Die Diabetes-Schulung ist unverzichtbar und bedeutet für Menschen mit Diabetes den Einstieg in die Diabetesbehandlung. Die Diabetes-Schwerpunktpraxen (DSP) finanzieren sich (und vor allem ihre Beraterinnen) vorwiegend dadurch, dass sie Menschen mit Diabetes schulen und dies abrechnen können. Beides ist im Moment ausgesetzt bzw. nicht möglich. Ende März hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Zusammenhang mit der Pandemie mit SARS-CoV-2 zeitlich befristete Sonderregelungen getroffen: Diabetespatienten, die in Behandlungsprogramme (DMP) eingeschrieben sind, müssen derzeit nicht verpflichtend an Schulungen teilnehmen. Dipl.-Psych. Prof. Dr. Bernhard Kulzer gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen zu diesem Thema. Er ist Vorsitzender der AG "Diabetes und Psychologie" sowie stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses "Qualität, Schulung und Weiterbildung" (QSW) der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).

Dürfen die Schulungen noch stattfinden?

Ja sicher, es gibt ja dringenden Schulungsbedarf wie etwa bei Neumanifestationen bei Typ-1- oder Typ-2-Diabetes, schweren Unter- oder Überzuckerungen. Zudem sollen Diabetespatienten ja auch wegen Corona gute Glukosewerte anstreben, da hilft eine Schulung natürlich schon. Zudem kann eine Schulung – das wissen wir aus Studien – auch diabetesbezogene Belastungen reduzieren. Weiterhin können in der Schulung auch Fragen im Zusammenhang mit Corona geklärt werden, was bei vielen Menschen mit Diabetes aktuell der Fall ist.

Gibt es bei DMP-Patienten nicht eine Verpflichtung zur Schulung?

Ja, in den DMP Typ-1- und Typ-2-Diabetes ist festgeschrieben, dass der Patient das Recht und die Verpflichtung zur Schulung hat. Nimmt er diese nicht wahr, kann er aus dem DMP wieder ausgeschrieben werden. Und ein teilnehmender Arzt hat die Verpflichtung, regelmäßig den Patienten im Hinblick auf mögliche Folgeerkrankungen zu untersuchen und dies zu dokumentieren. Allerdings hat der G-BA, der die Regulierungskompetenz für die DMP innehat, mit Beschluss vom 27.3.2020 die DMP-Anforderungen-Richtlinie wegen der COVID-19-Pandemie geändert. Für 2020 ist die Verpflichtung zur Schulung sowie die Dokumentation der Folgeerkrankungen für das zweite und dritte Quartal 2020 ausgesetzt, um unnötige Ansteckungsmöglichkeiten in der Praxis zu vermeiden.

Dürfen DMP-Schulungen trotzdem erfolgen?

Ja, in dem Beschluss steht, dass nach Abwägung der individuellen Risiken auch weiterhin die Schulung wie auch die Kontrolluntersuchungen stattfinden dürfen. Dies steht extra als eigener Absatz in dem Beschluss. Da die DMP ja 2011 durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz beschlossen wurden, haben diese den Charakter eines Gesetzes. Durch den Beschluss des G-BA soll sichergestellt werden, dass Patienten wie auch den DMP-Ärzten kein Schaden entsteht, wenn diese in Zeiten von Corona ihren Verpflichtungen nicht nachkommen können.

Kann Schulung auch digital erfolgen?

