische Herausforderung dar. Die differenzialdiagnostische Einschätzung sollte immer sorgfältig erfolgen, denn hiernach richtet sich das spätere Behandlungskonzept. Besonders bei chronischen Schwindelerkrankungen sollte in verstärktem Maße auf die körperlichen und psychischen Aspekte der Erkrankung im Sinne eines multimodalen Behandlungskonzeptes eingegangen werden, um einen möglichst großen Therapieerfolg zu erzielen.


Literatur:
1. Neuhauser HK, Radtke A, von Brevern M, Lezius F, Feldmann M, Lempert T. Burden of dizziness and vertigo in the community. Arch Intern Med. 2008;168(19):2118-24.
2. Neuhauser HK, von Brevern M, Radtke A, Lezius F, Feldmann M, Ziese T, et al. Epidemiology of vestibular vertigo: a neurotologic survey of the general population. Neurology. 2005;65(6):898-904.
3. Kattah JC, Talkad AV, Wang DZ, Hsieh YH, Newman-Toker DE. HINTS to diagnose stroke in the acute vestibular syndrome: three-step bedside oculomotor examination more sensitive than early MRI diffusion-weighted imaging. Stroke. 2009;40(11):3504-10.
4. Alrwaily M, Whitney SL. Vestibular rehabilitation of older adults with dizziness. Otolaryngologic clinics of North America. 2011;44(2):473-96, x.
5. Vibert D, Liard P, Hausler R. Bilateral idiopathic loss of peripheral vestibular function with normal hearing. Acta Otolaryngol. 1995;115(5):611-5.
6. Brandt T, Schautzer F, Hamilton DA, Bruning R, Markowitsch HJ, Kalla R, et al. Vestibular loss causes hippocampal atrophy and impaired spatial memory in humans. Brain. 2005;128(Pt 11):2732-41.
7. Zingler VC, Cnyrim C, Jahn K, Weintz E, Fernbacher J, Frenzel C, et al. Causative factors and epidemiology of bilateral vestibulopathy in 255 patients. Ann Neurol. 2007;61(6):524-32.
8. Zingler VC, Weintz E, Jahn K, Mike A, Huppert D, Rettinger N, et al. Follow-up of vestibular function in bilateral vestibulopathy. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2008;79(3):284-8.
9. Strupp M, Glaser M, Karch C, Rettinger N, Dieterich M, Brandt T. [The most common form of dizziness in middle age: phobic postural vertigo]. Nervenarzt. 2003;74(10):911-4.
10. Huppert D, Strupp M, Rettinger N, Hecht J, Brandt T. Phobic postural vertigo--a long-term follow-up (5 to 15 years) of 106 patients. J Neurol. 2005;252(5):564-9.
11. Hillier SL, McDonnell M. Vestibular rehabilitation for unilateral peripheral vestibular dysfunction. Clinical otolaryngology : official journal of ENT-UK ; official journal of Netherlands Society for Oto-Rhino-Laryngology & Cervico-Facial Surgery. 2011;36(3):248-9.
12. Brown KE, Whitney SL, Marchetti GF, Wrisley DM, Furman JM. Physical therapy for central vestibular dysfunction. Archives of physical medicine and rehabilitation. 2006;87(1):76-81.
13. Holmberg J, Tjernstrom F, Karlberg M, Fransson PA, Magnusson M. Reduced postural differences between phobic postural vertigo patients and healthy subjects during a postural threat. J Neurol. 2009;256(8):1258-62.



Autor:

Prof. Dr. med. Mark Obermann

Zentrum für Neurologie
Asklepios Kliniken Schildautal
38723 Seesen

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


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Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (19) Seite 52-57