"Allgemeinmedizin behandelt nicht Krankheiten, sondern Menschen." Dieser Grundsatz besteht schon lange, aber wie wird dies in der Hausarztpraxis von heute umgesetzt? Dr. med. Georg Schwindl kann auf 36 Jahre als Hausarzt zurückblicken und seine Quintessenz ist auf jeden Fall nicht: Früher war alles besser. Praxis-EDV, elektronische Patientenakte oder HzV-Verträge – all diese Neuerungen waren gewöhnungsbedürftig – richtig umgesetzt können sie den Praxisalltag jedoch immens erleichtern. Wie Dr. Schwindl den heutigen modernen Standard im täglichen Praxisablauf nutzt und zu schätzen weiß, erzählt er in diesem Beitrag und kann vielleicht für einige Ärzte lohnenswerte Anregungen bieten.

Blickt man auf die vergangenen 4 Jahrzehnte zurück, so liegen im Vergleich die Herausforderungen in der Hausarztmedizin 2018 in diesen Bereichen:
  • Altersstruktur
  • Multimorbidität
  • Polypharmazie
  • im Besonderen wegen der vielen Menschen mit Übergewicht und metabolischem Syndrom
  • Patientencharaktere auffallend durch geringe Selbstfürsorge, vermindertes Körpergefühl, wenig Eigenverantwortung, hohes Anspruchsdenken, abnehmende psychische Belastbarkeit.

Um den veränderten Aufgaben gerecht zu werden, musste sich der Praxisalltag in den letzten Jahrzehnten den neuen Herausforderungen anpassen. Deshalb haben wir in unserem Praxissystem im Laufe der Jahre bestimmte Strukturen entwickelt, die uns hierbei unterstützen. Es geht dabei vor allem um den sinnvollen Einsatz der ärztlichen Arbeitszeit, um Delegation, geteilte Verantwortung im Team, Personalentwicklung und Teamentwicklung. Von den bei uns geschaffenen Strukturen in der Praxisorganisation soll hier die Rede sein.

EDV

Unsere EDV dient nicht nur der Abrechnung, dem Druck von Formularen und hier vor allem der Verordnung. Unsere EDV ist ein "Schatzkästlein". Hier findet sich alles vom, zum und über den Patienten, sie gewährleistet vollständige Dokumentation und Archivierung, sie ist wissenschaftliches Nachschlagewerk, enthält Patiententools und gewährleistet Kommunikation mit dem Patienten und mit Gesundheitspartnern (Fachärzten, Kliniken und KK, medizinischem Dienst, Versicherungen bei Formularanforderung). In der Zwischenzeit ist dies natürlich alles mit unterschriebener Datenschutzerklärung des Patienten abgesichert.

Elektronische Patientenkartei

Bei unserer Dokumentation in der Patientenkartei, die wir seit 1993 ohne einen Tag Ausfallzeit elektronisch führen, haben wir den Anspruch, die Dokumentation täglich so vollständig zu pflegen, dass jederzeit der Staatsanwalt in der Praxis auftauchen darf und dass alle dokumentierten anamnestischen und klinischen Befunddaten so hinterlegt sind, dass sie jederzeit für Arztbriefe, Anfragen, Berichte und Atteste genutzt werden können. Alles sollte korrespondenzreif hinterlegt sein. Genauso wichtig ist diese Vollständigkeit für in der Praxis mitarbeitende Ärzte und für die Praxismitarbeiterinnen bei Nachfragen der Patienten, bei Weiterverordnungen, bei der Formularerstellung. Dabei herrscht aber bei uns das Prinzip, dass jeder Patient über die Jahre vom selben Arzt betreut wird und nicht bei jedem Verlaufstermin wechseln muss.

Die wichtigste Rubrik der elektronischen Patientenkartei ist die Bemerkungszeile mit der Aufstellung von Allergien, Medikamentennebenwirkungen, Medikamenteninteraktionen, Medikamenten-CAVE-Bereichen, dann Pflegegrad und Grad der Behinderung, wichtigen Terminen für Kontrolluntersuchungen, letzter GU, letzter Krebsvorsorgeuntersuchung, letzter Koloskopie-Beratung. Weiterhin sind in einem systematisch verzweigten Button-System Informationen hinterlegt zu Abrechnungshinweisen, die jedes Quartal berücksichtigt werden müssen, sozialer, beruflicher und persönlicher Anamnese des Patienten, kardiovaskulären Risikofaktoren, Vorerkrankungen, Unfällen und Operationen. Für die Korrespondenz sind viele Vorlagen erstellt, die zum Teil automatisch ausgefüllt und dann von Hand ergänzt werden.