Wir arbeiten in unserem Forschungsinstitut FIDAM in verschiedenen Teams im Homeoffice nur per Videokonferenzen miteinander – das geht erstaunlich gut. Alle Teilnehmer eines Teams haben Zugang zu allen wichtigen Dokumenten und können darauf während der Videokonferenz zugreifen und sie sogar gemeinsam online bearbeiten. Alle Teilnehmer sind per Bild zu sehen, sogar jeweils groß, wenn jemand gerade spricht. Genauso kann ich mir die Schulung per Videokonferenz vorstellen: Die Schulungsteilnehmer bekommen einen Link, mit dem sie sich direkt in die Videokonferenz einwählen, und sind dann ohne Download eines bestimmten Programms oder einer App direkt in dem Chat. Dort empfängt sie die Schulungskraft und anschließend können alle Teilnehmer virtuell miteinander sprechen und sehen sich auch per Bild. Die Schulungskraft kann den Bildschirm mit den Schulungsfolien teilen, so dass alle Teilnehmer die jeweilige Schulungsfolie sehen können. Das ist relativ einfach und funktioniert gut. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Videoanbieter von der KBV zugelassen ist und damit eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung gewährleistet ist. Natürlich müssen die Datenschutzbedingungen eingehalten werden.

Gibt es schon Praxen, die per Videosprechstunde schulen?

Ja, ich weiß von einigen Praxen, die dies praktizieren. Sie berichten, dass die meisten darauf angesprochenen Patienten sehr froh sind, in dieser Situation nicht alleingelassen zu werden. Denn viele Patienten haben aus den Medien gehört, dass Menschen mit Diabetes ein besonderes Corona-Risiko haben und eine gute Stoffwechseleinstellung gerade jetzt empfehlenswert ist. Eine Schulung mit konkreten Hinweisen, wie dies umgesetzt werden kann und in der alle Fragen – auch zu Corona – kompetent beantwortet werden, kommt daher gerade zur rechten Zeit. Zudem haben viele Menschen aufgrund des Lockdowns Zeit für eine Schulung, was im Alltag oft sehr viel schwieriger ist.

Darf eine DMP-Schulung per Videosprechstunde erfolgen?

Das ist leider bislang nicht eindeutig geregelt. In dem Beschluss des G-BA steht kein Hinweis auf die Möglichkeit einer digitalen Schulung. Allerdings wurde in dem Anhörungsverfahren von dem Verband der Diätassistenten vorgeschlagen, die digitale Schulung explizit in der Beschlussfassung zu erwähnen. Dies wurde vom G-BA mit dem Hinweis abgelehnt, dass diese explizite Nennung gar nicht notwendig sei, da die jetzige Formulierung den Raum für flexible Lösungen für die Schulung lasse, da der G-BA davon ausgeht, dass Schulungen stattfinden werden, wenn das Ansteckrisiko vertretbar gering ist. Und noch deutlicher: Nur die Pflicht wird ausgesetzt, es wird keine Vorgabe bezüglich der Art und Weise der Schulung gemacht. Ich interpretiere das so, dass gerade digitale Schulungen, bei denen die Ansteckungsgefahr bei 0 % liegt, durchgeführt werden sollten und dies im Sinne dieses Beschlusses ist.

Können dann DMP-Schulungen abgerechnet werden?

Voraussetzung Nr. 1 ist, dass es sich um eine DMP-anerkannte Schulung handelt. Eine zweite Voraussetzung stellt m. E. eine Erlaubnis der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen dar, dass auch Schulungen per Videosprechstunde durchgeführt und auch entsprechend abgerechnet werden dürfen. Dies könnte analog des Beschlusses der KBV und des GKV-Spitzenverbandes erfolgen, nachdem im zweiten Quartal Ärzte und Psychotherapeuten unbegrenzt – ohne Limitation der Fallzahl und Leistungsmenge – Videosprechstunden durchführen dürfen. Um dies auch für die Schulung zu erreichen, sind jetzt die Diabetes-Organisationen und Berufsverbände gefordert.

Sind die Voraussetzungen für eine Videosprechstunde kompliziert?

