Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und/oder Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) kommen häufig mit unspezifischen Symptomen zum Hausarzt. Nicht selten klagen sie z. B. über Stress und Erschöpfung oder Überforderung und fallen häufig durch Kommunikationsprobleme auf. Die Differenzialdiagnose schwierig machen vor allem die Überlappungen verschiedener Symptome dieser beiden Erkrankungen.

Kasuistik
Ein 21-jähriger Physikstudent stellt sich in unserer Ambulanz zur Behandlung einer depressiven Symptomatik vor. Schon bei der Sozialanamnese berichtet er bei der Frage nach sozialer Unterstützung von Schwierigkeiten – wie etwa bei der Entscheidung, wer ein Freund und wer ein Bekannter ist.

Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion: Ideal wäre es für ihn, wenn er zu Beginn einer neuen Begegnung einen Vertrag mit der Person schließen könnte, der genau definiert, was in dieser Beziehung angebracht ist und was nicht. Dem Patienten ist aber auch klar, dass dies auf andere Menschen befremdlich wirken könnte. Bei genauerem Explorieren stellt sich eine Schwierigkeit im Aufbau sozialer Kontakte heraus. Im Laufe seines Lebens hatte er gelegentlich einzelne Freunde, eine sehr enge Bindung entstand jedoch nie.

Während der Schulzeit hatte er eine stabile Klassengemeinschaft in dem kleinen Dorf, in dem er lebte. Es waren konstant dieselben Mitschüler, und er konnte sich so langsam in das soziale Gefüge einfinden. Seine Andersartigkeit wurde von allen akzeptiert. Die Mitschüler ließen ihn in Ruhe, respektierten ihn aber auch für seine besondere Begabung in der Welt der Zahlen ("er kann außerordentlich gut kopfrechnen").

Im Studium fand er bei seinen Kommilitonen jedoch keinen Anschluss. Die Umstellung auf das Studium war für ihn auch schwierig, weil er die vertraute Umgebung seines Elternhauses verlassen musste. Im Wohnheim fühlte er sich durch den ständigen Wechsel der Mitbewohner überfordert. Im Studium ist er aktuell um zwei Semester zurückgefallen, weil er einige Klausuren nicht bestanden hat – oft wegen der Masse der Lerninhalte. In der Schule war dies kein Problem: Das Abitur bestand er mit der Note 1,0. Damals sagte man ihm aber häufig, dass er im Unterricht zu leicht ablenkbar sei. Dennoch schrieb er stets gute Klausuren. An der Uni entwickelte sich anamnestisch und wegen der wiederholten Rückschläge eine depressive Symptomatik.

Er berichtet auch davon, dass er sein Hobby, die Malerei, dem er noch zu Hause nachging, in seinem Wohnheimzimmer aus Platzgründen nicht mehr ausführen kann. Insgesamt hat er seine Aktivitäten aufgrund des flexiblen Stundenplans immer weiter zurückgefahren. Mittlerweile steht er erst um die Mittagszeit auf. Und zu freiwilligen Vorlesungen geht er gar nicht mehr, da ihm die starke Reizüberflutung zusetzt. Stattdessen surft er lieber daheim im Internet.

Diagnostik: Zur Diagnostik wurden eine Autismus-Spektrum-Testung sowie eine ADHS-Testung durchgeführt. Diese zeigten eine hohe Auffälligkeit im Bereich des Autismus und auch ADHS-Züge. Die Diagnose war für den Studenten eine erhebliche Erleichterung, da in vielen Lebensbereichen, in denen er sich bisher für nicht ausreichend fähig gehalten hatte, autistische Eigenarten die Probleme erklären konnten. Auch im Angehörigengespräch ließ sich seitens der Eltern ein Verständnis für die speziellen Angewohnheiten ihres Sohnes erarbeiten.