Darüber hinaus können wissenschaftliche Erhebungen und Statistiken erstellt werden. Das Beratungsergebnis für den Patienten wird je nach Fassungsvermögen knapp gehalten (es kommt uns darauf an, dass das Ergebnis behalten und umgesetzt werden kann). So oft wie möglich bekommt der Patient das Beratungsergebnis als handschriftliche Gesprächsnotiz mit, als Verordnungsplan oder als Patienteninfo aus unserem Patiententool, teilweise mit schematischen Darstellungen.

Sprechstundenassistenz

Eine wertvolle Sache haben wir über die Jahre beibehalten: Wir arbeiten seit 25 Jahren mit einer Praxismitarbeiterin als Sprechstundenassistenz. Dies bietet volle Konzentration des Arztes auf die Patienten in Anamnese, Untersuchung und Gespräch, volle Freiheit für die Dokumentation in der EDV im Hintergrund. Natürlich ist der Patient darüber informiert, ein Vier-Augen-Gespräch verlangen zu können. Die Sprechstundenmitarbeiterin weiß außerdem von sich aus, wann sie das Sprechzimmer besser verlässt. Durch diese Sprechstundenassistenz erlernen die Praxismitarbeiterinnen viele Handlungsabläufe, die Mitarbeiterin ergänzt spontan noch fehlende Punkte, überprüft bei der Verordnung routinemäßig hinterlegte Unverträglichkeiten und Allergien, weist auf eventuelle Interaktionen hin. Nach Abschluss des Beratungsgesprächs mit dem Beratungsergebnis übernimmt die Sprechstundenassistentin automatisch die vollständige Formularerstellung, die noch notwendigen Behandlungsmaßnahmen, vergibt den Folgetermin und begleitet zum nächsten Behandlungsplatz falls notwendig. Jede Mitarbeiterin, die lange in der Sprechstundenassistenz mitgewirkt hat, könnte alle Routineprobleme des Patienten in der gleichen Qualität wie der Arzt lösen.

Dieser Ablauf erleichtert auch die Konzentration des Arztes, falls es sich nicht nur um EIN Beratungsproblem handelt, sondern das zweite, dritte und vierte Problem auftaucht. Dieses Anspruchsverhalten der Patienten, dieses Ausnutzen der Sprechstundenzeit kennt jeder Hausarzt. Viele Patienten haben hier das Gefühl für das richtige Maß verloren.

In unseren Abläufen haben wir viele Standards, sowohl in der Anamnese, in der klinischen Untersuchung als auch in unserer Medizintechnik. Die Mitarbeiter kennen die Standards – diese sind aber auch sofort nachzulesen. Damit vermeiden wir den höheren Zeitaufwand für langes Überlegen.

Bürokratie

Bekanntermaßen kommen Anfragen als Formulare von Medizinischem Dienst, Krankenkasse, Berufsgenossenschaft, Rentenversicherung, Agentur für Arbeit, Versicherungen. Durch unsere vollständige Dokumentation können die Mitarbeiter oder das Praxisteam diese Anfragen so weit fertigstellen, dass der behandelnde Arzt nur die Endfassung bearbeiten muss. Die notwendigen Anlagen sind alle in der Archivierungssoftware gespeichert. Der Ausdruck kann ohne Sucharbeit erledigt werden. Dieser Arbeitsbereich ist auch der Bereich, wo Papier anfällt, der auch nicht wegzurationalisieren ist, während wir in der Kommunikation mit Krankenhäusern und Fachärzten ziemlich papierlos auskommen. Alle Word-Dokumente können papierlos übermittelt werden. Die Patienten haben vorher entsprechend der Datenschutzverordnung ihr Einverständnis mit unserer Kommunikation erklärt.

Patienten sind sehr anspruchsvoll, was Atteste und Bescheinigungen betrifft. Alles was in leicht veränderter Form öfters vorkommt, ist als Vorlage oder Textbaustein hinterlegt. Darum ist das Praxisteam in der Lage, diese Anforderungen vorzubereiten, und für den Chef bleibt dann die Endfassung.

Praxisteam

Kernaufgabe der Praxisleitung ist die Personalentwicklung im Team, alle im Team tragen Verantwortung für die Teamatmosphäre. Neben den Tagesaufgaben am Praxisempfang, in der Praxisverwaltung, in der Sprechstundenassistenz, im Behandlungsbereich und im Labor hat jede Mitarbeiterin einen oder mehrere Sonderbereiche mit eigener Zuständigkeit. Beispielhaft seien genannt: Kassenabrechnung, Privatabrechnung, Korrespondenz, Datenschutz, Materialwirtschaft, Betreuung der Medizintechnik, Betreuung der EDV-Anlage. Und das ganze Gefüge fließt immer zusammen in der wöchentlichen Teambesprechung. Ziel dabei: gleicher Wissensstand für alle, Fortbildung in medizinischen Themen, in der Patientenbetreuung sowie in den Änderungen des G-BA und der KV-Vorgaben. Sorge gilt dem Verordnungsverhalten, der Patientensicherheit und der Fehlervermeidung.

