Jeder von uns hat sich schon mal über Entscheidungen von Krankenkassen oder Ämtern geärgert, die sich auf die Beurteilung ihres Medizinischen Dienstes berufen. Häufig vermissen wir dann die Nähe zum Patienten bei Entscheidungen am "grünen Tisch". Wie aber sind die Aufgaben und Vorgehensweisen unserer Kollegen, die solche Beurteilungen und Gutachten erstellen?

Die meisten Ärzte in Medizinischen Diensten haben eine Gebietsarztbezeichnung. Viele verfügen auch über die Zusatzweiterbildung "Sozialmedizin", für die ein Jahr Weiterbildung und 360 Stunden Grund- und Aufbaukurs benötigt werden. So werden Grundzüge aller Sozialversicherungszweige kennengelernt und auch Grundlagen der Rehabilitation vermittelt. Dadurch sollen die Ärzte in die Lage versetzt werden, sozialmedizinische Gutachten auch in Bereichen zu erstellen, die nicht direkt zu ihrer Fachgebietsbezeichnung gehören.

MDK – Medizinischer Dienst der Krankenversicherung

Der MDK berät alle gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen. Die Grundlage für die Tätigkeit des MDK findet sich im Sozialgesetzbuch (SGB) V in den §§ 275–283. Finanziert wird der MDK durch eine Pro-Kopf-Umlage, die alle Kassen leisten müssen; der MDK ist fachlich unabhängig, die Dienstaufsicht obliegt i. d. R. dem Sozial- oder Gesundheitsministerium. Im Jahr 2015 hat der MDK 5,8 Mio. Beratungen für die Krankenversicherung (GKV) und 2,1 Mio. für die Pflegeversicherung durchgeführt [1]. Mehr als 40 % der GKV-Beratungen bezogen sich auf Krankenhausleistungen, ein knappes Viertel auf Arbeitsunfähigkeiten und 14 % auf Vorsorge- bzw. Rehamaßnahmen. Etwas über 40.000 Beratungen bezogen sich auf Ansprüche gegenüber anderen, z. B. der Arzthaftung. Ein weiteres Feld macht die Beratung bezüglich Hilfsmittelversorgung aus; hier hat der MDK auch den gesetzlich festgelegten Auftrag, die Patienten zu beraten (§ 275,3).

Begutachtungsprozess

Ist aus Sicht der Krankenversicherung eine MDK-Stellungnahme erforderlich, ist folgender Ablauf üblich:

  1. Krankenkasse erteilt Beratungsauftrag
  2. Der Gutachter prüft, ob eine Aktenlagenbeurteilung ausreicht oder eine persönliche Untersuchung notwendig ist. Auch ein Gutachten nach Aktenlage ist ein "vollwertiges" Gutachten mit denselben juristischen Konsequenzen wie bei persönlicher Untersuchung.
  3. Der Gutachter entscheidet, ob er alle entscheidungsrelevanten Unterlagen hat, im Zweifel fordert er diese an. Häufig wird er die Anforderung an die Krankenkasse delegieren. Hierbei gibt es seit dem 1.1.2017 ein verbindliches Verfahren zur Anforderung: Die Krankenkasse übersendet ein ausgefülltes Formblatt, welches als Deckblatt den zugehörigen Berichten und Unterlagen beigelegt und direkt an den zuständigen MDK geschickt wird.
  4. Der Gutachter erstellt das Gutachten und kommt zu einer Empfehlung. Gleichgültig, um welchen Sachverhalt es geht, wird der Gutachter feststellen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung/Leistung vorliegen oder nicht.
  5. Die Krankenkasse trifft aufgrund der gutachterlichen Empfehlung den eigentlichen Leistungsentscheid. Dieser kann durchaus von der MDK-Empfehlung abweichen, die Kasse ist nicht zwingend an die Empfehlung gebunden.

Widerspruchsverfahren

Im MDK ist das Vorgehen bei Widersprüchen (hier für die Arbeitsunfähigkeit, analog wird bei anderen Gebieten vorgegangen) klar geregelt [2]:

  • Der Widerspruch des Versicherten oder Einspruch des beteiligten Arztes wird von der Kasse dem MDK vorgelegt.
  • Der Erstgutachter prüft die Unterlagen. Ändert er seine Meinung und kann dem Widerspruch abhelfen, gehen die Unterlagen zurück zur Kasse.

