Das Wissen über HIV und AIDS sowie die Behandlungsmöglichkeiten dieser Krankheit haben seit den 80er Jahren sehr große Fortschritte gemacht. Dennoch werden immer noch 30 bis 50 % der HIV-Infektionen in Deutschland erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Dies birgt immense Gefahren für die Betroffenen als auch für deren Partner. 10 bis15 % der Patienten zeigen bei Erstvorstellung bereits AIDS-definierende Symptome. Häufig sind gerade die Patienten „Late Presenter“, die nicht zu den klassischen „Risikogruppen“ gehören und von sich selber und anderen als nicht gefährdet angesehen werden, wie z. B. Heterosexuelle und/oder ältere Patienten

Die Rate der sogenannten „Late Presenter“, bei denen die Erkrankung erst in einem fortgeschrittenen Stadium festgestellt wird, hat sich trotz zunehmender Aufklärung der Bevölkerung und guter Therapiefortschritte in den letzten Jahren kaum verändert. Laut aktueller Richtlinien der WHO werden Patienten als „Late Presenter“ definiert, wenn bei Erstvorstellung eine CD4-Zellzahl von unter 350 Zellen/µl vorliegt. Bei Werten unter 200 Zellen/µl spricht man von Patienten mit „advanced disease“, also bereits fortgeschrittener Krankheit. Bei 10 % aller neu diagnostizierten Patienten finden sich sogar weniger als 50 Zellen/µl. Eine späte Diagnose ist jedoch mit einer deutlich ungünstigeren Prognose insbesondere für das Überleben assoziiert.

Späte Diagnose – schlechtere Prognose

Je niedriger die Ausgangs-CD4-Zellzahl ist, desto länger und unvollständiger ist die Rekonstitution des Immunsystems. Somit sinkt die Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung eines funktionierenden Immunsystems. Abbildung 1 veranschaulicht eindrucksvoll den Einfluss einer niedrigen CD4-Zellzahl auf die Mortalität. Dieser Einfluss bleibt über Jahre bestehen. Nicht nur HIV-assoziierte Krankheiten treten bei stark immunsupprimierten Patienten vermehrt auf, sondern auch maligne Tumoren, die klassischerweise nicht in Verbindung mit HIV gebracht werden, oder Erkrankungen neurologischer Natur. Zudem leiden „Late Presenter“ häufiger unter Komplikationen in Form von schwereren Toxizitäten der antiretroviralen Therapie, da sie häufig eine komplexe Komedikation zur antibiotischen Prophylaxe und Therapie von opportunistischen Infektionen benötigen und von HIV geschädigte Organsysteme besitzen. In schwerwiegenden Fällen zeigt sich vermehrt ein inflammatorisches Immunrekonstitutions-Syndrom (IRIS), welches trotz wirksamer Therapie zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes des Patienten führen kann. Die beobachteten Phänomene resultieren dabei vermutlich aus einem sich erholenden Immunsystem, welches nun beginnt, Bakterien und Viren (nicht nur HIV) in infizierten Arealen bzw. Zellen zu eliminieren, welche sich zuvor ungehindert im Körper replizieren und ausbreiten konnten. Eine eigentlich als positiv zu wertende Entwicklung stellt sich zunächst als nachteilig für den Patienten dar, da aus der plötzlichen Reaktivierung des Immunsystems ausgeprägte inflammatorische Prozesse mit Fieberschüben resultieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Therapie versagt. Die Prognose ist meistens nicht schlecht, obwohl es sich um eine kritische Situation handelt.

Wann teste ich auf eine HIV-Infektion?

Die Gründe für eine späte Diagnose einer HIV-Infektion sind vielschichtig. Häufig ist es jedoch die Angst vor einer Stigmatisierung und ein schlechter Zugang zum Gesundheitssystem, weshalb Patienten den Arztbesuch hinauszögern. Aber auch Ärzte denken bisweilen zu selten an die Möglichkeit einer HIV-Infektion und testen daher nicht. Hilfreich für die Entscheidung zum Testen sind sogenannte Indikatorkrankheiten. Dazu gehören sexuell übertragbare Krankheiten, Infektionen mit Hepatitis-Viren, schwere Formen von Herpes-Infektionen (insbesondere Herpes zoster), humane Papillomaviren (Dysplasien oder Tumoren insbesondere im Zervical-/Analbereich und/oder Mund-Rachenraum) oder auch Dermatosen wie eine seborrhoische Dermatitis, Exantheme sowie maligne Lymphome. Bei Vorstellung eines Patienten mit einer dieser Erkrankungen sollte der behandelnde Arzt grundsätzlich an die Möglichkeit einer HIV-Infektion denken.

