Sie ließ lange auf sich warten: die neue interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenen-Alter". Nach neunjähriger Arbeit wurde sie im Juni 2018 veröffentlicht – in einer Lang- und einer Kurzfassung. Für Deutschland liegt damit erstmals eine Leitlinie vor, die den höchsten Grad an methodischer Qualität hat. Der gefundene Konsens steht dabei auf einer breit gesicherten Basis, vor allem auch für ADHS-Patienten beim Hausarzt.

Jeder Praktiker wird sich freuen, dass die neue ADHS-Leitlinie, die man im Netz einfach als PDF-Datei herunterladen kann, die Bedeutung des Subjektiv-Individuellen betont, "zumindest die moderate Beeinträchtigung der Beziehungen, der Leistungsfähigkeiten, der Aktivitäten oder der Teilhabe mit Funktionsbeeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen".

Diagnostik

Die Möglichkeit einer ADHS sollte in Betracht gezogen und eine entsprechende Diagnostik durchgeführt werden "bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Entwicklungs-, Lern-/ Leistungs- oder Verhaltensproblemen oder anderen psychischen Störungen und Hinweisen auf Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und Konzentration oder auf erhöhte Unruhe oder Impulsivität."

Die Grundlage der Diagnosestellung ist eine strukturierte Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen. Bei Kindern müssen zusätzlich die in Tabelle 1 aufgeführten altersspezifischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Immer besteht die Gefahr, dass man organische Erkrankungen als ADHS-Symptome fehlinterpretiert oder diese komplizierend koexistieren, wie Seh- oder Hörstörungen, Anfallsleiden, Schilddrüsenfunktionsstörungen, FASD, Fragiles-X-Syndrom, Neurofibromatose Typ 1 oder 22q11-Mikrodeletionssyndrom.

Therapie

Behandlungsplanung

Sozusagen als Präambel führt die Leitlinie die Grundlagen für eine erfolgversprechende Therapie auf:

  1. Informierte Entscheidung: Welche Behandlungsoptionen sind möglich?
  2. Partizipative Entscheidungsfindung: Welche werden vom Patienten/seinen Bezugspartnern (BZP) gewünscht/mitgetragen?
  3. Spezifisches: Berücksichtigung von persönlichen Faktoren wie Leidensdruck, Umgebungsfaktoren, Schweregrad der Störung, koexistierenden Störungen und Teilhabe.
  4. Die Behandlung der ADHS soll im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Gesamtkonzepts erfolgen, in dem entsprechend der individuellen Symptomatik, dem Funktionsniveau, der Teilhabe sowie den Präferenzen des Patienten/seines Umfelds psychosoziale (einschließlich psychotherapeutische) und pharmakologische sowie ergänzende Interventionen kombiniert werden können.

Hilfreich und klar sind die Stellungnahmen zur konkreten Behandlung: Grundsätzlich sollte man immer als Erstes eine umfassende Psychoedukation anbieten, bei der man den Patienten und seine BZP über ADHS aufklärt, ein individuelles Störungskonzept entwickelt und Behandlungsmöglichkeiten darstellt mit dem Ziel, eine partizipative Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Eine Pharmakotherapie der ADHS-Symptomatik soll nicht vor einem Alter von drei Jahren erfolgen. Vor dem sechsten Lebensjahr und danach sollte der Arzt bei ADHS mit leichtem Schweregrad immer primär psychosozial (einschließlich psychotherapeutisch) intervenieren. Bei diesem Schweregrad und behandlungsbedürftiger residualer ADHS-Symptomatik kann man ergänzend eine Pharmakotherapie erwägen (die Schweregrade sind in der Leitlinie klar beschrieben).

Bei moderater ADHS sollte in Abhängigkeit der konkreten Bedingungen des Patienten nach einer umfassenden Psychoedukation entweder eine intensivierte psychosoziale (einschließlich psychotherapeutische) Intervention, eine pharmakologische Behandlung oder eine Kombination erfolgen. Nur bei schwerer ADHS sollte primär (nach intensiver Psychoedukation) eine Pharmakotherapie einsetzen, in die man eine parallele intensive psychosoziale, einschließlich psychotherapeutischer Intervention integrieren kann. Koexistierende Störungen sollte der Arzt stets leitliniengerecht behandeln, wobei er bei der Entscheidung, welche Störung zuerst angegangen werden sollte, unter anderem deren Schweregrad berücksichtigen muss.

