Der folgende Beitrag soll einen Leitfaden für die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer Hausarztpraxis bei weiblicher Harninkontinenz vermitteln. Beantwortet werden soll auch die Frage, wann eine Überweisung zur spezialisierten Abklärung sinnvoll ist.

In der primären Abklärung von Harninkontinenz trägt der Hausarzt eine zunehmende Verantwortung und kann dieser mit hoher fachlicher Kompetenz Rechnung tragen. Die Inzidenz der Harninkontinenz variiert zwischen 14 und 69 %. Risikofaktoren sind Übergewicht, Alter, Schwangerschaft und Typ-2-Diabetes. Eine Basisdiagnostik ohne zusätzliches Equipment ist auch in der Hausarztpraxis leicht umsetzbar und die primäre konservative Therapie nebenwirkungsarm und effektiv. Da Hausärzte am besten über Begleiterkrankungen und Co-Medikationen der betroffenen Frauen informiert sind, können sie die Indikation für eine pharmakologische Therapie sicher einschätzen. Heil- und Hilfsmittel wie Vorlagen bzw. Kontinenztampons können budgetfrei verordnet werden und die Beckenbodengymnastik ist ohnehin bei allen Inkontinenzformen indiziert.

Diagnostische Maßnahmen

Ziel der Diagnostik ist es, zwischen den häufigsten Formen Belastungs- bzw. Drangharninkontinenz zu unterscheiden (vgl. Tabelle 1 und Abb. 1 und 2). Liegt eine Mischform vor, auch Mischharninkontinenz bezeichnet, sollte herausgefunden werden, welche Inkontinenzform den höheren Leidensdruck verursacht. Lassen sich die Symptome nicht sicher zuordnen, können eine extraurethrale Inkontinenz (Fisteln) bzw. Überlaufinkontinenz vorliegen. Hier ist die primäre Überweisung an eine Spezialsprechstunde sinnvoll.

Fragebögen zur Abgrenzung zwischen einer Belastungs- bzw. Drangharninkontinenz helfen für eine erste Differenzierung, die Auswertung eines Miktionstagebuches, welches nicht mehr als drei Tage geführt werden sollte, trägt dazu bei, sich auf eine Arbeitsdiagnose festzulegen.Wenn als Ursachen der Beschwerden ein Harnwegsinfekt bzw. eine Restharnbildung ausgeschlossen wurden, kann die konservative Therapie verordnet werden.

Verhaltenstraining

Schon das Führen eines Miktionstagebuches resultiert in einer Verbesserung der Kontinenz und Lebensqualität, was den guten Plazeboeffekt im Rahmen von Zulassungsstudien erklärt, indem die Betroffenen bewusst die Blasenfunktion reflektieren und ihr Trinkverhalten kontrollieren. Das Entleeren der Harnblase vor sportlichen Aktivitäten reduziert Inkontinenzepisoden unter Belastung. Bleibt die Patientin bei imperativem Harndrang stehen und konzentriert sich auf die Harnblase, lassen sich damit bis zu 50 % der Dranginkontinenzepisoden vermeiden.

Koffein kann eine Reizblase unterhalten. Es passiert eher selten, dass Patientinnen deshalb auf ihren Kaffee verzichten wollen. Darauf hingewiesen werden sollten sie trotzdem.

Kontinenzhilfen und Pessare

Die Verordnung von aufsaugenden Kontinenzhilfen ist nicht budgetiert und sollte immer angeboten werden. Viele Patientinnen wissen nicht um diese Möglichkeiten und bezahlen die Vorlagen selbst. Vaginaltampons (Pro Dry, Contam) üben über die Vagina eine sanfte Kompression gegen die Urethra aus und können in der Belastungssituation Harninkontinenzepisoden unterdrücken.

Physiotherapie

Die Bewusstseinsschulung für den Beckenboden geht einer Konditionierung voraus. Geschulte Physiotherapeuten untersuchen selbst vaginal, um den Beckenbodenstatus zu erheben. Danach wird entschieden, ob bei fehlender Kontraktionsfähigkeit primär die Elektrostimulation, bei geringer Kontraktionsfähigkeit das Biofeedbacktraining allein oder eine Biofeedback-getriggerte Elektrostimulation verordnet wird. Bei gutem Beckenbodenstatus ist oft das angeleitete Training der Muskulatur erfolgreich. Broschüren, die den Patientinnen das Training erklären, reichen allein nicht aus.

