Kein Essen, kein Trinken, keine Zigaretten, kein Geschlechtsverkehr – und das von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang: So sehen die Vorgaben für den Fastenmonat Ramadan aus, der wieder vom 27. Mai bis 24. Juni 2017 stattfindet. Zwar müssen Muslime mit Diabetes nicht fasten. Viele Gläubige wollen den Ramadan aber trotz chronischer Erkrankung einhalten. Wer als Kranker fastet, muss sich allerdings den umfassenden Verboten beugen, die auch seine Erkrankung direkt betreffen. So gilt die Einnahme von Tabletten als Bruch des Fastengebots, ebenso die Injektion von Medikamenten wie Insulin bei Diabetes. Keine leichte Aufgabe für den Hausarzt. Störfaktor ist vor allem der verschobene Essrhythmus, der sich bei Diabetespatienten stark auf den Blutzuckerspiegel auswirken kann.

Kasuistik

Ein 48-jähriger Palästinenser (170 cm/64 kg, BMI 22,1) wurde wegen starken Gewichtsverlusts von über zehn Kilo, Polydipsie und Polyurie in die Klinik eingewiesen. Dort zeigte die Kontrolle seines Blutzuckers einen Wert von über 500 mg/dl (27,8 mmol/l). Die weitere Labordiagnostik (GAD, IA2-AK) ergab die Diagnose: Typ-1-Diabetes.

Eine Bolusinsulintherapie wurde initiiert und eine Schulung mit Hilfe eines Dolmetschers der Klinik begonnen. Der Patient ist Analphabet. Eine Diabetesschulung, die beim Typ-1-Diabetes ja unumgänglich ist, war aufgrund der Sprachbarriere nicht möglich. Die weitere Diabetes-Einstellung und -Therapie sollte im Zentrum erfolgen. Der HbA1c-Wert lag eingangs bei 9,2 %. In der Einzelschulung wurde er auf die nötige Eigeninitiative beim Diabetesmanagement hingewiesen. Dazu zählen vor allem die intensiven prä- und postprandialen Blutzuckerkontrollen und die richtige Einschätzung der eingenommenen Kohlenhydratmenge, um sie entsprechend mit Insulin abzudecken. Der Patient verstand trotz Analphabetismus, worum es ging. Er begann, intensiv seinen Blutzucker zu messen und mit der Insulindosis – je nach Mahlzeit – zu experimentieren. Da eine Dokumentation der Werte im Blutzuckertagebuch nicht möglich war, wurde sein Messgerät ausgelesen.

Während der Diabetesersteinstellung bei der Erstmanifestation wollte der Patient das Ramadanfasten mitmachen. Zwar wurde ihm dringend davon abgeraten – mit Hinweis auf die Gefahren der Hypoglykämie und der Ketoazidose. Der Diabetespatient fastete trotzdem. Schwerwiegende Komplikationen traten nicht auf. In den Folgejahren wurde er beim Fasten durch entsprechende Einzelschulung und Therapieumstellung begleitet. Stoffwechselentgleisungen oder schwere Hypoglykämien ließen sich so vermeiden. Seine Diabeteseinstellung lag über die Jahre nicht im Zielbereich (HbA1c zwischen 6,5 und 7,5 %), sein Stoffwechsel entgleiste jedoch nicht erheblich.

Etwa vier Millionen Muslime leben in Deutschland, das sind knapp fünf Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen fasten während des Ramadan. Geschätzte rund 100.000 Muslime sind in der Bundesrepublik an Diabetes erkrankt. Mehr als 50 Millionen muslimische Patienten mit Typ-2-Diabetes nehmen jährlich weltweit am Fastenmonat teil.

Eine neue Studie in 39 Ländern mit über 38.000 Muslimen zeigt, dass sich 93 % der Personen an die Vorgaben des Ramadan halten. Und fast 43 % der Patienten mit Typ-1-Diabetes sowie knapp 79 % der Typ-2-Diabetiker fasten für mindestens 15 Tage im neunten Monat des islamischen Mondkalenders – so die Ergebnisse der Epidemiology of Diabetes and Ramadan Study (EPIDIAR) von 2001.

