"Das können Sie in Ihrem Alter vergessen!" Dieser Satz ist heute immer häufiger falsch: Es gibt Leistungssportler über 80, und allein beim Berlin-Marathon 2016 gingen 60 Läufer mit 75 und älter an den Start. Der schnellste lief 3:50 Stunden. Das schaffen die wenigsten der jüngeren Läufer. Auch Schmerzen müssen beim älteren Menschen nicht immer mit altersbedingtem Verschleiß zu tun haben. Ein solches Kausalitätsbedürfnis kann verhängnisvolle Folgen haben. Es löst eine falsche Angst vor dem Alter aus und den Reflex, sich körperlich zu schonen – im Allgemeinen kein guter Rat.

Fallbeispiel

Tennis war der Lieblingssport von Dr. L. Noch mit 71 spielte er auf hohem Niveau Turniere. Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit als Arzt war die Schmerzforschung. Rückenschmerzen traten bei ihm gelegentlich auf, hielten ihn aber nicht davon ab, sportlich aktiv zu sein. Beruhigend war die wiederholte Remission der Beschwerden nach wenigen Wochen.

Dann kamen die Rückenschmerzen wieder. Trotz zusätzlicher sportlicher Aktivität verschwanden die Beschwerden diesmal nicht. Im Gegenteil: Sie steigerten sich, auch während er Tennis spielte. Zunächst irritiert, dann zunehmend besorgt, wandte er sich an Kollegen. MRTs und CTs zeigten Veränderungen der Wirbelsäule. Sie wurden mal als altersentsprechend, mal als fortgeschritten degenerativ beschrieben. Die Diagnose: Wirbelgleiten, Protrusionen sowie eine schwere Facettengelenksarthrose. Die Behandlungsempfehlungen reichten von dorsoventraler Stabilisierungsoperation über Injektionsbehandlungen mit Kortison bis zum "aggressiven Zuwarten". Er hörte auf, Tennis zu spielen, um den Verschleiß nicht zusätzlich zu verschlimmern – und suchte weiter nach Lösungen. Nach einem Jahr mit Versuchen unterschiedlicher Medikation bestanden die Schmerzen weiterhin unverändert, inzwischen als Dauerschmerz. Bei reduzierter körperlicher Aktivität konnte er die Beschwerden zwar ertragen, seine Lebensqualität war jedoch deutlich eingeschränkt.

Er entschloss sich, trotz erheblicher Skepsis, zu einer stationären multimodalen Schmerztherapie. Das Team aus Ärzten, Physiotherapeuten und Psychotherapeuten kam zum Ergebnis, dass die Kombination von Bewegungsmangel, Vorsicht und Angst zwar nicht ursächlich für den Schmerzbeginn, aber entscheidend für die jetzt bestehende Chronifizierung war. Durch Bewegungsangst und Schonung war eine ausgeprägte muskuläre Schwäche eingetreten.

Zwei Jahre nach der stationären Behandlung schilderte Dr. L. bei einer zufälligen Begegnung seine aktuelle Situation: Er spiele seit einigen Monaten wieder Tennis. Schmerzen plagten ihn seit einem Jahr nicht mehr. Nach der Behandlung habe er die erlernten Verfahren zur Kräftigung der stabilisierenden Muskulatur fortgeführt und durch eigene Übungen ergänzt. Bis zum spürbaren Rückgang der Beschwerden seien allerdings mehrere Monate vergangen. Die Schmerzen seien phasenweise immer mal stärker geworden. Es habe fast ein Jahr gedauert, bis er sicher war, jetzt langfristig eine Lösung des Schmerzproblems gefunden zu haben. Im Rückblick seien die verschiedenen Operationsempfehlungen für ihn nicht nachvollziehbar und wären vermutlich wenig erfolgversprechend gewesen.


Alter – Zahl oder Zustand?

