Eine Patientin klagt über andauernde Schmerzen. Sie wirkt zudem depressiv und hilflos. Ist dies ein chronisches Schmerzsyndrom oder liegt auch eine Persönlichkeitsstörung vor? Bei chronischen Schmerzen sollte man zudem auch an eine somatoforme Schmerzstörung denken, die psychische Ursachen haben kann.

Kasuistik 1: Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Drogenabhängigkeit
Biographie: Die 30-Jährige wächst als einzige Tochter einer drogenabhängigen Mutter und ohne Vater auf. Früher gab es Kontakte zur Drogenszene. Sie berichtet von emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit.

Verlauf: Die Patientin träumt von einem geregelten Leben mit Familie. Selbstwerteinbrüche beantwortet sie mit der Einnahme von Drogen. Der massive Drogenkonsum verhindert eine Anpassung an die Realität. Die Therapiestunden hält sie nur unzuverlässig ein.

Technik: Arzt und Patientin schließen einen Therapievertrag, der eine regelmäßige Substitutionsbehandlung vorsieht. Verhaltensanalysen klären den Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Gefühlen. Eine störungsspezifische Psychotherapie (TFP) schließt sich an, in Krisensituationen eine supportive Psychotherapie.

Ergebnis: Eine langjährige, zweimal wöchentliche Psychotherapie erfolgt.

Bei schweren Persönlichkeitsstörungen, wie dem Borderline-Syndrom, sind körperliche Schmerzen häufig und als Ausdruck des inneren Leidens der Patienten zu sehen. In der Regel gelingt es hier gut, die Betroffenen auf ihre psychischen Probleme direkt anzusprechen. Anders bei somatoformer Schmerzstörung, also anhaltenden Schmerzen, für die sich keine körperliche Ursache finden lässt: Die Patienten lehnen eine psychische (Mit-) Begründung der Schmerzen zunächst meist ab. Der Arzt sollte sich diesen Konflikten besonders behutsam und "medizinisch" nähern. Generell gilt: Borderline-Patienten sollte man frühzeitig zum Psychotherapeuten oder Psychiater überweisen. Der chronische Schmerzpatient kann hingegen von hausärztlicher Behandlung und begleitender Psychotherapie profitieren.

Persönlichkeitsstörungen

Eine Persönlichkeitsstörung ist durch bestimmte Verhaltens-, Gefühls- und Denkmuster geprägt, die deutlich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen. Die charakteristischen Persönlichkeitszüge einer spezifischen Persönlichkeitsstörung sind überdauernd, unflexibel, wenig angepasst und führen zu Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen Funktionsbereichen [3]. Durch den Zusammenhang mit Suizidalität, Selbstverletzung und chronischen Schmerzen hat die Borderline-Störung eine Sonderstellung unter den Persönlichkeitsstörungen. Sie zeigt sich durch ein Muster interpersoneller und affektiver Instabilität sowie Impulsivität und – laut neurobiologischer Befunde – durch ein negatives Selbstbild und eine erhöhte emotionale Reagibilität.

Otto F. Kernberg fasst diese und weitere Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (u.a. narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörung) in einem Konzept zusammen und spricht von sogenannten schweren Persönlichkeitsstörungen (auch Borderline-Organisationsniveau). Diese sind vor allem durch Identitätsstörungen und spezifische Abwehrformen wie Spaltung (in Gut und Böse) sowie Idealisierung und Entwertung anderer Menschen charakterisiert [6]. Schwere Persönlichkeitsstörungen zeigen sich häufig durch negative Affekte und Emotionen, auch starke Aggressionen, zum Teil auch widersprüchliche Wahrnehmungen (von sich selbst und anderen) sowie Gefühle von innerer Leere.

Somatoforme Schmerzstörung

Andauernder quälender Schmerz, der nicht durch eine körperliche Erkrankung genau zu erklären ist und mit Belastungen und Konflikten auftritt, gilt als das entscheidende Merkmal der somatoformen Schmerzstörung [3]. Typisch sind ein eher biologisch orientiertes Krankheitskonzept – der Patient empfindet dabei etwa die Funktion eines Körperteils als mangelhaft –, meist eine eher geringe Fähigkeit zur Affektwahrnehmung und -toleranz sowie eine herabgesetzte Selbstbeobachtungsfähigkeit. Häufig gehen hier gescheiterte Behandlungsversuche voraus: Durch die (manchmal kränkende) Ausschlussdiagnostik ("Es fehlt Ihnen nichts, Sie sind körperlich ganz gesund") lässt sich eine tragfähige Arzt-Patient-Beziehung schwer aufbauen. Die Krankheitsrolle bleibt dem Patienten oft verwehrt, er fühlt sich entwertet und stigmatisiert.

Kasuistik 2: Schmerzpatient mit Opioidmissbrauch
Vorgeschichte: Bei dem 49-jährigen Patienten liegt ein Pethidinmissbrauch (wegen schmerzhafter chronischer Nierenkoliken mit rezidivierenden Steinbildungen) sowie eine kongenitale Hörschwäche vor. Es erfolgte eine stationäre Einweisung zum Opioidentzug, bei der aber keine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde.

Eintritt: 50 mg Pethidin i. v. alle drei Stunden wegen starker Schmerzen. Der Patient zeigt Widerstand gegen den Opioidentzug, bleibt jedoch freundlich. Er ist aber der festen Überzeugung, die Steinneubildung immer direkt zu spüren. Eine depressive Störung ist nicht erkennbar. Der Patient wird auf 60 mg Morphin retard pro Tag eingestellt.