Andernfalls schreibt der Erstgutachter eine Stellungnahme und die Akten werden einem anderen Gutachter im MDK zum Widerspruchsgutachten vorgelegt. Dessen Empfehlung ist dann bindend für den Vertragsarzt. Dabei soll der Zweit-Gutachter ein Arzt des Gebietes sein, in das die Leistung oder die Behandlung der vorliegenden Erkrankung fällt.

Rentenversicherung

Die Rentenversicherung unterhält einen eigenen ärztlichen Dienst. Die Rentenversicherung beauftragt aber auch immer wieder externe Gutachter, häufig niedergelassene Ärzte.

Im Jahr 2015 haben die Gutachter Stellungnahmen für 1,6 Mio. Anträge auf medizinische Reha und über 400.000 auf berufliche Reha bearbeitet [3]. Einen weiteren großen Anteil machen die Renten-Gutachten zur Beurteilung des Rest-Leistungsvermögens aus.

Agentur für Arbeit

Auch die Agentur für Arbeit unterhält einen eigenen ärztlichen Dienst. Hier arbeiten sowohl hauptamtlich angestellte Ärzte als auch freiberuflich tätige. Typische Fragestellungen betreffen die Rest-Leistungsfähigkeit von chronisch kranken arbeitslosen Menschen. Hier muss geprüft werden, für welche Tätigkeiten der Arbeitslose noch geeignet ist, ob eine medizinische oder berufliche Reha notwendig ist oder vielleicht eher der 2. Arbeitsmarkt (z. B. Werkstatt für Behinderte) angebracht ist. Häufig muss der Dienst klären, ob eine Kündigung seitens des Arbeitnehmers krankheitsbedingt notwendig/geboten war und somit keine Leistungssperre über drei Monate erfolgt.

Schwerbehindertenrecht

In Landratsämtern oder Versorgungsämtern werden Entscheidungen über die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft, den Grad der Behinderung und die Merkzeichen getroffen. Hier ist es von Bundesland zu Bundesland und manchmal von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich organisiert. Teilweise werden die Gutachten von dafür angestellten Ärzten erstellt, teilweise über das den Landratsämtern zugeordnete Gesundheitsamt oder auch von angestellten Ärzten des Versorgungsamts. Häufig werden auch externe Gutachter hinzugezogen.

Viele Köche …

Es kann vorkommen, dass ein Patient kurz hintereinander von verschiedenen Ärzten begutachtet wird, z. B. zuerst im Rahmen der Arbeitsunfähigkeit vom MDK, bei Arbeitslosigkeit vom Arzt der Agentur für Arbeit und schließlich wegen eines Rentenantrages auch von einem Gutachter der Rentenversicherung. Leider passiert es dann nicht selten, dass die Gutachter zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen und Sozialgerichtsverfahren klären müssen, wie genau die Leistungsfähigkeit des Patienten beschaffen ist und welcher Sozialversicherungsträger zuständig ist.

Solches Durcheinander könnte vermieden werden, wenn es genau EINEN sozialmedizinischen Beratungs- und Begutachtungsdienst für alle Zweige der Sozialversicherung gäbe, aber das ist leider Zukunftsmusik.

Gesetzliche Grundlagen des MDK
  • Die ärztlichen Gutachter sind "nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen" und "nicht berechtigt, in die ärztliche Behandlung einzugreifen" (§ 275,5). Die Gutachter dürfen sich daher nicht von den Wünschen der Krankenkassen leiten lassen und sollen aus rein medizinischen Erwägungen ihr Gutachten erstellen.
  • Der MDK hat dem Arzt, über dessen Leistung er eine gutachtliche Stellungnahme erstellt hat, das Ergebnis mitzuteilen (§ 277,1).

    Leider erfolgt dies nur in seltenen Fällen. Wie soll ein Arzt einer MDK-Empfehlung widersprechen, wenn er gar nicht weiß, dass eine erstellt wurde? Sollten solche Mitteilungen regelmäßig nicht versandt werden, ist eine Beschwerde beim MDK-Geschäftsführer sinnvoll; wenn dies nicht hilft, eine Beschwerde bei der dienstaufsichtsführenden Behörde.



Autor:

Dr. med. Jürgen Herbers

Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin;
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (9) Seite 68-69