Ein gesundes Herz schlägt nicht immer im gleichen Rhythmus, sondern passt sich der aktuellen Belastung variabel an. Dies zeigt die Herzratenvariabilität (HRV), die man mit gängigen EKG-Geräten auch in der Hausarztpraxis messen kann. Obwohl sich mit der HRV kardiovaskuläre Ereignisse zuverlässig voraussagen lassen, wird sie derzeit noch nicht von den Kassen bezahlt und muss als IGeL abgerechnet werden. Über eine nichtinvasive Messmethode mit hoher Aussagekraft für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die Fähigkeit des Herzens, den zeitlichen Abstand von einem Herzschlag zum nächsten belastungsabhängig zu verändern, wurde schon im dritten Jahrhundert beschrieben [1]. Man nennt dies Herzratenvariabilität (HRV) oder Herzfrequenzvariabilität. Bei einer HRV-Analyse werden die Abstände zwischen den R-Zacken normaler Herzaktionen erfasst und deren Varianz ausgewertet (NN-Intervall, auch Beat-to-Beat-Intervall). Ein gesundes Herz schlägt also nicht wie ein Uhrwerk, sondern unterliegt dem Einfluss des autonomen Nervensystems: Sowohl sympathische als auch parasympathische Fasern beeinflussen die Herztätigkeit, spürbar durch eine Beschleunigung des Pulses beim Einatmen und durch eine Verlangsamung beim Ausatmen. Diese Respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) ist bei jungen, gesunden Menschen deutlich ausgeprägt und gibt Aufschluss über die Herzgesundheit eines elastischen Herzens sowie die sympatho-vagale Balance. Eine Vielzahl von Einflüssen (z. B. Stress, körperliche Belastung, Erkrankungen, Medikamente) kann diese Balance empfindlich stören (vgl. Abb. 1).
Nach Mück-Weymann stellt die Variabilität des Herzschlags einen Globalindikator für den psychischen und physischen Zustand des Menschen in seiner Lebenswelt dar [2]. Auch in der Neonatologie gehört die Erfassung der HRV zur Routinediagnostik, u. a. zur Diagnostik der Neugeborenensepsis [3]. Einige Fachgesellschaften haben die HRV-Analyse bereits in ihre Leitlinien aufgenommen (z. B. Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin, Programm für nationale Versorgungsleitlinien). In der Allgemeinmedizin ist sie zur Risikostratifizierung von kardiovaskulären Erkrankungen, der diabetischen Neuropathie und der Depression sinnvoll.
HRV als prognostischer Marker
Generell geht eine eingeschränkte Regulation des vegetativen Nervensystems mit einer geringeren Lebenserwartung einher. Ursächlich kommt hierfür z. B. Stress in Betracht, der durch chronische Überaktivierung des sympathischen Nervensystems als Risikofaktor für die Koronare Herzkrankheit (KHK) gilt [4]. Neben dieser Sympathikus-Überaktivierung stellt auch die erniedrigte parasympathische Aktivität einen Risikofaktor für eine beginnende oder bereits vorhandene KHK dar [5, 6]. Ein reduzierter Vagotonus zeigt sich typischerweise durch spezielle Veränderungen in der HRV-Spektralanalyse sowohl bei der KHK als auch bei deren Progress, der Angina Pectoris. Kotecha und Kollegen konnten zeigen, dass niedrige Low-Frequency-HRV-Werte einen hohen prädiktiven Wert für das Vorliegen einer obstruktiven KHK haben, und dass ein linearer Zusammenhang zwischen reduzierter HRV und Schweregrad besteht [5].