Medikamentöse Therapie der Belastungsharninkontinenz

Additiv zur Physiotherapie des Beckenbodens kann Duloxetin verordnet werden. Als Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sorgt es im Sakralmark für die Stimulation des N. pudendus, wodurch der Tonus der Urethralmuskulatur erhöht wird. Eine einschleichende Dosierung von zweimal 20 mg bis zum Erreichen der Standarddosis von 2 x 40 mg soll mögliche Nebenwirkungen reduzieren. Da Duloxetin ebenfalls als Antidepressivum eingesetzt wird, soll es nicht mit anderen Antidepressiva kombiniert werden. Nach Abschluss der Physiotherapie ist ein Auslassversuch gerechtfertigt, um zu sehen, ob die erreichte Kontinenz durch den konditionierten Beckenboden aufrechterhalten werden kann. Die dadurch zeitlich begrenzte Applikation von Duloxetin motiviert auch jüngere Patientinnen zur Einnahme.

Medikamentöse Therapie der überaktiven Harnblase (Reizblase)

Die antimuskarinerge Therapie ist seit Jahrzehnten der Klassiker der medikamentösen Therapie der Reizblase/Dranginkontinenz. Die "Uraltklassiker" sind Trospiumchlorid bzw. Oxybutynin. Beide haben weiterhin einen Stellenwert in der Therapie der Reizblase: Trospiumchlorid, da es durch die Molekülgröße (quartäres Amin) die Blut-Hirn-Schranke nicht passiert und daher keine zentralen Nebenwirkungen hat; Oxybutynin weiterhin durch die transdermale Applikation und damit Umgehung des First-Pass-Effektes der Leber, wodurch Nebenwirkungen wie die Mundtrockenheit auf Plazebo-Niveau gehalten werden können.

Oxybutynin, Fesoterodin, Tolterodin und Propiverinhydrochlorid brauchen als Retardpräparat nur einmal täglich eingenommen werden und zeichnen sich durch eine niedrige Nebenwirkungsrate durch die kontinuierliche Wirkstoff-Freigabe aus.

Fesoterodin muss im Vergleich zum pharmakokinetisch verwandten Tolterodin nicht über das Cytochrom P450 verstoffwechselt werden, was für Patientinnen mit Begleitmedikationen relevant ist. Darifenacin mit ausgeprägtem M3-selektiven Wirkansatz, wodurch zentrale und kardiale Nebenwirkungen reduziert und die Mundtrockenheit auf Plazebo-Niveau gehalten werden können, ist ebenfalls ein Retardpräparat. Solifenacin ist weniger M3-selektiv als Darifenacin, was Obstipationsbeschwerden, als eine relevante Nebenwirkung, reduzieren soll.

Aufgrund der pharmakokinetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Antimuskarinika und wegen der individuellen Verträglichkeiten der Patientinnen ist es sinnvoll, das breite Spektrum vorhalten zu können. Altersbedingt muss keine Dosisreduktion erfolgen.

Sympathomimetische Therapie

Seit Juni 2014 kann in Deutschland das Mirabegron als Beta-3-Sympathomimetikum zur Therapie der Reizblase verordnet werden. Durch die Relaxation der Detrusormuskulatur ohne Hemmung der Kontraktionsfähigkeit kann das Risiko einer Restharnbildung u. U. reduziert werden. Mundtrockenheit tritt auf Plazebo-Niveau auf, zentrale Nebenwirkungen scheinen ebenfalls nicht relevant zu sein. Als Retardpräparat werden tgl. 50 mg Mirabegron verordnet, die Reduktion auf 25 mg erfolgt bei eingeschränkter Leber- bzw. Nierenfunktion.

Wann überweisen?

Wenn man sich der Inkontinenzproblematik nicht annehmen kann, konservative Therapieoptionen kontraindiziert sind, keine oder eine unzureichende Wirksamkeit gezeigt haben bzw. von der Patientin nicht erwünscht sind, ist es sinnvoll, zu überweisen. Sicher kann ein zweites Anticholinergikum verordnet werden, wenn das erste nicht hilft, oder man wechselt zum Sympathomimetikum bzw. umgekehrt. Gerade bei Reizblasenbeschwerden sollte man dann aber die Basisdiagnostik durch eine Urethrozystoskopie ergänzen, um mögliche Urothelpathologien auszuschließen.


Literatur
Leitlinie für die "Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau"; AWMF-Register Nr. 015/005.
Leitlinie für "Die überaktive Blase" AWMF-Register Nr. 015/007
Tunn R, Hanzal E, Perucchini D: Urogynäkologie in Praxis und Klinik. 2. Aufl .De Gruyter, Berlin, 2009.



Autor:

Dr. med. Kathrin Beilecke

Klinik für Urogynäkologie
Deutsches Beckenbodenzentrum
St. Hedwig Krankenhaus
10115 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autorin erhält Referentenhonorare der Firmen Medtronic und AMS.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (8) Seite 16-18