ADHS und ASS werden beide der Kategorie der Entwicklungsstörungen zugerechnet. Das heißt: Die ersten Auffälligkeiten oder Symptome müssen schon in der Kindheit, spätestens in der Jugend auftreten und auffällig geworden sein, um die Diagnose stellen zu können (vgl. Kasuistik). Häufig werden Symptome zu Beginn der Schulzeit sichtbar, weil nach dem gewohnten Kindergarten eine deutlich höhere Anpassungsleistung gefordert ist. Gelegentlich kann es zu einer Diagnoseverzögerung kommen, wenn das Umfeld nicht auf die Symptome achtet oder diese als besondere Persönlichkeitseigenschaften einordnet und viel Rücksicht auf die Besonderheiten nimmt.

Charakteristisch ist, dass die Auffälligkeiten in mehreren Lebensbereichen auftreten und nicht spezifisch in einer singulären Situation oder nur einem einzigen Lebensbereich beziehungsweise temporär. Anzeichen für ASS, die bei routinemäßigen Arztkontakten auffallen können, sind Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion: u. a. eine konkretistische Sprache (z. B. auf die Frage "Wie viele Stunden schlafen Sie pro Tag?" antwortet der Patient etwa mit: "keine" – da ja nur nachts geschlafen wird), Schwierigkeiten beim Aufrechterhalten des Augenkontakts, reduziertes Verständnis von sozialen Indikatoren (z. B. bei indirekten Gesprächsbeendern wie: "Haben Sie sonst noch Fragen?") und ein reduziertes Aussenden von nonverbaler Kommunikation (z. B. Gestikulieren). Das Auftreten von Spezialinteressen, wie meist über die Medien kommuniziert, kann vorkommen, ist jedoch nicht zwingend für die Diagnosestellung. Oft lassen sich aber bestimmte Routinen und Rituale (z. B. die stets gleiche Reihenfolge beim Anziehen) feststellen. Manchmal wird der Kontakt mit von Autismus Betroffenen vom neurotypischen Gegenüber als sonderlich, seltsam und umständlich empfunden.

Anzeichen für ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Zu den möglichen Ausprägungen und Folgen zählen akademische und berufliche Schwierigkeiten, etwa das wiederholte Auftreten von Flüchtigkeitsfehlern, Schwierigkeiten in der Eigenorganisation, Vergesslichkeit und leichte Ablenkbarkeit durch Außenreize sowie Verträumtheit und "Schusseligkeit". Nicht selten fallen ADHS-Patienten dadurch auf, dass sie Termine vergessen, Rezepte verlegen, gestresst und chaotisch erscheinen und ausführlich bis weitschweifig, sprunghaft oder ungeordnet berichten, manchmal auch mit sehr viel "Power" für ihre Belange kämpfen oder Konflikte eingehen.

Diagnostik in der Hausarztpraxis

Sowohl für die Diagnose von ADHS als auch einer Autismus-Spektrum-Störung wird der Beginn der Auffälligkeit der Symptome in der Kindheit vorausgesetzt. Hierbei ist vor allem die Fremdanamnese, sei es durch die Eltern, durch (Grund-)Schulzeugnisse oder durch begleitende Ärzte wichtig. Eine Zusammenfassung der bisher beobachteten Symptome seitens des Hausarztes, der die Familie häufig schon lange begleitet, kann daher sehr hilfreich sein. Er weiß oft gut Bescheid über häusliche Probleme, Sorgen und nicht selten auch Konflikte, die im täglichen Leben mit den betroffenen Familienmitgliedern auftreten.

Besteht der Verdacht auf ADHS oder ASS, sollte der Hausarzt zur Diagnosestellung an einen Facharzt verweisen und dieser, laut Leitlinie[2], nach der Diagnosestellung die Behandlungsplanung auf Basis einer ausführlichen Psychoedukation zusammen mit dem Betroffenen selbst erstellen.

Nach einer Studie [3] ist bei etwa 30 % der Patienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung eine ADHS-Erkrankung komorbid vorhanden. Damit ist die Vorkommenshäufigkeit von ADHS bei ASS deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Aber auch circa 20 % der Kinder mit ADHS scheinen an einer ASS zu leiden [5]. Bekanntermaßen werden, wie bei den meisten Erkrankungen, Personen mit mehreren Komorbiditäten häufiger vorstellig als mit nur einer der Diagnosen. Das birgt aber die Gefahr, dass eine der Komorbiditäten übersehen wird. Die Differenzialdiagnose kann hier diffizil sein und sollte dem Facharzt übertragen werden.