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Beim stattgehabten Myokardinfarkt ist die HRV reduziert und die Sympathikus-Aktivität erhöht. Die Komplikationsrate für tachyarrhythmische Ereignisse, Re-Infarkte und die kardiale Mortalität erhöht sich bei diesen Patienten um das Drei- bis Vierfache [2]. Durch den gesteigerten Sympathikotonus kommt es häufig zu einer Herzfrequenz-Erhöhung, die prognoseentscheidend ist [7, 8, 9, 10]. Auch eine Herzinsuffizienz führt zu erhöhter Herzfrequenz [11] und zu einer reduzierten HRV [12]. Nach einem akuten Myokardinfarkt hat die Erfassung der HRV prädiktiven Wert für schwerwiegende Komplikationen, das Versterben im Krankenhaus [13] und die Re-Infarktwahrscheinlichkeit [14]. Die Relevanz der HRV als prognostischer Marker nach akutem Herzinfarkt konnte in einer Vielzahl von großen Kohorten-Studien untermauert werden [z. B. 15, 16]. Herzinfarktpatienten, die zusätzlich an einer Depression leiden, haben eine deutlich schlechtere Prognose (sowie eine eingeschränkte HRV) als Patienten ohne Depression [17]. Auch die Mortalität von Bypass-Patienten steht in Zusammenhang mit reduzierter HRV [18]. Auffälligkeiten im Low-Frequency-Bereich (LF) des Frequenzspektrums gelten außerdem als Prädiktor für Vorhofflimmern [19]. Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass der Hypertonus mit einer reduzierten HRV assoziiert ist [20]. Aktuell konnten Jørgensen und Kollegen in einer Langzeit-Multicenter-Studie untermauern, dass der Parameter "Dyx" (nichtlineare Dichte-Analyse, s. u.) einen robusten Prädiktor für kardiovaskuläre Mortalität darstellt – unabhängig von der linksventrikulären systolischen Funktion [21]. Die HRV ist demnach ein wichtiger Risikofaktor für Arteriosklerose, Arrhythmien, Herzversagen, Myokardinfarkt und plötzlichen Herztod [16]. Eine eingeschränkte Herzratenvariabilität erhöht das kardiovaskuläre Risiko [21, 22, 23, 24] (vgl. Tabelle 1).
HRV-Werte unterliegen zahlreichen Einflussfaktoren, die bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen (vgl. Abb. 2). Kinder und Jugendliche haben eine ausgeprägte Herzratenvariabilität; diese nimmt mit zunehmendem Alter ab. Frauen bis zum 30. Lebensjahr zeigen niedrigere Werte als Männer. Nach dem 50. Lebensjahr verschwinden diese Gender-Effekte jedoch [25]. Internistische Erkrankungen bewirken zumeist eine Reduktion der HRV. Dies ist u. a. der Fall bei KHK, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Metabolischem Syndrom und Diabetes mellitus. Schilddrüsenüber- und -unterfunktionen gehen ebenfalls mit eingeschränkter HRV einher. Depressive Patienten haben häufig eine erhöhte HF und eine reduzierte HRV (sympatho-adrenerge Überaktivierung) [26]. Abendlicher Alkoholgenuss beeinträchtigt zudem die nächtliche Aktivierung des Parasympathikus, was zu einer abgeschwächten RSA und zu einer nur langsam absinkenden Pulsrate führt [25]. Eine Vielzahl von Medikamenten beeinflusst ebenso die Herzratenvariabilität: Einschränkend wirken z. B. trizyklische Antidepressiva, SSRI und atypische Neuroleptika. Betablocker können zu unterschiedlichen Effekten führen, Diuretika und Alpha-Rezeptorenblocker (Vasodilatatoren) steigern die HRV.
