Ältere Personen sind trotz gleichen chronologischen Alters biologisch meist in sehr unterschiedlichem Zustand. Während die einen schon als gebrechlich gelten, gehen die anderen noch ihrem Lieblingssport oder Beruf nach. Dr. Henry Heimlich etwa war 96, als er mit seinem berühmten Manöver – seinen Griff wendete er hier zum ersten Mal an – einer Mitbewohnerin im Altenheim das Leben rettete. Doch auch fitte Senioren können zum Notfall werden. Was beim älteren Menschen auf der Notfallstation anders ist, erklärt PD Dr. med. Christian Nickel, Leitender Arzt vom Notfallzentrum am Universitätsspital Basel.

Für einen alten Patienten auf der Notfallstation sind eine akute Verschlechterung des Allgemeinzustands und Verwirrung noch kein Grund für die herabwürdigende Diagnose "Pflegenotfall" (vgl. Kasten 1). Denn die Symptomausprägung beim alten Patienten kann anders sein als beim jüngeren. Bei einem Herzinfarkt z. B. tritt Verwirrung fast so häufig auf (13 %) wie klassische Thoraxschmerzen (19 %) [1]. Diese für einen Myokardinfarkt typischen Schmerzen im Brustkorb können mit zunehmendem Alter sogar ganz ausbleiben, wie eine Untersuchung bei 519 über 65-jährigen Notfallpatienten zeigt [4]. "Entscheidungen aufgrund des chronologischen Alters allein sind fehl am Platz", so Nickel. Ein weiterer Grund für die Untertriage liegt in nicht korrekt interpretierten Vitalzeichen [4]. Diese sind bei älteren Patienten nicht prädiktiv für den Tod oder eine Verlegung auf die Intensivstation. Das zeigt eine weitere Studie mit 3.800 Patienten, deren Vitalzeichen gemessen wurden [5]. Sich primär auf solche Scores zu verlassen, berge daher die Gefahr, schwer kranke Patienten zu übersehen, so Nickel. Hilfreich sei es, die Ausgangswerte zu kennen.

Mit oder ohne Thoraxschmerz?

Hat ein Patient im "Normalzustand" einen systolischen Blutdruck von 180 mmHg, kann ein Wert von 120 mmHg bei ihm schon einen Schock bedeuten, fand eine Studie heraus [2]. Von 434.877 Herzinfarktpatienten wiesen 33 % keine Brustschmerzen auf. Es zeigte sich, dass die Patienten ohne Thoraxschmerz im Durchschnitt sieben Jahre älter waren (74 vs. 67 Jahre) als diejenigen, die über diese Schmerzen klagten. Im Behandlungsalltag hat das konkrete Folgen: Patienten ohne Thoraxschmerz wurden im Vergleich zu jenen, die dieses Symptom angaben, später stationär aufgenommen, weniger aggressiv behandelt und wiesen eine höhere Krankenhausmortalität auf (23,3 vs. 9,3 %) [2]. "Eine atypische Präsentation ist bei alten Patienten typisch", fasst Nickel zusammen. Thoraxschmerzen als Zeichen eines Myokardinfarkts nehmen im höheren Alter ab, wohingegen Dyspnoe, allgemeine Schwäche, Verwirrung, Bauchschmerzen und Synkopen zulegen [3].
"Die allgemeine Schwäche ist leider sehr unspezifisch, aber auf Notfallstationen häufig. Sie belegt international den fünften Rang aller Notfallpräsentationssymptome", betont er.

Untertriage bei älteren Notfallpatienten häufig

Die häufigsten Erkrankungen von über 65-jährigen Patienten auf der Notfallstation sind allgemeine Schwäche, Infekte, Dehydratation, Elektrolytstörungen, Herzinsuffizienz, Anämie oder sogar Malignome, aber auch einfach Gebrechlichkeit (Frailty). Eine unspezifische Krankheitspräsentation kann dazu führen, dass der Arzt bestimmte Risiken nicht erkennt. Die Folgen seien Untertriageraten von bis zu 25 %, zitierte der Referent eine eigene Untersuchung. Auch die Atemfrequenz gibt wichtige prognostische Hinweise bei älteren Patienten. Eine hohe Frequenz von > 30/min ist mit einem siebenfachen Mortalitätsrisiko verbunden [6]. Und ab 65 steigt die Krankenhausmortalität mit erhöhter Atemfrequenz viel stärker an als bei jüngeren Patienten [7].