Überlappende Symptome

Bei ADHS und Autismus gibt es überlappende Symptome und Kompensationsmechanismen. Im Bereich der Symptome kann ein nicht zu unterbrechender Redefluss bei beiden Erkrankungen auffällig sein. Autisten fehlt das Erkennen von sozialen Indikatoren, die signalisieren, dass es an der Zeit wäre, das Reden zu beenden. Bei ADHS-Patienten wird der Redefluss den impulsiven Symptomen zugerechnet. Die ADHS-typische motorische Hyperaktivität lässt sich von repetitiven motorischen Verhaltensweisen bei ASS abgrenzen, denn bei den stereotypen Bewegungsstörungen, wie sie hier auftreten können, ist das motorische Verhalten im Allgemeinen fixiert und repetitiv, während die Zappeligkeit und Rastlosigkeit bei ADHS generalisiert und nicht repetitiv stereotyp auftritt.

Unaufmerksamkeit, Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, Ablehnung durch andere und schwer steuerbares Verhalten sind genau wie für ADHS auch für Autismus-Spektrum-Störungen kennzeichnend. Die sozialen Dysfunktionen und die Ablehnung durch Gleichaltrige bei ADHS muss man jedoch unterscheiden von dem möglichen verminderten sozialen Interesse, dem sozialen Rückzug und der Nichtbeachtung mimischer und vokaler Kommunikationssignale beziehungsweise der Unfähigkeit, soziale und emotionale Signale zu lesen, die bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen auftreten. Kinder mit ASS können aufgrund einer Unfähigkeit, Abweichungen von erwarteten Ereignisabläufen zu tolerieren, Wutanfälle zeigen. Bei Kindern mit ADHS resultieren unangemessene Verhaltensweisen und Wutanfälle oft eher aus Impulsivität oder mangelnder Selbstkontrolle.

Routinen und Rituale

Bei den Kompensationsmechanismen lässt sich bei beiden Erkrankungen ein Aufbau von Routinen beobachten. Bei Menschen aus dem Autismusspektrum gibt es ein wichtiges Bedürfnis nach Routinen und Ritualen. Bei ADHS-Patienten kann man den Aufbau von Routinen als Kompensationsmechanismus zur Bewältigung des Alltags sehen. Bei beiden Erkrankungen kann es durch den Wegfall externer Strukturierung (wie z. B. im Übergang von der Schule zum Studium) häufig zu einer Dekompensation kommen. Die Reizoffenheit bei ADHS und die Reizüberflutung bei Autismus können ebenfalls ähnlich imponieren.


Literatur
1. Tebartz van Elst L. Autismus und ADHS zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. 2. Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH. 2018
2. Langfassung der Leitlinie "ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen". AWMF-Registernummer 028–045. AWMF online 2017
3. Simonoff E, Pickles A, Charman T, Chandler S, Loucas T, Baird G. 2008. Psychiatric disorders in children with autism spectrum disorders: prevalence, comorbidity, and associated factors in a population-derived sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry, 47(8):921-9.
4. Taurines R, Schwenck C, Westerwald E, Sachse M, Siniatchkin M, Freitag C. 2012, ADHD and autism: differential diagnosis or overlapping traits? A selective review. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders Volume 4, Issue 3, pp 115–139.
5. Hollingdale J, Woodhouse E, Young S, Fridman A, Mandy W. 2019. Autistic spectrum disorder symptoms in children and adolescents with attention-deficit/hyperactivity disorder: a meta-analytical review. Psychol Med, 18:1-14. doi: 10.1017/S0033291719002368. [Epub ahead of print]



Autorinnen:

Jördis Rausch

PD Dr. med. Swantje Matthies
Universitätsklinikum Freiburg
79104 Freiburg

Interessenkonflikte: Die Autorinnen haben keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (4) Seite 36-38