Eigentlich gehört es zum Praxisalltag: die Anerkennung einer Pflegestufe oder einer Schwerbehinderung, die Beantragung einer Mutter-Kind-Kur oder eines Rollators. Die Vielzahl an Richtlinien und gesetzlichen Regelungen, die diesen Praxisalltag begleiten, sind jedoch häufig unübersichtlich, die Abläufe langwierig und die Verfahren strikt geregelt. Dieser Teil der Sozialmedizin-Serie gibt einen Überblick über die Verfahrensabläufe und gesetzlichen Regelungen.

Als Hausärzte, die wir in Praxen, MVZs oder Klinikambulanzen arbeiten, haben wir es mit Kranken zu tun oder mit Menschen, die befürchten, eine Krankheit zu haben. Die gesetzlichen Regelungen, die die Krankenbehandlung betreffen, sind im 5. Sozialgesetzbuch "Krankenversicherung" verankert. Tagtäglich werden wir aber auch mit Regelungen aus anderen Sozialversicherungszweigen konfrontiert. Die für Hausärzte wichtigsten Bereiche und die betreffenden Gesetzbücher sind in Kasten 1 aufgelistet. Regelungen aus diesen Gesetzbüchern werden uns in dieser Sozialmedizin-Reihe immer wieder begegnen.

Der Gesetzgeber hat aber nicht nur diese auf bestimmte Bereiche bezogenen Gesetze erlassen, sondern auch Gesetzbücher erstellt, die für alle Zweige der Sozialgesetzgebung – und somit auch der Sozialmedizin – gelten (Kasten 2). So sollen Verfahrensunterschiede z. B. bei der Beantragung einer Rehabilitationsmaßnahme vermindert werden, gleichgültig, ob die Maßnahme bei der Krankenkasse, der Rentenversicherung oder der Berufsgenossenschaft beantragt wird.

Wichtigste Sozialversicherungszweige für Hausärzte und deren Gesetzbücher
  • Arbeitslosenversicherung (SGB III)
  • Krankenversicherung (SGB V)
  • Rentenversicherung (SGB VI)
  • Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
  • Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX)
  • Pflegeversicherung (SGB XI)
Die Bestimmungen der Sozialgesetzbücher II (Grundsicherung) und XII (Sozialhilfe) sind für uns Hausärzte nicht von großer Bedeutung

Genaue Verfahrensabläufe befolgen

Stellen wir uns vor, eine Patientin kommt zu Ihnen in die Praxis mit dem Wunsch, eine Mutter-Kind-Kur verordnet zu bekommen. Die Regelungen, die hier zu befolgen sind, sind im 10. Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz) verankert: Hier werden die einzelnen Verfahren in der Sozialversicherung genauer beschrieben und im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) [2] konkretisiert. Die Abläufe sind in ALLEN Sozialversicherungszweigen identisch:

  1. Antrag
  2. Evtl. (mündliche) Anhörung
  3. Bescheid
  4. Widerspruch
  5. Widerspruchsbescheid
  6. Klage vor dem Sozialgericht (Sozial-/Landessozial-/Bundessozialgericht)

Antrag

Antragsteller und "Herr des Verfahrens" ist der Patient (im Folgenden wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit immer die männliche Form verwendet). Er beantragt letztendlich die Kostenübernahme beispielsweise einer Mutter-Kind-Kur, eines Rollators, die Anerkennung einer Pflegestufe oder einer Schwerbehinderung. Wir als Ärzte "verordnen nur"; dies ist wichtig für den weiteren Gang des Verfahrens, denn Widersprüche oder Ähnliches kann AUSSCHLIESSLICH der Patient durchführen.

Gesetzbücher mit allgemeinen Regelungen
Sozialgesetzbuch I (Allgemeiner Teil): Hier werden allgemeine Rechte und Pflichten dargestellt und außerdem der Umfang der Leistungen umrissen:
  • Antragsberechtigt ist jeder ab 15 Jahren
  • Mitwirkungspflicht: Stellt man einen Antrag auf Sozialleistungen (z. B. Krankengeld), muss man sich einer Heilbehandlung unterziehen, wenn Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht. Eine Operation ist aber nicht duldungspflichtig.
Sozialgesetzbuch IV (Gemeinsame Vorschriften) kann vernachlässigt werden, denn keine der Regelungen betrifft uns Hausärzte unmittelbar.