Nein, überhaupt nicht! Auf der Webseite der Kassenärztlichen Vereinigung findet sich eine Liste der zugelassenen Anbieter, viele von ihnen sind im Moment sogar kostenfrei. Sie sind unabhängig von dem vorhandenen Betriebssystem, daher müssen auch keine Updates ausgeführt werden. Die Anmeldung geht fix, eine Kamera ist auch schnell installiert, Lautsprecher sind meist vorhanden. Beim Laptop können auch die installierte Kamera und Lautsprecher genutzt werden. Wichtig ist, dass die Videosprechstunde in einem vertrauten Raum stattfindet und die Einwilligung und Datenschutzerklärung des Patienten vorliegt. Geeignete Formulare stellen die zertifizierten Videoanbieter meist in dem Programm zum Versenden zur Verfügung. Die Schulungskraft verschickt dann die Einladung per Mail, SMS oder Brief und nennt den Zeitpunkt der Schulung. Es sind keine detaillierten EDV-Kenntnisse notwendig, das ist wirklich einfach.

Stellt die Videoschulung auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine gute Alternative dar?

Aber natürlich, schließlich erfolgt die Refinanzierung der Diabetesberater/-assistenten in Deutschland fast ausschließlich über die Schulungsziffern. Jetzt realisieren viele Praxen schmerzlich, dass es für andere Leistungen von Diabetesberatern/-assistenten – etwa in Bezug auf Diabetestechnologien, Qualitätsmanagement oder auch die Besprechung von Glukoseprofilen – keine adäquaten Abrechnungsziffern gibt. Würden jetzt die DMP-Schulungen im Jahr 2020 komplett ausfallen, wäre das für die Schulungskräfte und die diabetologischen Praxen eine mittlere Katastrophe. Denn dann stellt sich die Frage, wie die Schulungskräfte ansonsten eingesetzt und vor allem auch finanziert werden können. Je nach Größe und Ausrichtung der diabetologischen Praxis machen die Schulungsleistungen zwischen 10 und 30 % des Praxisumsatzes aus – nur um einmal die Größenordnung des wirtschaftlichen Problems zu benennen.

Was bedeuten ausgesetzte Diabetes-Schulungen für Patienten?

Für die Patienten wäre das eine große Katastrophe. Schließlich erfolgt ja eine Diabetes-Schulung vor allem bei einer Neueinstellung oder bei einem definierten Problem im Zusammenhang mit der Therapiedurchführung des Patienten. Wir können doch unseren Patienten nicht sagen, ihr solltet – auch wegen Corona – besser eingestellt sein, den Diabetes gut im Alltag managen und dann Patienten keine Hilfestellungen anbieten. Das wäre doch zynisch! Gerade jetzt brauchen uns doch die Patienten mit Diabetes, da müssen wir uns doch dafür einsetzen, dass die Schulung beim Menschen ankommt. Und wenn der Patient im Moment nicht zur Schulung in die Praxis kommen kann, dann kommt eben die Schulung zu ihm nach Hause. So einfach, und das geht!

Und nach Corona?

Wann ist nach Corona? Das weiß im Moment glaube ich keiner. Erwähnt werden muss natürlich, dass eine Präsenz-Gruppenschulung bei entsprechenden Vorkehrungen wie z. B. einem Mindestabstand der Teilnehmer, Händedesinfektion etc. natürlich auch jetzt möglich ist. Aber ich glaube schon, dass Corona uns auch ein wenig die Augen öffnet, welche technischen Möglichkeiten die Schulung und Therapie von Menschen mit Diabetes erleichtern. Und meiner Meinung nach gehört die Videosprechstunde und -schulung definitiv dazu. Der Kirchheim-Verlag und FIDAM arbeiten gerade daran, all unsere Schulungsprogramme für die Schulungskräfte wie auch die Patienten digital verfügbar zu machen. Damit wollen wir einen Beitrag für digitale Schulungsformen der Zukunft leisten, auch wenn die Abrechnungsmöglichkeiten diese noch nicht abbilden.◾

Wenn der Patient im Moment nicht zur Schulung in die Praxis kommen kann, dann kommt eben die Schulung zu ihm nach Hause. So einfach, und das geht!



Autor:

Dipl.-Psych. Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Vorsitzender der AG "Diabetes und Psychologie"
stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses "Qualität, Schulung und Weiterbildung" (QSW) der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (8) Seite 58-60