Ist der Hausarzt als niedergelassener Vertragsarzt der "Anwalt seines Patienten" oder ein "pseudoangestellter Kassenknecht"? Zwischen diesen beiden Polen liegt das Spannungsfeld unserer täglichen Arbeit.

Als Hausärzte befinden wir uns in einem ethischen Konflikt: Zum einen behandeln wir diesen einen Patienten, der im Moment vor uns sitzt, dessen Beschwerden, Leid, Ängste und Sorgen wir hören, sehen und fühlen. Es ist unsere Aufgabe, ihm zu helfen – so verlangt es der Hippokratische Eid und das Genfer Gelöbnis [1], welche Grundlagen unserer Arbeit als Ärztin oder Arzt sind.

Aber der Patient und wir sind eingebunden in vielfältige Verpflichtungen, soziale Kontakte, Normen und Gesetze. Das kann schon damit beginnen, dass Therapien, die wir anwenden, sich z. B. auch auf die Familienmitglieder, Freunde und Arbeitgeber auswirken. Gleichzeitig können die Familienmitglieder und Freunde auch unsere Patienten sein, und somit kann eine positive Entwicklung bei dem einen Patienten zu einer ungünstigen Entwicklung bei anderen unserer Patienten führen.

Darüber hinaus haben unser Handeln mit dem Patienten, unsere Therapie oder unsere Bescheinigungen auch eine Auswirkung auf das soziale Gefüge, in dem der Patient lebt. Er erhält Leistungen, die in einem begrenzten System dazu führen müssen, dass andere Menschen weniger Leistungen erhalten oder aber die Gesamtkosten steigen werden.

Das Aufgabengebiet der Sozialmedizin

Dies kann uns als Therapeuten zunächst einmal gleichgültig sein, sind wir doch nicht für die Gesamtressourcen zuständig oder verantwortlich. Diejenigen unter uns, die sich als Vertragsarzt niedergelassen haben, haben aber gleichzeitig einer unüberschaubaren Vielzahl an Richtlinien, Vorschriften, Satzungen und gesetzlichen Regelungen zugestimmt. Die Auseinandersetzung mit diesen Regelungen ist ein wichtiges Aufgabengebiet der Sozialmedizin.

Und da wir diese Regelungen zu beachten haben, sollten wir sie zunächst einmal kennen. Im Studium erfahren wir dies nicht, und daher ist die Weiterbildung in der allgemeinmedizinischen Hausarztpraxis für die jungen Kollegen so wichtig. Doch ist die Fülle der Regelungen auch für "alte Hasen" nicht immer leicht zu überblicken; hier möchte die vorliegende sozialmedizinische Artikelreihe etwas Unterstützung bieten.

WANZ-Kriterien: Interessenwahrung der Solidargemeinschaft

Quasi als Gegenpart zum Patienten, der vor uns sitzt, gibt es noch die sogenannte "Solidargemeinschaft", die Gesamtheit aller krankenversicherten Menschen. Diese Gemeinschaft hat natürlich ein Interesse daran, dass die unbestritten begrenzten Mittel "gerecht" verteilt werden, dass nur derjenige sie erhält, der sie auch benötigt. Konkretisiert wird dies in den sog. WANZ-Kriterien im §12 SGB V [2]: Die Leistungen müssen wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein. Was aber bedeutet ausreichend oder notwendig?

  • Ist ambulante Krankenbehandlung ausreichend oder stationäre Reha notwendig?
  • Ist ein Pflegerollstuhl notwendig oder tut´s auch ein Standard-Schieberollstuhl?
  • Sind hochpreisige Wundauflagen notwendig oder Salbentüll mit Kompressen?
  • Muss ein "modernes" Herzinsuffizienzpräparat genommen werden, oder reicht Spironolacton?

Jeden Tag treffen wir mehrfach Entscheidungen mit Auswirkungen auf unsere Patienten und die Solidargemeinschaft, zu der unsere Patienten auch gehören. Bei manchen dieser Entscheidungen können wir uns an Empfehlungen, Richtlinien und Vorschriften orientieren – leider treffen diese aber oft nicht auf unsere konkret um Hilfe fragenden Patienten zu und wir müssen Entscheidungen treffen, für die es keine unumstößlichen Empfehlungen gibt. Diese Entscheidungen werden im subjektiven Miteinander von Patienten und Arzt/Ärztin getroffen. Und diese können im Spannungsfeld zwischen Einzelinteresse und Gemeinschaftsinteresse unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welchem Pol man näher steht.

Der Vertragsarzt als "Anwalt seines Patienten"?

Manchmal müssen wir Patienten, die sich mit dem Sozialsystem nicht so gut auskennen, beraten und ihnen helfen, wenn ihnen durch diese Unkenntnis Schaden oder Unrecht droht. Das kann beispielsweise bei Patienten vorkommen, die während der Arbeitsunfähigkeit ihre Tätigkeit verlieren und von der Krankenkasse so behandelt werden, als seien sie arbeitslos, mit dem Ziel, sie schnellstmöglich an die Agentur für Arbeit zu verweisen. Dass dies aber nicht erlaubt ist, wissen die Kassen genau, handeln oft aber genau gegen diese Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie [3]. Hier müssen wir quasi "Waffengleichheit" zwischen gut informierter Krankenkasse und uninformierten und verletzlichen Patienten herstellen.

Wie ist es aber andersherum, wenn Patienten Dinge einfordern, die den Regelungen entgegenstehen? Manchmal mögen das Regelungen sein, denen wir selbst kritisch gegenüberstehen oder die wir für ungerecht halten; manchmal aber auch Regeln, die auch uns sinnvoll erscheinen. In beiden Fällen dürfen wir die Regeln nicht einfach ignorieren und für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. In manchen Gebieten fehlen uns dafür beispielsweise die fachlichen Grundlagen (z. B. Höhe der Pflegebedürftigkeitseinstufung [4], Kenntnis der Grundlagen der GdB-Begutachtung [5]); in anderen ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber oder z. B. der Gemeinsame Bundesausschuss einen gewissen Zweck mit den Regelungen verfolgt, der uns vielleicht nicht gefällt oder den wir nicht so recht erkennen können. Das ist jedoch kein Grund dafür, diese gegebenen Grenzen ohne Weiteres zu überschreiten (z. B. Ausfüllen von Attesten mit falschen Diagnosen, damit eine Leistung doch gewährt wird).

Grenzfälle

Aber immer wieder wird es Grenzfälle geben, in denen das individuelle Leid sehr groß ist und in denen wir in unserer ärztlichen Verantwortung und mit unserem ärztlichen Gewissen das sture Einhalten von Regelungen nicht verantworten können; dann müssen wir unserem Gewissen folgen – wenn auch auf die Gefahr hin, hierfür vor dem Gesetzgeber oder den Versicherungen/Ämtern Rechenschaft ablegen zu müssen, getreu dem Grundsatz: "Nur wer die Regeln kennt, darf sie auch brechen". Aber das kommt in der Sozialmedizin glücklicherweise selten vor, denn meistens geht es "nur" ums Geld und nicht um Leben oder Tod.


Literatur:
1) http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Genf.pdf
2) https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__12.html
3) https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1140/AU-RL_2015-12-17_iK-2016-03-17.pdf
4) https://www.mds-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/SPV/Begutachtungsgrundlagen/ BRi_Pflege_2013_Lesezeichen.pdf
5) http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710-versorgundsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile



Autor: Dr. med. Jürgen Herbers
Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (1) Seite 63-64