Zur Erfassung der Herzfrequenzschwankungen ("Beat-to-Beat-Aufzeichnung") gibt es verschiedene Systeme. Auf Basis von Kurz- oder Langzeitregistrierungen von EKG- oder Pulskurven erfolgt eine computergestützte Analyse. Aufgrund der besseren Messgenauigkeit sind EKG-Kurven den Pulskurven vorzuziehen. Kurzzeitmessungen haben hohe prädiktive Aussagekraft bzgl. kardiovaskulärer Risikostratifizierung [5]. Mit Langzeitmessungen kann die Tag-Nacht-Regulation beurteilt werden. Heute gängige Langzeit-EKG-Geräte verfügen über entsprechende Module zur HRV-Analyse. Neben stationärem oder mobilem EKG kommen auch Brustgurtsysteme mit direkter Speicherung (z. B. Suunto Memory Belt) oder Pulsuhren (nicht nach dem MPG abrechenbar) zum Einsatz (z. B. Polar). Brustgurtsysteme sind anfällig für Bewegungsartefakte; mobile Alternativen sind Holter®-EKGs oder das eMotion EKG (Bluetooth-basiertes 1-Kanal-Drahtlos-EKG-System) bzw. der HRV-Scanner (z.B. von BioSign), ein tragbares Gerät, das die HRV sowohl über Pulssensor (Ohrclip) als auch EKG misst. Bei der Gerätewahl ist auf eine hohe Abtastrate zu achten (idealerweise 1.000 Hz). Von der HRV-Messung per Smartphone und entsprechenden Apps sollte deshalb abgesehen werden.
Analyse der HRV
Die Auswertung der HRV erfolgt im Anschluss an die Messung über die PC-gestützte Analyse. Es gibt drei Analyseverfahren (vgl. Abb. 3):
1. Zeitbezogene Analyse – Messung der Schwankungen der Herzfrequenz von Schlag zu Schlag über die Zeit. Statistische Parameter:
- SDNN: Standardabweichung aller NN-Intervalle als Variabilitätsmaß (Synonym SDRR), Indikator für Gesamtvariabilität
- RMSSD: Quadratwurzel des Mittelwerts der Summe aller quadrierten Differenzen zwischen benachbarten NN-Intervallen, Indikator für Kurzzeitvariabilität, Parasympathikusaktivität, Atmung (RSA)
- E-IDifferenz der höchsten und niedrigsten Herzfrequenz eines Atemzyklus
- HFmean mittlere Herzfrequenz
2. Frequenzbezogene Analyse – Spektralanalyse (z. B. Fast-Fourier-Transformation), also Häufigkeitsdarstellung der Frequenzbänder. Hier werden drei wichtige Frequenzbereiche unterschieden, die unterschiedliche physiologische Prozesse darstellen:
- VLF-BandVery Low Frequencies < 0,04 Hz | Sympathikus (u. a. Thermoregulation)
- LF-Band Low Frequencies 0,04 – 0,15 Hz | Baroreflexschleife (v. a. Blutdruckregulation)
- HF-Band High Frequencies 0,15 – 0,4 Hz | Parasympathikus, Atmung (RSA)
- LF/HF LF/HF-Ratio | Sympatho-vagale Balance
3. Nicht-lineare Analyse – Analyse von Poincaré-Plots, also zwei- oder mehrdimensionalen Punktwolkendarstellungen:
- SD1 (ms) Breite der Punktwolke | schnelle Änderungen der Herzfrequenz
- SD2 (ms) Länge der Punktwolke | Langzeit-HRV
- Dyx | Dichte der Punktwolke
Richtlinien für HRV-Analysen wurden bereits 1996 von der Task Force of the European Society of Cardiology und der North American Society of Pacing and Electrophysiology erstellt [27].
Fazit für die Praxis
- die prognostische und prädiktive Aussagekraft der HRV ist gut untersucht.
- Die HRV unterliegt einer Vielzahl von externen Einflüssen (z. B. Koffein, Betablocker)
- Die HRV ist bei einer Vielzahl von Erkrankungen eingeschränkt (z. B. Depression, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen)
- HRV-Analyse:
- - wird von führenden Fachgesellschaften in Leitlinien empfohlen
- - ist eine nichtinvasive, schmerzfreie, schnelle und unkomplizierte Untersuchung
- - RSA 1 Minute, Kurzzeit-HRV ca. 5 Minuten, Langzeit-HRV bis zu 24 Std. möglich
- - zur Risikostratifizierung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen geeignet
- - kann delegiert und als IGeL abgerechnet werden
- - ist mit den gängigen EKG-Geräten durchführbar, ggf. mit Zusatzsoftware
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (19) Seite 60-64