Das Bedürfnis, im höheren Alter aktiv und selbstbestimmt zu leben, nimmt zu. Für immer mehr ältere Menschen ist es selbstverständlich, unabhängig, mobil und gesund zu sein. Statt einer Einteilung in Alterskategorien nach Lebensjahren werden ältere Menschen aufgrund ihrer psychophysischen Leistungsfähigkeit als unabhängig, hilfs- oder pflegebedürftig beschrieben ("Go-Gos", "Slow-Gos" oder "No-Gos").

Schmerzen gelten – neben zunehmenden kognitiven und sensorischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen – als selbstverständliche Begleiterscheinung des Alterungsprozesses. Sätze wie "Ich bin verbraucht" oder "Meine Wirbelsäule ist verschlissen" fallen bei Patienten regelmäßig. Bedrohlich sind dabei weniger die Schmerzen, sondern damit einhergehende Behinderungen und eine mögliche Hilfs- und Pflegebedürftigkeit als Folge dieser Beschwerden. An erster Stelle ängstigend sind chronische Rückenschmerzen und einhergehende Einschränkungen – im Alltag und bei der Teilhabe am sozialen Leben.

Während viele Beschwerden im Lebensverlauf wieder zurückgehen, bestehen bei Schmerzen im Alter besondere Ängste vor einer möglichen Persistenz und Progredienz. Werden Schmerzen zudem als unabwendbare Symptome des Alterungsprozesses bewertet, verstärken sich "Angst vor dem Alter" und Schmerz wechselseitig [8].

Verschleiß – Schmerzursache oder Normalbefund?

Akute Schmerzen kennen fast alle Menschen. Auch chronische bzw. länger anhaltende Beschwerden sind keine Ausnahme: Kopf-, Gelenk- und Beinschmerzen sind weit verbreitet. Rückenschmerzen sind dabei mit einer Lebenszeitprävalenz von über 80 % am häufigsten. Mit zunehmendem Alter scheint die Zahl der Betroffenen zu steigen. Auch in medizinischen Lehrbüchern wird dies auf die "typischen" Veränderungen knöcherner Strukturen, unter anderem der Wirbelsäule, zurückgeführt. Beim Röntgen, bei CT oder MRT sind diese "Verschleißerscheinungen" darstellbar. Degeneration, vulgo "Verschleiß", zeigt sich allerdings bei bildgebenden Verfahren für die Wirbelsäule schon bei jungen Menschen in erstaunlichem Ausmaß [5]. Diese Veränderungen werden nicht nur bei älteren Personen häufig vorschnell als Beleg für die Schmerzen gewertet [9]. Mögliche Folgen zeigt das Fallbeispiel (vgl. Kasten).

Schmerz als "Alterskrankheit" – selbst erfüllende Prophezeiung

Der Fall ist typisch für den Umgang mit Rückenschmerzen, vor allem bei älteren Patienten: Der Schwerpunkt der Diagnostik liegt auf der Bildgebung, die Schmerzangaben und deren Intensität werden damit scheinbar bestätigt. "Schwere degenerative Veränderungen" lassen auf Irreversibilität und Progredienz schließen. Damit wird jedoch der therapeutische Rahmen eingeengt: Bei Schmerz wegen degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule wäre "eigentlich" nicht Aktivität, sondern Schonung die Therapie der Wahl. Werden die körperlichen Veränderungen durch den Alterungsprozess als ein unvermeidbar mit Schmerz und Funktionsverlusten verbundener Vorgang (miss-)verstanden und als Botschaft vermittelt, sind Schonung und reduzierte Aktivität eine logische Konsequenz. Dies kann mögliche ängstlich-katastrophisierende Erwartungen älterer Menschen weiter verstärken. Passivität und Bewegungseinschränkungen führen dann zu tatsächlichen Verlusten an Kraft und Ausdauer [6].

