Auch das Vorhandensein einer Patientenverfügung, einer Vorsorge- oder Betreuungsverfügung sichert nicht automatisch die Umsetzung des Patientenwillens. Das Konzept der Gesundheitlichen Vorausplanung (Advance Care Planning, ACP) setzt auf einen dialogischen Prozess anstatt punktueller Festlegungen, damit auch sich ändernde Behandlungspräferenzen des Patienten verwirklicht werden können.
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts von 2009 [1] wurde das Selbstbestimmungsrecht nicht einwilligungsfähiger Patienten gestärkt. Der Bundesgerichtshof hatte in einem Urteil vom 17. März 2003 [2] zwar bereits die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen betont. Formulierungen in der Urteilsbegründung legten jedoch nahe, dass für Einstellung oder Nichtergreifen medizinischer Maßnahmen die sichere Einschätzung eines irreversibel tödlichen Verlaufs der Grunderkrankung notwendig sei. Für die medizinische Praxis war diese Wortwahl nicht tauglich. Auch legte dies eine Reichweitenbeschränkung nahe, welche der Gesetzgeber 2009 deutlich ausgeschlossen hat. Im Gesetzestext heißt es ausdrücklich, das Verfügte gelte unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. So sollte das Vertrauen darin gestärkt werden, dass theoretisch für Patienten mit einer Patientenverfügung die Wahrung ihrer Patientenautonomie im gleichen Umfang ermöglicht wird wie bei Patienten, mit welchen noch kommuniziert werden kann. Voraussetzungen dafür sind klare, auf die Behandlungssituation zutreffende Vorausverfügungen oder konkrete Anhaltspunkte für die Ermessung des mutmaßlichen Patientenwillens sowie die Achtung der Patientenautonomie durch die Behandler.
In den Medien diskutierte Einzelfälle, die in Deutschland vergleichsweise hohe Rate von Anlagen zur künstlichen Ernährung bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten und schwierige Prozesse bei der Einstellung dieser Maßnahme hatten zu Misstrauen in die medizinische Versorgung beigetragen. Daher kann das Gesetz unmittelbar als vertrauensbildend in Hinblick auf Rechtssicherheit bei Missachtung des Patientenwillens sowie auf dessen Durchsetzungsmöglichkeit gesehen werden [3]. Obwohl eine ärztliche Beratung des Verfassers nicht vorgeschrieben ist, sollte stärker der Diskurs mit qualifizierten Beratungsdiensten und behandelnden Ärzten gesucht werden. Zumal internationale Forschungsergebnisse schon seit Jahrzehnten und nationale aus Deutschland seit einiger Zeit auf deutliche Defizite des Konzepts Patientenverfügung hinweisen, ihm sogar Versagen attestieren [4]. Auch mit einer Vorsorge- bzw. Betreuungsvollmacht ist nicht automatisch die Umsetzung des Patientenwillens gesichert. Als Alternative zur Stärkung der Patientenautonomie gilt die Gesundheitliche Vorausplanung (Advance Care Planning, ACP).
Verfügungen oft widersprüchlich
Eine in Deutschland durchgeführte Studie zeigt, dass Patientenverfügungen die Wünsche und Vorstellungen ihrer Verfasser teilweise nicht zu entnehmen oder dass sie sehr ungenau dargestellt worden waren [5–9]. Manche Verfügungen waren aus der Motivation heraus geschrieben worden, nicht so sterben zu wollen wie eine bestimmte nahestehende Person. Sie untersagten Maßnahmen und Vorgehensweisen, die im Falle dieser anderen Person (mit einer anderen Grunderkrankung) als nicht wünschenswert erlebt worden waren. Kaum ein Dokument enthielt jedoch nähere Angaben zum Umgang mit erwartbaren Szenarios bereits vorbestehender eigener Erkrankungen. Hingegen fanden sich – sowohl in den Interviews zu den Verfügungen der Probanden als auch in den Dokumenten – oft generelle Ablehnungen von Maßnahmen („keine Schläuche!“) oder sehr unspezifische Formulierungen, die im Behandlungsfall kaum eine praktische Operationalisierung zulassen („Ich möchte in Frieden sterben“ oder „Ich möchte menschenwürdig sterben“). Bei der Nutzung von Formularen, die u. a. über das Internet bezogen werden, waren kaum Individualisierungen vorgenommen worden. Zum Teil waren Patientenverfügungen aus Versatzstücken verschiedener Formulare zusammengesetzt, so dass sie in sich widersprüchlich waren.