Anhörung

Manchmal beabsichtigt z. B. die Krankenkasse, einen Antrag nicht zu genehmigen, und ruft dann wegen der beantragten Maßnahme beim Patienten an, teilt mit, dass die Kostenübernahme wahrscheinlich nicht genehmigt wird, und verlangt andernfalls weitere Unterlagen; dieses Verfahren wird Anhörung genannt. Patienten kommen dann oft zum Arzt und möchten ein Widerspruchsschreiben, obwohl dies in diesem Stadium noch nicht sinnvoll und erwünscht ist.

Bescheid

Im Bescheid teilt die Behörde dem Patienten ihre Entscheidung mit. Grundsätzlich hat der Patient eine Widerspruchsfrist von einem Jahr. Fügt die Behörde dem Bescheid aber eine Rechtsbehelfsbelehrung bei, verringert sich die Widerspruchsfrist auf einen Monat nach Zustellung. Häufig fehlen bei Bescheiden der Krankenkasse solche Belehrungen.

Widerspruch

Wenn der Patient nicht mit der Entscheidung der Behörde einverstanden ist, so kann er Widerspruch einlegen. Sinnvollerweise begründet er den Widerspruch. Als Arzt kann man keinen Widerspruch einlegen, denn der Bescheid richtet sich an den Patienten. Wenn der Arzt mit der der Entscheidung zugrundeliegenden medizinischen Beurteilung durch den medizinischen Dienst der jeweiligen Behörde nicht einverstanden ist, so kann (und sollte) er EINSPRUCH einlegen. Dazu sollte immer das Gutachten bzw. die Beurteilung des Gutachters vorliegen, ansonsten ist ein qualifizierter Einspruch kaum möglich. Der Patient hat das Recht, dieses Gutachten anzufordern. Viele Krankenkassen schicken es auf Aufforderung direkt an den Arzt.

Widerspruchsbescheid

Das Widerspruchsschreiben wird mit der erneuten Stellungnahme des medizinischen Dienstes dem Widerspruchsausschuss vorgelegt, wenn die Behörde selbst bzw. der Gutachter nicht schon aufgrund der neuen Unterlagen dem Antrag zustimmen konnte. Der Widerspruchsbescheid enthält immer eine Rechtsbehelfsbelehrung. Erst gegen diesen Bescheid ist Klage möglich (nicht schon gegen den eigentlichen Bescheid).

Klage vor dem Sozialgericht

Der Patient hat einen Monat Zeit, vor dem Sozialgericht Klage zu erheben. Er muss hierbei seine Klage begründen. Die Klage ist für den Patienten kostenlos, lediglich, wenn ein Anwalt genommen wird, muss dieser bezahlt werden. Als Arzt kann man als sachverständiger Zeuge geladen werden, was viel Zeit kostet und wenig Geld einbringt.

Gesetze sind häufig allgemein formuliert und bedürfen der Auslegung und Konkretisierung. Für das Gesundheitswesen sorgt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für diese Auslegung. Sie ist für uns bindend. Was vom G-BA beschlossen wird, stellt eine sogenannte untergesetzliche Norm dar, ist quasi wie ein Gesetz. Daher sollte man die entsprechenden Regelungen kennen (z. B. die Krankentransport-Richtlinie oder Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) [3].

Schon manches Mal hat mir ein Blick in diese Richtlinien in der Auseinandersetzung mit einer Behörde – insbesondere der Krankenkasse – Argumentationshilfen gegeben; allerdings musste ich ab und an auch erkennen, dass mein "gesunder Menschenverstand" falsch lag im Hinblick auf die einschlägigen Richtlinien.

Die Gesetze im Original finden Sie auf der Seite des Bundesjustizministeriums ( http://www.gesetze-im-internet.de/Teilliste_S.html ).


Literatur:
1. http://www.gesetze-im-internet.de/Teilliste_S.html
2. http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/vwvfg/gesamt.pdf
3. http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien


Autor:

Dr. med. Jürgen Herbers

Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin;
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (3) Seite 70-72