Arbeiten unter HzV-Versorgung

Seit 2008 sind zwei Drittel unserer Patienten in die Hausarztzentrierte Versorgung eingeschrieben. Diese verlässliche Vertragsgrundlage ermöglicht einen anderen Arbeitsstil, eine andere Arbeitsweise in der Patientenversorgung. Natürlich gab es viele Übergangsphasen mit unterschiedlichen Ziffernkränzen, die die Abrechnungsmodalitäten belasteten. Zwischenzeitlich ist aber eine deutliche Angleichung im Ziffernkranz erfolgt. Feinheiten müssen beachtet werden.

Es ergeben sich für uns folgende Vorteile:
  • Keine Fallzahlbegrenzung
  • Keine Budgets in der Honorarstruktur
  • Größter Honoraranteil ist Pauschale (die Pauschale erhöht sich mit der Morbidität. Da in unserer Praxisstruktur Multimorbidität die bestimmende Patientengruppe ist, ergibt das eine hohe Grundpauschale)
  • Deutlich weniger Leistungsziffern als in der EBM-Abrechnung
  • Deutlich weniger Abrechnungsausschlüsse

Honorar muss nicht durch Einzelleistungen rekrutiert werden, die Grundpauschale liegt so hoch, dass ein freies Arbeiten ohne Rücksicht auf Einzelleistungen möglich wird. Das ergibt eine freie Zeiteinteilung in der Patientenversorgung und eine Versorgung rein nach Patientenbedürfnissen (ein Patient braucht Medizintechnik, der andere lange Beratungszeit bei hohem Informationsbedürfnis, der nächste häufige Hausbesuche etc.). Der Zeitaufwand bei Multimorbidität wird honoriert, wobei sich die Morbidität in den unterschiedlichen Chronikerziffern ausdrückt. Der hohe Zeitaufwand Krankenhauseinweisung, Krankenhausentlassung, Koordination mit Fachärzten ist im Honorar abgebildet. Es entsteht ein Honorar, das den zeitlichen Einsatz abdeckt, ohne dass dafür Einzelleistungen rekrutiert werden müssen, auch wenn sie für Diagnostik und Behandlungsverlauf keinen Sinn machen. So schützen wir den Patienten vor unnötiger Diagnostik, nicht angemessenen, evtl. gefährlichen Behandlungen, wir betreiben quartäre Prävention.

Netzwerke sind von Bedeutung

Die Allgemeinarztpraxis kann nicht alle Patientenprobleme allein lösen. Sie ist auf zusätzliche medizintechnische Untersuchungen, auf Fachkompetenz bei Fachärzten und in Kliniken (Kliniken der verschiedenen Versorgungsstufen) angewiesen. In der Facharztversorgung sind es vor allem die Subspezialitäten, mit deren Hilfe Patientenprobleme in der Diagnostik vervollständigt werden. Wir haben für unsere Praxis in unserer Region ein Netzwerk mit Fachärzten, Kliniken, aber auch komplementären Berufen im Gesundheitswesen. In diesem Netzwerk übermitteln wir an den notwendigen Subspezialisten in einem übersichtlichen Arztbrief die bisher erhobenen anamnestischen Daten und klinischen Befunde, evtl. Zusatzuntersuchungen und eine Fragestellung. So kürzen wir beim Facharzt oder in der Klinik die Eingangsuntersuchung ab. Der direkte Kontakt macht die Zusammenarbeit effektiv. Das scheint der bessere Weg gegenüber unpersönlichen Terminservicestellen.

Ich bin froh und dankbar, die Patientenversorgung in unserer Praxis mit einem erfahrenen, einsatzbereiten und stets entwicklungsfähigen Team gestaltet zu haben. Sinn und Ziel dieser unserer Arbeitsmethodik in der Praxisorganisation ist Konzentration auf Anamnese und klinischen Befund, hier liegt der Schlüssel für 90 % der Patientenprobleme. Sinn und Ziel ist effektiver, ökonomischer Einsatz von Arztarbeitszeit. Der Arzt konzentriert sich auf seine Kernaufgabe: Anamnese, klinischer Befund, diagnostische Klassifizierung und Verordnung.



Autor:

Dr. med. Georg Schwindl

Arzt für Allgemeinmedizin – Psychotherapie
Lehrbeauftragter UKR Regensburg
92526 Oberviechtach

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (21) Seite 58-61