Konkrete Therapie

Zu diesem Themenkomplex enthalten die Anhänge der Leitlinie einen ebenso ausführlichen wie hilfreichen "Differenzialtherapeutischen Entscheidungsbaum zur psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen)/pharmakotherapeutischen Behandlung von Kindern/Jugendlichen mit ADHS".

Psychoedukation und Psychosoziale

Interventionen

Erfreulich ausführlich beschreibt die Leitlinie Inhalt und Zielsetzung dieser für die weitere Behandlung grundlegenden therapeutischen Maßnahmen, die bei jedem ADHS-Kranken unabhängig vom Schweregrad und einer (zusätzlichen) Medikation vorgenommen werden sollten. Bei Erwachsenen sollen psychosoziale (einschließlich psychotherapeutischer) Interventionen – in Gruppen- oder Einzelbehandlung – über ADHS aufklären. Das Ziel: die Akzeptanz der Störung als Voraussetzung für Verhaltensänderungen, Entwicklung von Bewältigungsstrategien und Verbesserung der Alltagsfunktionen zu erhöhen. Eine Psychoedukation soll der Arzt auch allen Erwachsenen, welche die Diagnose ADHS erhalten haben, als Basisstrategie aller Interventionen anbieten. Bei der Indikation für eine Psychotherapie sollte man die kognitive Verhaltenstherapie anwenden.

Regelmäßige Bewegung und eine ausgewogene, vollwertige Ernährung sollte man in jedem Lebensalter empfehlen. Neurofeedback kommt bei Kindern/Jugendlichen über sechs Jahren aber nur ergänzend infrage.

Pharmakologische Interventionen

Bei der Indikationsstellung zur Pharmakotherapie sollte man unterschiedliche Faktoren berücksichtigen, etwa das Alter des Patienten, den Schweregrad der Symptomatik, die Schwere der Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen, die Präferenzen der Familie/des Patienten und die Wirksamkeit im Vorfeld eingeleiteter psychosozialer/psychotherapeutischer Interventionen. In Ausnahmefällen kann auch der Hausarzt unabhängig vom Alter des Patienten Folgeverordnungen ausstellen beziehungsweise erforderliche Kon-
trolluntersuchungen vornehmen – das Ganze aber nur nach erfolgter medikamentöser Einstellung durch den Spezialisten und mit regelmäßiger Wiedervorstellung bei diesem.

Welche Präparate sind zur Behandlung

empfohlen?

Unter Beachtung des jeweils aktuellen Zulassungsstatus sollte man Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin, Lisdexamfetamin) sowie Atomoxetin und Guanfacin als mögliche ADHS-Behandlungsoptionen in Betracht ziehen. Die Beachtung der Präferenzen bei Patienten und BZP kann die Adhärenz erheblich fördern.

Nicht eingesetzt werden sollten Antipsychotika bei ADHS ohne assoziierte Störungen. Spricht die ADHS-Symptomatik auf eine Monotherapie mit den genannten Medikamenten nicht an oder führt diese zu nicht tolerierbaren unerwünschten Wirkungen, kann eine Kombination verschiedener Wirkstoffe erwogen werden.

Dagegen ist auf Basis der bisherigen Evidenz der Einsatz weiterer Substanzen (z. B. SSRI, Modafinil, Selegilin, Bupropion, auch Cannabis) bei ADHS nicht zu empfehlen, eine befristete zusätzliche Gabe von Neuroleptika (in Kombination mit psychosozialen inklusive psychotherapeutischen Interventionen) nur bei koexistierender stark ausgeprägter Impulskontrollstörung mit aggressivem Verhalten.