Kasten 1: Wichtig bei geriatrischen Notfällen
  • chronologisches Alter entspricht selten dem biologischen Alter
  • atypischer Myokardinfarkt ohne Thoraxschmerzen mit dem Alter zunehmend
  • allgemeine Schwäche ist das fünfthäufigste Symptom auf der Notfallstation und kann gefährlich sein
  • Vitalzeichen mit Baseline vergleichen
  • Gang ist ein Vitalzeichen der älteren Person
  • Sturzrisiko abschätzen
  • Sturzhergang hinterfragen
  • Schwäche, Stürze, Delir treten oft zusammen auf
  • Medikamentenliste kontrollieren
  • Patientenwillen erfragen

Ein verlässliches Zeichen für den Zustand eines alten Menschen, der ins Krankenhaus kommt, ist sein Gang. Dieser sagt manchmal mehr aus als ein Blick in die Krankengeschichte [8]. Mit der 4-Positionen-SUHB-Skala zur Beurteilung des Gangs (S = stabil aufrecht; U = unstabil aufrecht; H = braucht Hilfe beim Gehen; B = bettlägerig) lässt sich beispielsweise die 30-Tage-Krankenhausmortalität schon recht gut abschätzen. Bei stabilem Gang liegt das Risiko bei 0,1 %, bei instabilem Gang (mit Krücken) bei 1,7 %, bei Patienten im Rollstuhl bei 5,2 % und bei Bettlägerigen sogar bei 18 %.

Immer auch Füße untersuchen!

Auch Stürze sind bei älteren Personen eine häufige Ursache für den Notfallbesuch. Ab einem Alter von 65 stürzt etwa jeder Dritte einmal pro Jahr. "Werden Sie skeptisch, wenn jemand über einen Teppich stolpert, den er schon 30 Jahre hat", erklärt Nickel. "Untersuchen Sie die Füße, manchmal sagt deren Pflege viel aus. Ungepflegte, lange, krumme Nägel können beispielsweise ein Zeichen für beeinträchtigte Exekutivfunktionen sein, aber auch über den Sozialstatus mit Vereinsamung oder finanziellen Problemen Auskunft geben."

Eine prospektive Studie bei älteren Sturzpatienten untersuchte die Risikofaktoren für Stürze. Von 263 Patienten waren 39 % im Vorjahr schon einmal oder mehrere Male gestürzt. 14 % stürzten im folgenden halben Jahr erneut. Dabei stellten sich als größte Risikofaktoren chronische Fußwunden (Hazard-Ratio [HR]: 3,71), vorangegangene Stürze (HR: 2,6), die Unfähigkeit, die Zehennägel zu schneiden (HR: 2,04), und eine selbstberichtete Depression (HR: 1,72) heraus [9].

Ein guter Indikator für das Sturzrisiko ist nach Nickel der "Walk-and-Talk-Test". Man geht mit dem Patienten ein Stück und fragt ihn etwas. Bleibt er stehen, um zu antworten, ist sein Risiko, in den nächsten sechs Monaten zu stürzen, erhöht (positiv prädiktiver Wert: 83 %), wie eine schwedische Untersuchung zeigt. Wer anhielt, um zu sprechen, hatte im Vergleich zu den Weitergehenden einen weniger sicheren Gang und bewegte sich auch langsamer fort [10].

Dem Sturzhergang sollte der Arzt ebenso mehr Gewicht beimessen. Die Bezeichnung "Stolpersturz" ist gängig, doch die Prognose von "Stolperern" nicht besser oder schlechter als von jenen, die aus anderen Gründen stürzen. Das geht aus einer Datenanalyse hervor. Den Begriff "Stolpersturz" sollten Ärzte am besten nicht mehr verwenden, da dieser den Eindruck einer benignen Ursache erweckt, so die Autoren der Untersuchung [11]. Nicht zuletzt gibt auch das Verletzungsmuster Aufschluss und nicht immer ist der angegebene Sturz die Ursache. Auch Misshandlungen oder Vernachlässigung können zu "Stürzen" führen. Weitere Hinweise hierfür können ungepflegtes Äußeres, Untergewicht, nicht wetterangepasste Kleidung oder eine ausgeprägte Ängstlichkeit sein.