Wie teste ich auf eine HIV-Infektion?

Generell ist ein Nachweis von HI-Viren über ELISA-, quantitative PCR- und Western-Blot-Verfahren möglich. Die ersten zehn Tage nach Infektion besteht in der Regel noch nicht die Möglichkeit, eine HIV-Infektion nachzuweisen, weshalb man diesen Zeitraum auch als „diagnostisches Fenster“ bezeichnet. Nach zwei Wochen ist häufig schon die HIV-RNA im Blutplasma des Patienten nachweisbar und gilt somit als einer der frühesten Diagnose-Marker. Ein positiver Befund gilt als valider Nachweis einer stattgefundenen Infektion.

Üblicher ist die Suche nach dem virusspezifischen Antigen p24 mittels ELISA-Technik, welches durch die neueste Generation von Assays bereits um die dritte Woche herum detektiert werden kann. Antikörper gegen HIV sind, als ELISA- oder im Bestätigungstest per Western-Blot, im Laufe eines Monates nach erfolgter Infektion nachweisbar, können aber bis zu drei Monate brauchen, um sich in nachweisbaren Mengen zu entwickeln.

Unmittelbar nach bestätigter HIV-Infektion empfiehlt sich eine Lymphozyten-Subtypisierung mittels Durchflusszytometrie. Neben der absoluten Anzahl und dem relativen Anteil an CD4-T-Helferzellen hat die Anzahl an zytotoxischen CD8-T-Zellen sowie primär deren Relation (Ratio) zum Anteil der CD4-Zellen klinische Bedeutung. So spiegelt eine CD4/CD8-Ratio recht gut den Zustand des Immunsystems wider. Bei gesunden Personen liegt der Referenzbereich bei einer Ratio von eins bis vier. Bei Personen mit Autoimmunerkrankung zeigen sich jedoch häufig deutlich höhere Werte.

Einen weiteren relevanten Parameter stellt nicht nur die Anzahl an vorhandenen T-Zellen dar, sondern auch deren Aktivierungszustand. So geht eine aktive Virusvermehrung im Körper mit einer Aktivierung insbesondere von CD8-Suppressorzellen mit den Oberflächenmarkern CD38 und HLA-DR einher. Ihr Anteil liegt bei Patienten ohne nachweisbare Virusreplikation im Falle von CD8/38 in der Regel bei deutlich unter 50 % und bei CD8/DR zwischen 1 und 26 %. Studien belegen ein deutlich höheres Risiko einer Progression zu AIDS innerhalb von drei Jahren, wenn der Anteil aktivierter T-Zellen über diese Zeit oberhalb dieser Referenzwerte liegt und sich nicht z. B. durch eine Therapie reduzieren lässt [2].

Therapie starten! Aber womit?

Laut internationaler Richtlinien wird mittlerweile eine antiretrovirale Behandlung auch bei Patienten mit einer CD4-Zellzahl von mehr als 350 Zellen/µl generell empfohlen. Bei niedrigeren Werten besteht eine klare Indikation zur Therapie, egal ob symptomatisch oder asymptomatisch. Doch womit starten? Tabelle 1 zeigt die derzeit empfohlenen Regime (laut europäischer Leitlinien).

Die Auswahl eines Regimes sollte dabei individuell auf Basis der virologischen Effizienz antiretroviraler Substanzen, ihrer Toxizität, der Pillenanzahl im Hinblick auf die Adhärenz des Patienten zur Therapie, der Dosierung, des Interaktionspotenzials mit anderen Wirkstoffen, und bestehender Komorbiditäten des Patienten erfolgen. Darüber hinaus empfiehlt sich eine genotypische Resistenzanalyse des Virus vor Start der antiretroviralen Therapie. Denn in etwa 10 % aller therapienaiven Patienten sind primärresistente Viren nachweisbar [3].