Beim Fasten verändern sich die Essgewohnheiten des Menschen deutlich. Abends isst er zwei Drittel und nachts ein Drittel der täglichen Kalorienmenge. Dieser verschobene Tag-Nacht-Rhythmus kann bei Diabetes zum medizinischen Problem werden. Denn während des Fastens ist das Risiko für Hypoglykämien um das Siebenfache erhöht, für schwere Unterzuckerungen mit Krankenhausaufenthalt liegt es fünfmal so hoch [1, 2, 3]. Auch die EPIDIAR-Studie, die die Fastenrisiken von Diabetikern in 13 Ländern außerhalb Europas untersuchte, hat gezeigt, dass unter Diabetespatienten während des Ramadan Unterzuckerungen bis zu fünfmal häufiger vorkamen als sonst.

Heute gibt es eine ganze Reihe medizinischer Veröffentlichungen, die sich mit dem Fasten von Diabetikern im Ramadan befassen. Dies unterstreicht, dass man inzwischen das Dilemma des Fastenmonats für Menschen mit Diabetes erkannt hat und besser versteht.

So haben die USA bereits ein Konsenspapier zum Diabetesmanagement im Ramadan publiziert. In Europa allerdings gibt es nur vereinzelte Ansätze, die muslimischen Bürgern mit Diabetes helfen wollen, diese Phase gesundheitlich besser zu überstehen. Eine Art Ramadan-Schulung für Diabetiker, entwickelt von einer englischen Arbeitsgruppe, wurde kürzlich von der Vereinigung europäischer Diabetesexperten ausgezeichnet. Dank der darin empfohlenen Verhaltensmaximen verringerte sich bei den Schulungsteilnehmern nicht allein die Zahl der gefährlichen Hypoglykämien – die Diabetiker profitierten sogar vom geregelten Fasten: Sie verloren an Gewicht ("Diabetologia", Bd. 52, S. 367) [4, 5, 7].

Häufige Probleme in der Arztpraxis

Ärzte stehen häufig vor dem Problem, dass Patienten, die fasten wollen, nichts von ihrem Vorhaben erzählen. Sie trauen sich nicht, weil sie davon ausgehen, dass Mediziner das Fasten generell verbieten würden. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, weil auch einige multimorbide Patienten fasten wollen. Für das ganze Praxisteam ist das eine große Herausforderung. Zudem gibt es Patienten, die – ohne mit ihrem behandelnden Arzt darüber zu sprechen – einfach auf eigene Faust fasten und die Therapie eigenmächtig umstellen oder sogar komplett verweigern.

Strukturiertes Vorgehen beim Hausarzt

Für Diabetiker, die ernsthaft fasten wollen, gelten die gleichen Hinweise wie für gesunde Menschen: Es sollte abgeklärt sein, dass keine Erkrankungen an Herz, Kreislauf oder Nieren vorliegen, die gegen eine Fastenkur sprechen.

1. Absprache mit dem behandelnden Arzt/Diabetologen

Fragen Sie den Patienten aktiv nach der Absicht, im Ramadan zu fasten, und klären Sie, ob seine gesundheitliche Situation dies erlaubt.

2. Probefasten

Raten Sie dem Patienten, auf Probe zu fasten. So können Sie herausfinden, ob er es körperlich auch schafft.

3. Blutzuckerwerte öfter kontrollieren

Die Blutzuckerkontrollen sollten vor dem Fastenbrechen nach Sonnenuntergang und zwei Stunden nach dem Essen vor Sonnenaufgang und tagsüber erfolgen. Treten Symptome der Unterzuckerung oder der Blutzuckerentgleisung auf, sollten weitere Blutzuckermessungen erfolgen.

4. Therapieumstellung planen

Metformin, DPP-4-Inhibitoren und GLP-1-
Analoga: Diese Diabetesmedikamente können in der Regel unverändert weiter genommen werden. Sollten die Kalorienmengen deutlich reduziert werden, müsste man auch an der Metformindosis sparen. In Studien sind hier keine schweren Hypoglykämien aufgetreten.

Sulfonylharnstoffe bergen ein erhöhtes Risiko für Hypoglykämien und somit für kardiovaskuläre Komplikationen. Diese sollten während des Ramadan nur vor dem Fastenbrechen genommen werden. Wegen der Unterzuckerungsgefahr sind Blutzuckerkontrollen vor allem tagsüber empfohlen.