In den letzten Jahren finden sich zunehmend Studien, bei denen Alter kein Ausschlusskriterium mehr ist. Vielmehr werden gezielt Häufigkeit und Verlauf von Schmerzen auch im höheren Lebensalter untersucht. Lange Zeit wurde die Entwicklung von Rückenschmerzen bei Menschen über 60 unzureichend differenziert. Bis zu diesem Alter wird über steigende Zahlen von Rückenschmerzen berichtet und somit eine nahezu gesetzmäßige weitere Zunahme erwartet. Dieses "Alltagswissen" ist schon bei jüngeren Patienten mit erheblichen Ängsten verbunden: "Ich bin doch erst 50, wie schlimm wird der Rücken mit 70 sein …"

Graue Haare machen kein Kopfweh

Die Vermutungen von Patienten (und Behandlern) zur Schmerzentwicklung im Alter entsprechen nicht den aktuellen Daten. Bei einigen Schmerzarten (Gelenkschmerzen) ist eine deutliche Zunahme feststellbar, während andere (z. B. Kopf-, Gesichts- und Bauchschmerzen) erheblich zurückgehen [2]. Auch Untersuchungen zur Häufigkeit von Rückenschmerz, bei denen Menschen von 18 bis über 80 befragt wurden, zeigen einen unerwarteten Rückgang des Anteils schmerzgeplagter Menschen vor allem in der ältesten Gruppe – der mit dem stärksten "Verschleiß". Verglichen mit allen jüngeren Altersgruppen haben Menschen über 80 die wenigsten Rückenschmerzen [7]. Patienten und Behandler, so die Ergebnisse einer Vielzahl von Studien, tendieren dazu, lang gehegte Fehleinschätzungen beizubehalten. Zu Rückenschmerzen im höheren Lebensalter ist inzwischen belegt:

  • Schmerzen nehmen nicht grundsätzlich mit dem Alter zu. Rücken- und Kopfschmerzen werden weniger.
  • Die sichtbaren Veränderungen der Wirbelsäule sind in der Regel einfache Alterserscheinungen und keine Ursache von Rückenschmerzen.

Allerdings: Mit höherem Alter steigt der Anteil von sehr stark eingeschränkten Menschen. In der Altersgruppe unter 40 Jahren sind etwa fünf Prozent der Betroffenen durch Rückenschmerzen erheblich behindert. Diese Zahl verdoppelt sich bis zum 80. Lebensjahr. Der Umgang mit Schmerzen spielt dabei eine wichtige Rolle: Das Ausmaß von Behinderung ist bei Schmerz, wie schon erwähnt, eng mit Befürchtungen, Ängsten und Einstellungen verbunden [4]. Die Denkweisen von Behandlern (Ärzten, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Pflege) und Patienten ergänzen sich dabei oft in verhängnisvoller Weise: Die Wahrscheinlichkeit, dass aktivierende Maßnahmen vorgeschlagen werden, nimmt mit zunehmendem Alter von Patienten dramatisch ab.

Gleichzeitig schätzen auch Patienten mit zunehmendem Alter die Bedeutung von Aktivität immer geringer ein. Die Überzeugung, dass ausschließlich Schmerzmittel als Behandlungsoption sinnvoll sind, nimmt mit höherem Alter sowohl bei Patienten als auch Behandlern zu [7]. Die Verordnung von Opioiden ist so zur Routine geworden. Problematisch gestalten sich hier, neben der begrenzten Wirksamkeit über längere Zeiträume, die nachteiligen Auswirkungen auf Aktivität, Stimmung und kognitive Leistungsfähigkeit. Nebenwirkungen und Interaktionen von Medikamenten führen zu Schwindel, Gangunsicherheit und motorischen Einschränkungen.

Konsequenz für die Praxis

Trainingsprogramme speziell für ältere Menschen zielen vor allem darauf ab, Gangsicherheit und Balance zu fördern und damit der Sturzangst und Stürzen entgegenzuarbeiten. Der entscheidende Teil der Behandlung beginnt mit dem ersten Kontakt beim Hausarzt. Hier werden wichtige Weichen gestellt: Frühzeitige beruhigende Aufklärung und Vermeidung verunsichernder Abklärung, Anregungen zum strukturierten Aufbau von Aktivitäten im Alltag und zum Erhalt der Mobilität sind notwendige Hilfen, um Funktionseinschränkungen und Bewegungsängste abzubauen sowie Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Lebensqualität älterer Menschen zu fördern [6].