Ursachensuche bei gebrechlichen Senioren

Bei gebrechlichen (frail) alten Patienten genügt schon irgendein Stressor, um eine allgemeine Schwäche, Stürze oder ein Delir zu induzieren. All dies sind unspezifische Symptome, die ähnliche Outcomes haben [12] "und oft auch zusammen auftreten", so Nickel. Daher ist es wichtig, die zugrunde liegende Ursache zu finden. Ein Blick auf die Medikamentenliste noch vor der stereotypen Suche nach Harnwegsinfekten kann hier schon weiterhelfen. Oft finden sich auf der Liste mehrere Psychotropika, die zum aktuellen Zustand geführt haben könnten. Das Delir als akuter Verwirrtheitszustand mit fluktuierendem Verlauf tritt bei etwa 10 % aller älteren Notfallpatienten auf und ist häufig Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung. Es kann aber auch triviale Ursachen haben, wie Schmerzen oder eine volle Blase. Das Delir, das per se mit einer erhöhten Mortalität einhergehe, werde übersehen, wenn man nicht systematisch danach suche, erinnerte Nickel.

Entlassen oder nicht?

Die Entscheidung, ob man einen älteren Notfallpatienten stationär aufnimmt oder nicht, ist nicht einfach. Das Vitalzeichen "Walk and Talk", die Baselinewerte sowie eine Fremdanamnese können dabei helfen. Patienten mit verändertem mentalem Zustand, mit Dyspnoe oder Schwäche/Müdigkeit sollten eher nicht entlassen werden, da ihr Mortalitätsrisiko drei- bis vierfach erhöht ist, wie eine amerikanische Untersuchung mit über zehn Millionen Notfallpatienten zeigte [13].

Eine Entscheidung für oder gegen die stationäre Aufnahme beziehungsweise Entlassung kann nach Abklärung der geriatrischen Big 5 M – Multikomplexität, Medikamente, Mobilität, Geist (Mind) und Patientenwillen (Matters most) – erfolgen. Wichtig sei es, in jedem Fall zu fragen, was der Patient wolle, rät Nickel.


Literatur
1. Day JJ et al.: Acute myocardial infarction: diagnostic difficulties and out- come in advanced old age. Age Aging 1987; 16: 239–243.
2. Canto JG et al.: Prevalence, clinical characteristics, and mortality among patients with myocardial infarction presenting without chest pain. JAMA 2000; 283: 3223–3229.
3. Glickman SW et al.: Development and validation of a prioritization rule for obtaining an immediate 12-lead electrocardiogram in the emergency department to identify ST-elevation myocardial infarction. Am Heart J 2012; 163: 372–382.
4. Grossmann FF et al.: At risk of undertriage? Testing the performance and accuracy of the emergency severity index in older emergency depart- ment patients. Ann Emerg Med 2012; 60: 317–325.
5. Lamantia MA et al.: Predictive value of initial triage vital signs for criti- cally ill older adults. West J Emerg Med 2013; 14: 453–460.
6. Buist M et al.: Outcomes from out of hospital cardiac arrest (OHCA)?
What really matters is the patient. Resuscitation 2004; 85: 155–156.
7. Smith GB et al.: Should age be included as a component of track and trigger systems used to identify sick adult patients? Resuscitation 2008;
78: 109–115.
8. Kellett J et al.: A four item scale based on gait for the immediate global assessment of acutely ill medical patients – one look is more than 1000 words. Eur Geriatr Med 2014; 5: 92–96.
9. Carpenter CR et al.: Identification of fall risk factors in older adult emer- gency department patients. Acad Emerg Med 2009; 16: 211–219.
10.Lundin-Olsson L et al.: Stops walking when talking as a predictor of falls in elderly people. Lancet 1997; 349: 617.
11. Sri-on J et al.: Is there such a thing as a mechanical fall? Am J Emerg Med
2016; 34: 582–585.
12. Clegg A et al.: Frailty in elderly people. Lancet 2013; 381: 752–762.
13. Obermeyer Z et al.: Early death after discharge from emergency depart- ments: analysis of national US insurance claims data. BMJ 2017; 356: j239.



Autorin:
Valerie Herzog


"Geriatrische Notfälle – Top 10 Pitfalls", 11. Januar 2018, Universitätsspital Basel.
Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus Ars medici 19/2018



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (16) Seite 26-28