Als erster Kombinationspartner wird nach Möglichkeit der Einsatz von zwei Wirkstoffen der Klasse der NRTIs empfohlen. Vor dem Einsatz von Lamivudin/Abacavir muss eine Untersuchung auf das Vorliegen des HLA-B57-01-Genotyps erfolgen, da dies mit dem Auftreten gefährlicher Hypersensitivitätsreaktionen assoziiert ist. Bei Tenofovir/Emtricitabin sollte im Verlauf auf Symptome einer Nephrotoxizität geachtet werden, die sich vor allem durch Glukose- und Albuminausscheidungen im Urin manifestiert und unter Umständen eine verminderte glomeruläre Filtrationsrate (GFR) nach sich zieht. Auch eine Störung des Phosphatstoffwechsels kann resultieren.

Beim Einsatz von Proteaseinhibitoren oder NNRTI, die primär über das Cytochrom-System CYP3A4 in der Leber metabolisiert werden, sollte auf mögliche Interaktionen mit Komedikationen, die ebenfalls über CYP3A4 verstoffwechselt werden, geachtet werden. Unter Umständen empfiehlt sich eine Spiegelmessung dieser Substanzen im Plasma des Patienten.

Alt werden mit HIV

HIV-positive Menschen können heute, nicht zuletzt durch die verbesserte Effizienz und Verträglichkeit antiretroviraler Substanzen, ein bedeutend höheres Alter erreichen als vor 20 Jahren. Dies zeigt eine Studie von Hogg et al., die auf der CROI 2012 im vergangenen Jahr präsentiert wurde [4]. Lag die durchschnittliche Lebenserwartung kurz vor der Jahrtausendwende bei Personen mit Erstdiagnose mit 20 Jahren bei 54,4 Jahren, so lag sie 2007 bereits bei 67,1. Die Zulassung der Substanzklasse der Integrase-Inhibitoren (Raltegravir, Eltigravir) sowie des Korezeptor-Antagonisten Maraviroc im Jahre 2008 sollte in Zukunft zusätzlich begünstigend zu dieser Entwicklung beitragen.

Ein Problem stellt jedoch weiterhin der hohe Anteil an "Late Presentern" im klinischen Alltag dar. So könnte unter Umständen heute schon die durchschnittliche Lebenserwartung und auch Lebensqualität von HIV-Infizierten vergleichbar sein mit der von Nicht-Infizierten, würde die Infektion nicht bei jedem zweiten oder dritten Patienten erst spät im Krankheitsverlauf diagnostiziert. ▪

Kasuistik: HIV-Infektion durch die Ehefrau?

Rüdiger (Name geändert), ein 44-jähriger Patient, der ohne weiteres keiner „HIV-Risikogruppe“ zuzuordnen ist, stellte sich im Juli 2012 in unserer Schwerpunkt-Praxis im PZB Aachen vor: Vom ersten Erscheinungsbild eher gut situiert, mit fester Arbeitsstelle im EDV-Bereich, keine Drogen, heterosexuell und verheiratet mit einer brasilianischen Frau, mit der er zwei Kinder hat (eines 3,5 Jahre und eines 16 Monate alt).

Laut Eigenauskunft fühle er sich seit zwei Jahren vermehrt abgeschlagen, es fehle ihm die Erholung. Seit fünf Monaten leide er des Weiteren nun schon unter chronischem Mundsoor. Im linkslateralen Bereich der Hüfte klagte er über Symptome einer Herpes-zoster-Infektion (Gürtelrose).

Da sich bei seiner Frau nun ein positiver HIV-Antikörperbefund bestätigt hatte, äußerte er die Befürchtung, unter Umständen ebenfalls HIV-infiziert zu sein. Nach Analyse in unserem hauseigenen Spezial-Labor bestätigte sich bei Rüdiger nun der zu erwartende Befund einer HIV-Infektion, die Schwere der vorliegenden Immundefizienz sowie die Quantifikation einer hohen Viruslast im Blut des Patienten.

