Die HIV-Infektion ist heute eine Erkrankung, die bei frühzeitiger Diagnosestellung und Therapie mit einer guten Lebensqualität und einer nahezu normalen Lebenserwartung einhergeht. Leider werden aber viele HIV-Infizierte erst spät getestet und behandelt. Hier gibt es noch Verbesserungspotenzial, und dabei spielen auch die Hausärzte eine wichtige Rolle.

Der Beginn der medikamentösen HIV-Therapie hat sich in den letzten Jahren immer weiter nach vorne verschoben. So empfehlen die aktuellen Deutsch-Österreichischen Leitlinien (www.daignet.de) den Start einer antiretroviralen Therapie (ART) beim asymptomatischen HIV-Patienten spätestens bei einer CD4-Zellzahl von 350 pro Mikroliter Blut (Norm: 500 – 1 200/µL). Unabhängig von der CD4-Zellzahl wird jeder symptomatische Patient sofort behandelt. Leider zeigt sich im klinischen Alltag, dass mehr als die Hälfte aller HIV-Patienten in Europa erst bei einer CD4-Zellzahl von weniger als 350/µL bzw. im symptomatischen Stadium eine ART beginnen [1] und dieser Anteil sich in den letzten 10 Jahren auch nicht verringert hat [2].

Fallbeispiel
Eine 59-jährige Patientin stellt sich mit einer HIV-Erstdiagnose im Schwerpunktzentrum vor. Der HIV-Test war eine Woche zuvor beim Hausarzt durchgeführt worden. Nach Vorliegen des positiven Ergebnisses war die Patientin umgehend zum Spezialisten überwiesen worden. Der Grund für den HIV-Test war eine AIDS-definierende Erkrankung beim Lebenspartner der Patientin gewesen, der zu diesem Zeitpunkt noch stationär behandelt werden musste. Die Patientin wusste ebenso wie der Partner selbst nichts von seiner HIV-Infektion. Anamnestisch lässt sich bei ihr ein allgemeiner Leistungsabfall und ein deutlicher Gewichtsverlust über den Zeitraum der letzten 6 Monate eruieren. Bei der körperlichen Untersuchung fällt eine ausgeprägte orale Candidiasis und eine seborrhoische Dermatitis auf. Die Laboruntersuchung ergibt eine Anämie mit einem Hämoglobin-Wert von 10,4 g/dL, eine Thrombozytopenie von 90 000 Thrombozyten/µL, leicht erhöhte Transaminasen (GOT 58 U/L, GPT 55 U/L, GGT 43 U/L) sowie eine deutlich beschleunigte Blutsenkungsgeschwindigkeit. Die CD4-Zellzahl liegt bei 93/µL, die HI-Viruslast bei 485 000 Kopien/mL. Es handelt sich also um einen schweren Immundefekt, der die sofortige Einleitung einer antiretroviralen Kombinationstherapie erforderlich macht. Die Patientin ist fassungslos. Sie sei doch immer regelmäßig zum Arzt gegangen und kann nicht verstehen, warum niemand an die Möglichkeit einer HIV-Infektion gedacht habe.

Die sogenannten „Late Presenter“ zeigen insgesamt ein schlechteres Therapieansprechen [3], eine höhere Nebenwirkungsrate bzw. Komplikationen der ART sowie ein höheres Risiko für Resistenzentwicklung [4]. Außerdem geht eine länger unbehandelte HIV-Infektion auch einher mit einem längeren Transmissionsrisiko [5] und höheren Kosten [6]. Das Ziel sollte daher immer die frühzeitige Diagnosestellung und rechtzeitige Therapie einer HIV-Infektion sein.

HIV-Prävalenz in Deutschland

Die geschätzte HIV-Prävalenz liegt in Deutschland für die Allgemeinbevölkerung bei 0,12 % [7]. In der Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), liegt die Prävalenz bei 5,3 % und kann in einigen Großstädten bis zu 15 % betragen.

Für die Population der intravenösen Drogengebraucher (IVDU) wird eine Prävalenz von 4 % angenommen und für die Gruppe der Migranten 2–4 %. In der heterosexuellen Allgemeinbevölkerung liegt die HIV-Prävalenz bei 0,02 % (Bluterstspender <0,01 %) (vgl. Tabelle 1).

Rund 80 000 Menschen mit HIV/AIDS leben derzeit in Deutschland. Davon sind etwa 14 000 (17,5 %) nicht getestet, kennen ihren Serostatus also nicht (vgl. Tabelle 2). Diese Menschen tragen ein hohes Risiko, erst als Late Presenter diagnostiziert zu werden. Ihr Anteil hat in den letzten Jahren zugenommen. Von den 3 500 HIV-Erstdiagnosen im Jahr 2013 lag bei 1 100 Testpersonen, also etwa einem Drittel, bereits ein fortgeschrittener Immundefekt mit CD4-Zellen kleiner 200/µL vor [8]. Ein hohes Risiko, erst als Late Presenter dia-
gnostiziert zu werden, haben bei uns bspw. ältere (>55 Jahre) Heterosexuelle [9].

Wann an einen HIV-Test denken?

Es gibt eine Reihe von sogenannten Indikatorerkrankungen, die an das mögliche Vorliegen einer HIV-Infektion und damit an eine entsprechende Diagnostik denken lassen sollten: Alle sexuell übertragbaren Erkrankungen, einschließlich der Hepatitiden B und C, maligne Lymphome, zervikale und/oder anale Dysplasien bzw. Karzinome, Herpes zoster, anhaltende Mononukleose-ähnliche Symptome, seborrhoische Dermatitis, unklare Leuko-/und Thrombopenien, die länger als 4 Wochen bestehen.