Die aktuelle Übersichtsarbeit einer britischen Autorengruppe gibt folgende Empfehlungen [3]:

  • Trainingseinheiten für körperliche Aktivität bei älteren Patienten sind evidenzbasiert und sollten grundsätzlich Teil des Behandlungsplans bei (Rücken-)Schmerzen sein.
  • Inhalte: Training von Gleichgewicht, Flexibilität, Ausdauer und Kraft in einer für den Patienten geeigneten Mischung.
  • Zur Entwicklung eines Programms sollten Physiotherapeuten diese spezifischen Inhalte mit den Patienten erarbeiten und Informationen zu Biomechanik, Gleichgewichtstraining und Aktivitätsaufbau vermitteln.

Auch Morbidität und Mortalität werden durch Aktivität im Alter günstig beeinflusst [1]. Körperliche Aktivierung sollte mit einem weiteren wichtigen Aspekt gepaart werden: Grenzen respektvoll zu definieren und gemeinsam realistische Schritte und Ziele zu entwickeln – eine Herausforderung für diese Patientengruppe. Die Physiotherapeutin Dagmar Seeger, die in der Universitätsklinik Göttingen schon viele Jahre mit Gruppen älterer Menschen arbeitet, schlägt vor, die Klassifikation Go-Gos, Slow-Gos und No-Gos um eine vierte Gruppe zu erweitern: Menschen, die nicht nur aktiv, sondern sportlich ausgesprochen leistungsfähig sind – wie ältere Personen, die mit über 90 noch regelmäßig das goldene Sportabzeichen ablegen oder sogar Marathon laufen. Diese nennt sie (durchaus respektvoll) "Speedys".


Literatur:
1. Arem, H., Moore, S. C., & Patel, A. (2015). Leisure time physical activity and mortality: A detailed pooled analysis of the dose-response relationship. JAMA Internal Medicine, 175, 959-967.
2. Basler, H. D. (2016). Schmerz und Alter. In B.Kröner-Herwig, J. Frettlöh, R. Klinger, & P. Nilges (Eds.), Schmerzpsychotherapie (8. Aufl.) 2017, 673-686 Berlin: Springer.
3. Carrington Reid M, Eccleston C, Pillemer K. Management of chronic pain in older adults. BMJ 2015, 350
4. Darlow B, Fullen BM, Dean S, Hurley DA, Baxter GD, Dowell A. The association between health care professional attitudes and beliefs, clinical management, and outcomes of patients with low back pain: A systematic review. Eur J Pain 16 (2012) 3–17
5. Hald, H. J., Danz, B., Schwab, R., Burmeister, K., & Bähren, W. (1995). Röntgenologisch nachweisbare Wirbelsäulenveränderungen asymptomatischer junger Männer. Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der bildgebenden Verfahren, 163, 4-8.
6. Laekeman, M. & Leonhardt, C. (2015). Einstellungen und Überzeugungen von Behandlern bei älteren Patienten mit Rückenschmerzen. Schmerz, 29, 362-370.
7. Macfarlane, G. J., Beasley, M., Jones, E. A., Prescott, G. J., Docking, R., Keeley, P. et al. (2012). The prevalence and management of low back pain across adulthood: results from a population-based cross-sectional study (the MUSICIAN study). Pain, 153, 27-32.
8. Mattenklodt, P. & Leonhardt, C. (2015). Psychologische Diagnostik und Psychotherapie bei chronischen Schmerzen im Alter. Schmerz, 29, 349-361.
9. Werber A, Schiltenwolf M. Treatment of Lower Back Pain – The Gap between Guideline-Based Treatment and Medical Care Reality. Healthcare (2016) 4, 44


Autor:

Dr. rer. nat. Paul Nilges

Johannes Gutenberg Universität Mainz
55131 Mainz

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (16) Seite 72-74