Präferenzen können sich ändern
Es gibt Hinweise darauf, dass Verfasser von Patientenverfügungen nicht nur unbedingt die Umsetzung ihrer Wünsche erwarten, sondern im Ernstfall auf eine gründliche Prüfung vertrauen möchten [10]. Weiterhin ist bekannt, dass Behandlungspräferenzen, Ansichten zur Versorgung am Lebensende und Beurteilungen der eigenen Lebensqualität mit einer Erkrankung über die Zeit fluktuieren [11, 12]. Demnach wäre eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Patientenverfügung wünschenswert, die ggf. in entsprechende Aktualisierungen mündet. Ob solche Aktualisierungen zeitnah erfolgen, darf bezweifelt werden. Auch konnte in einigen Studien gezeigt werden, dass bei den Verfassern von Patientenverfügungen eher euphemistische Vorstellungen über das Verständnis der medizinischen Implikationen des Verfügten vorliegen. Zudem ist der Zugriff auf Patientenverfügungen in entscheidenden Behandlungssituationen oft nicht gesichert [13].
Bevollmächtigte
Internationale Forschungsergebnisse legen nahe, dass auch die Hypothese, der Patientenvertreter kenne den Patienten am besten, kritisch hinterfragt werden muss [14]. Nichtübereinstimmung zwischen Patient und Gesundheitsbevollmächtigtem und mangelndes Verstehen der vorliegenden Situationen sowie eine zu euphemistische Selbsteinschätzung der Patientenvertreter in Hinblick auf ihre Kenntnis der Patientenpräferenzen sind in den USA intensiv exploriert worden [15–21]. Untersuchungen weisen ferner darauf hin, dass von der Patientenmeinung abweichende Einschätzungen von Gesundheitsbevollmächtigten und Ärzten in Hinblick auf lebensentscheidende Behandlungs- bzw. Nichtbehandlungspräferenzen einem sogenannten Projektions-Bias unterliegen [22–24]. Die von den Gesundheitsbevollmächtigten angenommenen Patientenwünsche stimmten eher mit ihren eigenen Behandlungspräferenzen überein als mit denen des entsprechenden Patienten, wobei jüngere Gesundheitsbevollmächtigte eher zu Projektion neigten als ältere.
Ein systematischer Review (16 Studien, 2 595 Patienten-Stellvertreter-Paare) zeigte, dass in jedem dritten Fall keine Übereinstimmung zwischen Patient und Gesundheitsbevollmächtigtem gegeben war [14]. Verwandtschaftsgrad, Beziehungsqualität und Konfliktverhalten scheinen das Maß der Übereinstimmung zu beeinflussen [25, 26]. Bemerkenswert ist, dass Bevollmächtigte in der Kommunikation mit Ärzten offenbar ein größeres Verstehen der Situation des Patienten angeben, als tatsächlich vorhanden ist [27, 28]. In der o. a. deutschen Studie [8] hatte sich zudem eine Auswahl der Bevollmächtigten nach sozialer Erwünschtheit gezeigt („Ich weiß, dass meine Tochter meine Wünsche nicht umsetzen kann, aber ich kann doch unser Verhältnis nicht aufs Spiel setzen, indem ich jemand anderen bevollmächtige“).
ACP in der Praxis
In den USA wurde in den 1990er Jahren das Konzept des Advance Care Planning ACP (Gesundheitliche Vorausplanung) entwickelt [29]. ACP eignet sich besonders für Menschen, die im Laufe chronischer und progredienter Erkrankungen mit Fragen zu Entscheidungen und Therapiezielen im weiteren Krankheitsverlauf konfrontiert werden. Gesundheitliche Vorausplanung ist ein fortlaufender Beratungs- und Dokumentationsprozess über die Sektorengrenzen im Gesundheitswesen hinweg. Er umfasst [30]:
- mit dem Arzt/den Ärzten gemeinsam formulierte Therapieziele und Strategien für krankheitsspezifische Situationen (dabei werden Verlaufsszenarios und Verschlechterungen des aktuellen Gesundheitszustands antizipiert);
- regelmäßige Überprüfung und Anpassung an Änderungen im Krankheitsverlauf sowie Änderungen von Wertvorstellungen und Behandlungspräferenzen des Patienten.