SGLT-2-Inhibitoren gelten nach aktueller Studienlage während der Fastenzeit als sicher, allerdings sind sie bei Patienten, die dehydrieren können (durch schwere körperliche Arbeit), kontraindiziert. Die Tabletten sollten nach Sonnenuntergang eingenommen werden.

Basalinsulin: NPH-Insulin oder Langzeitinsulin-Analoga wie Insulin detemir (Levemir®) und Insulin glargin (Lantus®) sollten zunächst in unveränderter Dosis weiter gegeben werden.
Die Applikation erfolgt unverändert zur Nacht, also nach dem Sonnenuntergang. Bei zweimaliger Gabe eines Basalinsulins sollte nach Sonnenuntergang die normale abendliche Dosis gespritzt werden, vor Sonnenaufgang nur die Hälfte der morgendlichen Dosis. Patienten, die während des Ramadan abnehmen, brauchen in der Regel im Verlauf weniger Basalinsulin.

Bolusinsulin: Das Bolusinsulin muss normalerweise modifiziert werden. Nach Sonnenuntergang kann man die Dosis verabreichen, die sonst vor dem Frühstück gespritzt wird. Die Mittagsdosis lässt man ganz weg. Die bisherige Insulinmenge vor dem Abendessen wird um 50 % reduziert und vor Sonnenaufgang gespritzt oder komplett gestrichen, wenn auf die entsprechende Mahlzeit verzichtet wird. Dies ist oft der Fall.

Auch den Wunsch von Typ-1-Diabetikern, während des Ramadan zu fasten, sollte der Arzt respektieren. Ausgenommen sind jedoch Diabetespatienten mit bestimmten Risiken. Dazu zählen häufige Unterzuckerungen, eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung, ein schlecht eingestellter Diabetes, ein Brittle-Diabetes, nicht vorhandene Compliance sowie die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit, den Blutzucker nach den aktuellen Empfehlungen selbst zu messen. Die entsprechende Leitlinie ist auf Englisch im Internet unter folgender Adresse zu finden:
idf.org/guidelines/diabetes-in-ramadan[6].

5. Gesunde Ernährung und ausreichende Trinkmenge

Weisen Sie den Patienten darauf hin, sich gesund zu ernähren, abends und nachts nicht zu viel zu essen und dabei reichlich zu trinken, um den Körper vor Austrocknung zu schützen.

Schnittstelle Hausarzt – Spezialist: ambulant und stationär

Patienten, die mit oralen Antidiabetika gut eingestellt sind, kann der Hausarzt für den Ramadan umstellen. Intensiviert behandelte Diabetiker sowie Patienten mit dekompensiertem Diabetes sollten vom Spezialisten bei der Umstellung betreut werden. Eine stationäre Behandlung ist nur in seltenen Fällen nötig.


Literatur:
(1) Al-Arouj M et al. Recommendations for management of diabetes during Ramadan: update
(2) Al-Arouj M et al. The effect of vildagliptin relative to sulphonylureas in Muslim patients with type 2 diabetes fasting during Ramadan: the VIRTUE study. Im Rahmen der 73. Scientific Sessions der American Diabetes Association vorgestelltes Poster (1112-P).
(3) Babineaux SM, Toaima D, Boye KS, et al. Multi-country retrospective observational study of the management and outcomes of patients with Type 2 diabetes during Ramadan in 2010 (CREED). Diabet Med 2015;32:819-28.
(4) Salti I et al. Results of the epidemiology of diabetes and Ramadan 1422/2001 (EPIDIAR) study. Diabetes Care 2004;27:2306-11.
(5) Salti I, Benard E, Detournay B, et al. A population-based study of diabetes and its characteristics during the fasting month of Ramadan in 13 countries: results of the epidemiology of diabetes and Ramadan 1422/2001 (EPIDIAR) study. Diabetes Care 2004;27:2306-11
(6) www.idf.org/guidelines/diabetes-in-ramadan
(7) www. faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/diabetes-risiko- ramadan-1839324.html



Autor:

Dr. med. Mahmoud Sultan

Facharzt für Innere Medizin
Diabetologe DDG
10997 Berlin

Interessenkonflikte: Honorare für eine Beratertätigkeit und Vorträge von Novo, Berlin-Chemie, Novartis, Astra Zeneca/BMS, Sanofi, Lilly, Honorare für Beiträge in DÄB; Thieme Verlag.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (5) Seite 44-49