Das rascheste und ökonomischste Instrument zur Schmerzdiagnostik in der Allgemeinmedizin sind unsere fünf Sinne. Richtig eingesetzt kann dann der "sechste Sinn" – die eigene Intuition oder Körperwahrnehmungsfähigkeit – aus der Medizin eine "Heilkunst" machen. Das funktioniert aber nur, wenn man nicht nur vorliegende Befunde studiert, sondern den Patienten auch "angreift", um ihn zu begreifen.

Nur wenige Minuten bleiben dem Allgemeinarzt heute für die Untersuchung und Behandlung eines Patienten. Trotzdem kann er auch in dieser kurzen Zeit effizient arbeiten. Die Differenzialdiagnostik von Nacken-, Schulter- oder Armbeschwerden und von Lendenwirbelsäulen-, Becken- oder Hüftbeschwerden dauert nicht lang. Wann immer es mir möglich ist, hole ich z. B. meine Patienten persönlich im Wartezimmer ab. Ich beobachte, wie sie aufstehen, und analysiere ihr Gangbild. So kann ich häufig schon verschiedene Blickdiagnosen, wie ein Hüfthinken, einen Morbus Bechterew, eine Hemiparese nach Insult oder ein Parkinsonsyndrom, feststellen. Danach nehme ich mir kurz Zeit, dem Patienten zuzuhören und die Anamnese zu erheben. Wichtige Fragen sind hierbei: Wo genau tut es weh? Seit wann bestehen die Schmerzen? Welche Schmerzqualitäten sind vorhanden? Welche Untersuchungen wurden schon gemacht? Was hat bisher geholfen, was nicht?

Bei der körperlichen Untersuchung lasse ich den Patienten mindestens die schmerzende Region entkleiden. Ich beobachte dabei auch, wie er sich auszieht oder welche Schonhaltung er einnimmt. Dann untersuche ich am sitzenden Patienten die Hals- und Brustwirbelsäule sowie die oberen Extremitäten. Die Lendenwirbelsäule untersuche ich zuerst im Stehen von hinten, dann auch im Sitzen und zuletzt gemeinsam mit den unteren Extremitäten in Rückenlage. Ich fasse den Patienten mit meinen Händen an, palpiere die Schmerzpunkte und prüfe das Bewegungsausmaß der Gelenke.

Erst danach schaue ich mitgebrachte Röntgen- oder MR-Bilder an und überlege, welche Veränderungen zu meiner klinischen Untersuchung beziehungsweise Verdachtsdiagnose passen und welche Darstellungen der Bildgebung vielleicht gar nichts mit den Schmerzen zu tun haben. Der Radiologe hat die Aufgabe, alle Veränderungen zu beschreiben. Wir Hausärzte sind hier im Vorteil: Wir haben den Patienten vor uns, um ihn untersuchen zu können. Auch lese ich immer erst am Schluss eventuell vorhandene weitere Befunde von anderen Ärzten oder Krankenhäusern. Viele Patienten sind über mein Verhalten überrascht: Sie legen mir z. B. einen ganzen Stapel an Vorbefunden auf den Tisch und meinen, es stünde alles Relevante drin. Ich schiebe die Dokumente dann erst mal zur Seite und untersuche den Patienten.

Die Arbeit mit den Händen

Besonders wichtig ist für mich dabei das Arbeiten mit meinen Händen: Man soll den Patienten anfassen, damit man ihn auch "begreifen" kann. Dieses Hinfassen ist in der Hausarztpraxis, aber auch in der Orthopädie viel zu sehr ins Hintertreffen geraten. Oft stützt man sich nur noch auf Bildgebung und Schmerztherapie.