Diese Indikatorerkrankungen korrelieren unterschiedlich mit dem tatsächlichen Vorliegen einer HIV-Infektion. In einer 2013 publizierten Arbeit konnte gezeigt werden, dass das Vorliegen einer sexuell übertragbaren Erkrankung am stärksten mit einer HIV-Infektion assoziiert ist, gefolgt von Mononukleose-ähnlichen Symptomen und an 3. Stelle unklaren Leuko- und Thrombopenien [10].

Wie testen?

In Deutschland gilt für den HIV-Test die sogenannte Opt-In-Regelung, d. h. dass ein Test nur dann durchgeführt werden darf, wenn die Testperson nach entsprechender Aufklärung dem Test aktiv zugestimmt hat. Dieses Einverständnis kann mündlich erfolgen. Da der HIV-Test ein Antikörpersuchtest ist, ist er frühestens 6 Wochen nach einem erfolgten Risikokontakt sinnvoll und kann dann ggf. nach 12 Wochen wiederholt werden. Ist der ELISA-Suchtest (hohe Sensitivität) positiv, wird auf jeden Fall noch ein Western Blot (hohe Spezifität) als Bestätigungstest durchgeführt. Neben der Antikörpertestung kann bei Verdacht auf das Vorliegen einer frischen Infektion ein Virusnachweis im Blut mittels HIV-RNA-PCR bereits ca. 2 Wochen nach einem Risikokontakt vorgenommen werden.

Let´s talk about sex!

Wie kann die Testung und damit die "Früherkennung" von HIV in Deutschland verbessert werden? Hier könnten bspw. mehr niedrigschwellige Angebote für Menschen mit hohem Infektionsrisiko zum Einsatz kommen: Point-of-Care-Tests für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) und ihre Sexualpartner häufig wechseln. Darüber hinaus gilt es, im klinischen Alltag bei Patienten überhaupt an die Möglichkeit einer sexuell übertragbaren Erkrankung wie HIV zu denken.

HIV-Indikatorerkrankungen
  • Sexuell übertragbare Infektionen (STI)
  • Malignes Lymphom
  • Zervikale/anale Dysplasie/Karzinome
  • Herpes zoster
  • Hepatitis B oder C
  • Anhaltende Mononukleose-ähnliche Symptome
  • Unerklärte Leuko-/Thrombopenie (> 4 Wochen)
  • Seborrhoische Dermatitis

So verzichten ältere Frauen nach der Menopause auf zuvor eingesetzte Barrieremethoden, da eine Schwangerschaftsverhütung jetzt ja nicht mehr notwendig ist. In allen Patientengruppen sollten die Indikatorerkrankungen für HIV berücksichtigt werden. Eine besondere Herausforderung, aber eben auch eine Riesenchance ist die Integration der Sexualanamnese in das ganz normale Arzt-Patienten-Gespräch.

Sexuelle Gesundheit sollte ein fester Bestandteil der hausärztlichen Versorgung sein. Viele Menschen kennen die speziellen Testangebote von Beratungsstellen oder HIV-Schwerpunktzentren nicht und werden sie dementsprechend auch nicht nutzen. Sie müssen also dort beraten werden, wo sie ohnehin ärztlichen Rat suchen. Bei jungen Frauen beispielsweise ist häufig der Gynäkologe der einzige Arzt, den sie regelmäßig konsultieren.

Durchführung der HIV-Testung
Mandatory:
  • Der Test wird regelhaft ohne Einverständnis der Testperson durchgeführt.
Opt-Out:
  • Die Testperson muss den HIV-Test aktiv ablehnen.
Opt-In:
  • Die Testperson muss dem Test aktiv zustimmen.
  • Eine schriftliche Einverständniserklärung ist nicht erforderlich.

Um die HIV-Testung zu verbessern und die Zahl der Late Presenter in Zukunft zu reduzieren, haben sich die Akteure der deutschen HIV-Landschaft zusammengeschlossen und u. a. die Initiative „Let´s talk about sex!“ ins Leben gerufen. Unter Federführung der Deutschen AIDS-Hilfe werden im Rahmen des Projekts seit 2010 bundesweit Seminare für niedergelassene Ärzte angeboten, in denen nicht nur Wissen zur HIV-Infektion vermittelt wird, sondern darüber hinaus auch das Sprechen über Sex trainiert werden kann ( http://www.aidshilfe.de ). Bei Fragen zur HIV-Testung stehen in ganz Deutschland kompetente Berater und Schwerpunktärzte zur Verfügung. Die aktuellen Leitlinien zur Therapie der HIV-Infektion finden sich auf der Homepage der Deutschen AIDS-Gesellschaft unter http://www.daignet.de .



Autor:

Dr. med. Annette Elisabeth Haberl

HIVCENTER des Universitätsklinikums Frankfurt/Zentrum der Inneren Medizin
60590 Frankfurt/Main

Interessenkonflikte: Die Autorin hat Honorare für wissenschaftliche Vorträge und die Teilnahme an Advisory Boards von folgenden Firmen erhalten: Abbvie, Bristol-Myers Squibb, Gilead, Janssen, MSD und ViiV Healthcare.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (18) Seite 52-54