Die Leitlinie weist auf eine zwingende (erneute) körperliche (auch RR/Puls, Länge/Gewicht) und neurologische Untersuchung vor Therapiebeginn und dann etwa halbjährlich hin. Hier sollte der Arzt spezifisch auf Hinweise auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen (familiäre Vorbelastung) achten. Zu Beginn einer medikamentösen Behandlung und bei jeder Dosisanpassung sollte, auch mit – in den Leitlinien aufgelisteten – standardisierten Instrumenten, engmaschig (z. B. wöchentlich) das Auftreten unerwünschter Wirkungen überprüft werden, im weiteren Verlauf dann in regelmäßigen Abständen. Mindestens alle sechs Monate soll der Arzt prüfen, ob eine weitere Verabreichung indiziert ist. Im Rahmen einer behandlungsfreien Zeit sollte dies eimal pro Jahr erfolgen.

Die Behandlung von Erwachsenen kann man mit zwei Methylphenidat-Präparaten mit verzögerter Wirkungsfreisetzung beginnen (Medikinet® adult, Ritalin® adult). Die Verschreibung ist bis ins höhere Lebensalter möglich. Die ADHS-Behandlung kann im Erwachsenenalter auch mit Atomoxetin starten.

Die Leitlinie enthält weitere Details zu dieser und anderer (fortgeschriebener) Medikation(en). Auf mögliche Nebenwirkungen der unterschiedlichen Arzneimittel geht die Leitlinie nicht besonders detailliert ein. Bei wiederholtem Auftreten kardiovaskulärer Symptome sollte neben einer Überweisung zum (Kinder-)Kardiologen eine Dosisreduktion der Medikation erfolgen. Weitere Nebenwirkungen wie Tics und Angststörungen sind dagegen ebenso eingehend beschrieben wie die Adhärenz-Problematik. Auf Probleme wie Schlafstörungen oder Gewichtszunahme geht die Leitlinie dagegen überhaupt nicht ein.

Transition und Selbsthilfe

Auch zu Fragen der Transition (wann und wie?) bietet die Leitlinie hilfreiche, substanzielle Informationen und verweist hier auf weitere spezifische Positionspapiere. Zum Thema Selbsthilfe empfiehlt die Leitlinie: "Fachleute, die Personen mit ADHS betreuen, sollten die regionalen und überregionalen Selbsthilfegruppen zu ADHS kennen und Patienten und Angehörige über deren Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Für Betroffene kann der Besuch einer Selbsthilfegruppe beziehungsweise einer Angehörigengruppe zusätzlich hilfreich sein."

Fazit

Wir in der Praxis tätigen Ärzte hatten uns von der neuen Leitlinie mehr erwartet, etwa eine klare Stellungnahme zu den gesicherten Therapieerfolgen. Denn es gibt eine hohe Effizienz medikamentöser Therapien bei der Kernsymptomatik, die mit einer gesicherten Reduktion von Suizidalität, Substanzmissbrauch, Delinquenz und schweren Unfällen einhergeht – vor allem von Verhaltensauffälligkeiten, welche die (schulische und berufliche) Leistung beeinträchtigen – und mit positiven Sekundäreffekten.

Auch zu den Nebenwirkungen der Medikamente äußert sich die Leitlinie erstaunlich zurückhaltend. Dabei sind es gerade Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, aber auch Kopf- und Bauchschmerzen unter einer Stimulanzien-Therapie – nach einigen Studien liegen diese Beschwerden bei über der Hälfte der Patienten vor, wodurch die Adhärenz beeinträchtigt wird.

Dass diese unerwünschten Wirkungen bei den unterschiedlichen zur Therapie zugelassenen Medikamenten zum Beispiel teilweise gegensätzliche Symptome induzieren, was Appetit und Schlafen angeht, erwähnt die Leitlinie ebenso wenig, wie die Potenziale von – künftig eventuell sogar fixen – Präparate-Kombinationen. Hier muss der Leser mit dem sehr umfangreichen Literaturverzeichnis Vorlieb nehmen.

Die Langversion der Leitlinie greift diese und weitere Problematiken lediglich in einem umfangreichen Kapitel "Weiterer Forschungsbedarf" eingehend auf. Die Leitlinie soll aber fortgeschrieben werden. Schon für 2022 ist eine Neufassung angekündigt.



Autor:

Dr. med. Ulrich Enzel

Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde
74193 Schwaigern

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (14) Seite 19-22