Die CD4-Zellzahl betrug nur noch 3/µl und die Ratio 0,01 mit einer Viruslast von 297 807 Kopien/ml. Der Anteil an CD8/38-Zellen betrug 87 %, der der CD8/DR-Zellen 49 % . Bei seiner Ehefrau hingegen wurden zeitgleich 813 CD4-Zellen/µl (12,4 %) detektiert, was darauf hindeutet, dass seine Infektion länger zurückliegt (ein HIV-Antikörpertest während der Schwangerschaft war negativ gewesen). In jedem Fall deutet sein Immunstatus jedoch auf eine potenziell lebensbedrohliche und therapie-bedürftige Situation hin.

Bei Rüdiger wurden zwar keine resistenzrelevanten Mutationen im Virusgenom detektiert, jedoch ergab die in unseren Laboren durchgeführte Sequenzanalyse, dass ein HIV-Subtyp-D-Virus vorzuliegen scheint. Ein Genotyp, der vornehmlich in Blutisolaten aus Afrika vorzufinden ist.

Auf Anfrage erzählte der Patient nun, dass er 2003 für 18 Monate eine Beziehung zu einer Afrikanerin hatte. Nach sechs Wochen laufender Beziehung habe er einen HIV-Test machen lassen. Dieser stellte sich damals als negativ heraus. Als seine damalige Freundin im darauffolgenden Jahr aufgrund einer ihm nicht bekannten Todesursache verstarb, schöpfte er keinen Verdacht.

Bei Rüdigers Ehefrau wurde nun ebenfalls ein Subtyp-D-Virus diagnostiziert. Im phylogenetischen Abgleich mit unseren Datenbanken waren beide Viren nahezu identisch.

Unter Berücksichtigung aller bei uns im Rahmen der ersten Woche erhobenen Befunde, wurde bei Rüdiger sofort eine antivirale Therapie mit einer Kombination aus Tenofovir und Emtricitabine (Truvada®) + Isentress® eingeleitet. Aufgrund der parallel diagnostizierten Lungenentzündung musste der Patient stationär aufgenommen werden. Er erlitt zusätzlich ein akutes Nierenversagen und entwickelte unter Therapie eine IRIS-Symptomatik: Er hat trotzdem überlebt. Die Viruslast ist derzeit unter der Nachweisgrenze und die CD4-Zellen liegen bei 250/µl (22,4 %).



Literatur
1. When To Start Consortium, Sterne JA, May M, Costagliola D, de Wolf F, Phillips AN, Harris R, Funk MJ, Geskus RB, Gill J, Dabis F, Miró JM, Justice AC, Ledergerber B, Fätkenheuer G, Hogg RS, Monforte AD, Saag M, Smith C, Staszewski S, Egger M, Cole SR. Timing of initiation of antiretroviral therapy in AIDS-free HIV-1-infected patients: a collaborative analysis of 18 HIV cohort studies. Lancet. 2009;373(9672):1352-63
2. Liu Z, Cumberland WG, Hultin LE, Prince HE, Detels R, Giorgi JV. Elevated CD38 antigen expression on CD8+ T cells is a stronger marker for the risk of chronic HIV disease Progression to AIDS and death in the Multicenter AIDS Cohort Study than CD4+ cell count, soluble immune activation markers, or combinations of HLA-DR and CD38 expression. J Acquir Immune Defic Syndr Hum Retrovirol. 1997;16(2):83-92
3. Oette M, Reuter S, Kaiser R, Lengauer T, Fätkenheuer G, Knechten H, Hower M, Pfister H, Häussinger D; RESINA Study group. Epidemiology of transmitted drug resistance in chronically HIV-infected patients in Germany: the RESINA study 2001-2009. Intervirology. 2012;55(2):154-9
4. Hogg R, Samji H, Cescon A, Modur S, Napravnik S, Martin J, Gill J, Klein M, Kirk G, Gange S, and The North American AIDS Cohort Collaboration on Res and Design (NA-ACCORD) of IeDEA. Temporal Changes in Life Expectancy of HIV+ Individuals: North America. Oral Abstract. Session 40: CROI 2012

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. rer. nat. Frank Wiesmann


Kontakt:
Dr. rer. nat. Frank Wiesmann
Diplombiologe
PZB Aachen
Leiter: Dr. med. Heribert Knechten
Facharzt für Innere Medizin, Infektiologie
52062 Aachen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; (12) Seite 30-33