Eine zusätzliche Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung für Gesundheitsangelegenheiten wird angeraten. In den dialogischen Prozess des ACP sollen derart Bevollmächtigte, sonst auch Angehörige (sofern dies nicht dem Willen des Patienten widerspricht) einbezogen werden. So können sich Bevollmächtigte kontinuierlich mit den Behandlungspräferenzen des Vollmachtgebers vertraut machen und deren (medizinische) Implikationen verstehen.
Für ACP in Senioreneinrichtungen wird unter anderem beschrieben [31]:
- ACP beginnt vor dem Eintreten der ersten krisenhaften Situation in dieser Einrichtung;
- wird fortgeführt, wenn der betroffene Bewohner, Angehörige, Ärzte oder anderes Personal den Eindruck haben, dass sich an der gesundheitlichen Situation etwas ändert;
- wird von einer Person verantwortlich koordiniert (Dokumentation, Organisation von Besprechungsterminen, Veranlassen der Umsetzung von Behandlungspräferenzen, Platzierung des aktuellen ACP-Dokuments an allen relevanten Stellen, so dass jederzeit ein Zugang zum Dokument gewährleis-tet ist, etc.);
- sollte auch die Finalphase berücksichtigen und dabei Präferenzen zu Fragen von Reanimation, künstlicher Ernährung und Flüssigkeitsgabe, Hospitalisierung, Notfallplan u. a. m. berücksichtigen.
Diese Punkte lassen sich aber auch in anderen Lebensumständen umsetzen. So kann die Koordination vom Hausarzt, vom Case Manager oder von einem Teammitglied eines Dienstes oder einer Einrichtung übernommen werden, die häufig in Kontakt mit dem entsprechenden Patienten steht (ambulantes/stationäres Palliativteam, betreuende onkologische oder kardiologische Einrichtung u. a.).
Bei der Betonung der Vorteile des ACP gegenüber einer konventionellen Patientenverfügung wird in der Literatur häufig darauf hingewiesen, dass die Patientengruppe demenziell erkrankter Menschen in besonderer Weise von diesem Konzept profitiere. In der Versorgung am Lebensende sind sowohl Überbehandlung (Antibiotika, Polypharmazie) als auch Unterbehandlung (unzureichende/keine Schmerztherapie und/oder Behandlung von Symptomen wie Atemnot u. a.) bekannt [32–34]. Die wenigsten demenziell Erkrankten erreichen die Phase VII nach Reisberg [35] mit sehr schweren kognitiven Einbußen [36].
Menschen mit milder bis moderater Demenz können sehr wohl die Implikationen gesundheitlicher Entscheidungen verstehen, zeigen gleich bleibende Bewertungen von Versorgungsentscheidungen über einen längeren Zeitraum und können, z.T. mit Hilfe spezifischer Instrumente, durchaus Aussagen zu ihrer Lebensqualität machen [36]. Eine nicht ausreichende bzw. kaum stattfindende Beteiligung demenziell Erkrankter an Entscheidungen zu ihrer Behandlung und Versorgung im Sinne eines Shared-Decision-Making wird jedoch oft beklagt. Würde frühzeitig, ggf. schon bald nach der Diagnose, mit einem koordinierten ACP- Prozess begonnen, hätten auch demenziell Erkrankte die Möglichkeit, so lange wie möglich selbst an der aktuellen Planung ihrer Gesundheitsvorsorge teilzuhaben [37].
Grundsätzlich wird ACP bei allen chronischen Erkrankungen als hilfreich erachtet. Eine prospektive randomisierte kontrollierte Studie am Universitätsklinikum in Melbourne hat gezeigt, dass bei Patienten mit ACP Vorstellungen für die Versorgung am Lebensende besser formuliert waren, genauer umgesetzt wurden und Belastungen für Angehörige von diesen als geringer eingeschätzt wurden als bei der Kontrollgruppe ohne ACP [38]. Umfangreiche Studien hierzu sind auch in Deutschland durchgeführt worden [39, 40]. Ein Leitfaden zur Vorgehensweise bei ACP ist unter www.medizinethik-frankfurt.de/Leitfaden.pdf im Internet erhältlich [41].
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (13) Seite 60-62