Der Arzt kann z. B. sehr schnell bei Nacken-, Schulter- oder Armschmerzen unterscheiden, ob es sich um ein einfaches Zervikalsyndrom, eine Pathologie der Schulter oder möglicherweise um einen zervikalen Bandscheibenprolaps handelt. Man prüft am besten die Beweglichkeit der Halswirbelsäule, die Außenrotation und Abduktion des Schultergelenks im Seitenvergleich und kann sofort eine Frozen Shoulder oder eine Omarthrose sowie eine Bursitis subacromialis oder eine Rotatorenmanschettenläsion feststellen. Wer es beherrscht, kann eine Infiltration – entweder in das Schultergelenk oder in den Subacromialraum – als schnelle und effiziente Akuttherapie vornehmen. Durch Lateralflexion der Halswirbelsäule, Retroflexion und Rotation lassen sich die Foramina intervertebralia von C5/6 und C6/7 einengen: Jeder Patient mit einem Prolaps wird mit heftig einschießenden Schmerzen in den Arm reagieren. Auch Bizeps- und Trizepskraft im Seitenvergleich sind schnell überprüft. Damit erhalte ich immer gute Hinweise, ob der Patient wirklich einen Prolaps an der Halswirbelsäule hat. Auch an der Lendenwirbelsäule oder an der Hüfte kann man sofort eine Differenzialdiagnose stellen. Ich palpiere die Schmerzlokalisation an der Lendenwirbelsäule. Der Patient soll sich dabei auf den Rücken legen, und ich prüfe bei gebeugtem Hüftgelenk die Innenrotation und den Lasègue. Die aktivierte Coxarthrose wird bei Innenrotation meist mit einem Leistenschmerz reagieren, der Patient mit Prolaps wohl einen positiven Lasègue-Test zeigen. Durch Überprüfung des Fersen- oder Zehenspitzengangs sehe ich eine Peroneusparese bei Prolaps L4/5 oder eine Parese des Triceps surae bei Prolaps L5/S1.

Viel häufiger als der Bandscheibenvorfall ist übrigens der sogenannte unspezifische Kreuzschmerz. Untersucht man diese Patienten genauer mit den Händen, wird man druckschmerzhafte Punkte über den Facettengelenken oder über den Iliosakralgelenken finden. Man kann zudem Blockaden der Wirbelgelenke feststellen und nach Möglichkeit lösen. Häufig tritt der Kreuzschmerz auch im Rahmen einer Pseudospondylolisthese auf. Diese Patienten klagen vor allem nach dem Aufstehen über Kreuzschmerzen, die sich dann durch Bewegung im Tagesverlauf bessern.

Die Therapie

Die Therapie hat das Ziel, den Patienten schnellstmöglich wieder mobil zu machen und längere Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden. Eine Infiltrationsbehandlung am lumbalen Facettengelenk ist leicht zu erlernen und bietet gegenüber einer NSAR-Therapie eine wesentlich wirksamere und mit weniger Nebenwirkungen behaftete Behandlung. Bei sorgfältigem sterilen Arbeiten kommt es dabei praktisch nie zu Komplikationen. Ist die Diagnose nach Erstuntersuchung oder -behandlung noch unklar oder passen die Befunde nicht zusammen, sollte man eine Bildgebung veranlassen. Ich greife meist auf ein normales Röntgenbild zurück, das mir viele Informationen über die Statik der Wirbelsäule und degenerative Veränderungen gibt. Lediglich bei Prolapsverdacht oder Verdacht auf Meniskus- oder Bänderverletzungen strebe ich eine MR-Diagnostik an.

Natürlich wird es immer wieder therapieresistente Patienten geben oder solche mit sogenannten "Red Flags", die dann auch an den Facharzt beziehungsweise stationär zu überweisen sind. In den Schmerzambulanzen gibt es dafür aber leider oft viel zu lange Wartezeiten, sodass die Akutbehandlung in sehr vielen Fällen dem Hausarzt vorbehalten ist. Auch sollte man immer an weiterführende Maßnahmen denken, die zu einer Verhaltensänderung des Patienten führen, wie Physiotherapie, Beratung zur Bewegung und Ernährung, Erlernen von Entspannungstechniken – alles hilfreiche Tipps gegen die heutige Bewegungsarmut. Nur so lässt sich die Wahrscheinlichkeit eines Schmerzrezidivs oder einer Chronifizierung erfolgreich abwenden.

Wie eingangs beschrieben, bin ich davon überzeugt, dass es durch eine rasche und gründliche Untersuchung und das "Begreifen" des Patienten vor allem für den Hausarzt möglich ist, in den allermeisten Fällen schnell, richtig und effizient Schmerzen zu behandeln.



Autor:

Dr. med. Martin Steiner

Arzt für Allgemeinmedizin, Ordinationsgemeinschaft Carneri
A-8010 Graz

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (7) Seite 30-34