Verlauf: In einer multidisziplinären Schmerzkonferenz erfolgt das weitere Prozedere: Therapievertrag, Substitution mit oralen Opioiden, kein Pethidin zu Hause, bei vermehrten Schmerzen stationäre Aufnahme und Kontakt zum "Pain Service".

Ergebnis: Eine stabile Medikation über Jahre und regelmäßige Termine beim Hausarzt.

Schmerzen bei Borderline und somatoformer Störung

Bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen sind Depressionen, Essstörungen und Suchterkrankungen häufige psychiatrische Komorbiditäten (Kasuistik 1). Bei den Patienten ist die Schmerzschwelle reduziert [1] und sie haben mehr chronische Schmerzen (Arthritis, Kopf- und Rückenschmerzen) sowie psychische Symptome (Aggressionen, Angst und depressive Symptome) als Patienten mit anderen psychischen Störungen. Typische Borderline-Symptome sind dabei mit dem Ausmaß chronischer Schmerzen assoziiert [7].

Bei Patienten ohne schwere Persönlichkeitsstörung zeigen sich chronische Schmerzen auch als somatoforme Schmerzstörung. Diese Störung hängt primär nicht mit einer Suchtproblematik zusammen, kann aber in ungünstigen Fällen eine Abhängigkeitserkrankung auslösen (z. B. durch einen schädlichen Gebrauch von Opioiden, vgl. Kasuistik 2). Falsches ärztliches Verhalten kann in der Frühphase des Beschwerdeverlaufs unter Umständen sogar zur Chronifizierung der Beschwerden und der Schmerzzustände beitragen ("iatrogene Somatisierung") [4].

Psychotherapie bei Borderline

Die massiven Affekte der Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die sich während der Therapiesitzungen direkt (Hilflosigkeit, Angst, Insuffizienzgefühle) oder indirekt (Müdigkeit, Langeweile, Nicht-Verstehen) als emotionale Reaktionen zeigen, können zum Problem werden. Dies belastet häufig die therapeutische Beziehung und führt nicht selten zu Therapieabbrüchen. Dabei kann man diese Patienten, sofern sie sich in Therapie halten lassen, teils mit sehr gutem Erfolg behandeln.

Störungsspezifische Psychotherapien haben sich bei schweren Persönlichkeitsstörungen als wirksam erwiesen – hier vor allem die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) mit dem derzeit höchsten Evidenzgrad. Gute Evidenz gibt es auch für die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP), die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die Schematherapie. Die psychodynamisch orientierte TFP geht davon aus, dass bei schweren Persönlichkeitsstörungen gute und böse Objektanteile klar voneinander getrennt sind und aufgrund unkontrollierbarer Aggressionen nicht integriert werden können. Das Therapieziel: Die Integration dieser Abspaltungen in die Komplexität eines differenzierten Selbsts und Objekts mit guten und bösen Anteilen [2].

Bei schweren Persönlichkeitsstörungen sollte man auch immer versuchen, die Patienten in einem ambulanten psychotherapeutischen Setting zu behandeln, um Verlauf und Persönlichkeitsstruktur positiv zu verändern.

Psychotherapie bei somatoformer Schmerzstörung

Leichtere Fälle mit somatoformer Schmerzstörung sollte der Hausarzt behandeln. Eine Überweisung zum Psychotherapeuten oder Psychiater kann – vor allem im Anfangsstadium – für den Patienten kränkend sein und sich negativ auf den Behandlungserfolg auswirken. Als Allgemeinarzt ist es wichtig, eine tragfähige Arzt-Patient-Beziehung aufzubauen, zu beraten und zu informieren. Die Eigenverantwortung des Patienten sollte dabei gefördert werden.

Gemeinsam mit dem Patienten und unter Berücksichtigung der subjektiven Krankheitstheorie sollte ein biopsychosoziales Erklärungsmodell (der Mensch als Teil eines Gesamtsystems) erarbeitet werden und der Patient dabei das Tempo vorgeben. Ist die Schmerzstörung schwerer oder hält länger an, kann eine begleitende Psychotherapie sinnvoll sein. Wichtig ist in jedem Fall eine stärkere Strukturierung der Behandlung (z. B. zeitlich begrenzte Termine) und die Koordination mit anderen Behandlern (z. B. Absprache mit behandelndem Psychiater bei komorbider Depression). Die Psychotherapie der Schmerzstörung lässt sich erfolgreich mit Entspannungsmethoden (z. B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) und Physiotherapie kombinieren. Alle Therapien zielen primär auf ein verändertes Schmerzverhalten ab und sind im Einzel- und Gruppensetting möglich. Probleme machen häufig versicherungsrechtliche Fragen und der sekundäre Krankheitsgewinn des Patienten. Schon vor der Behandlung sollte man diese Themen deshalb ansprechen [5].

Eine ausreichend fundierte Evidenzlage ließ sich bei somatoformer Schmerzstörung bislang nur für die kognitive Verhaltenstherapie nachweisen [8]. Für alle anderen Psychotherapieverfahren liegen derzeit noch zu wenige Studien vor, um daraus evidenzbasierte Empfehlungen ableiten zu können. Aus den Ergebnissen lässt sich allerdings nicht schließen, dass die anderen Verfahren nicht helfen.

Insgesamt lassen sich beide psychischen Störungsbilder – Borderline-Persönlichkeitsstörung und somatoforme Störungen – psychotherapeutisch gut behandeln.


Literatur
1. Bohus M, Limberger M, Ebner U, Glocker FX, Schwarz B, Wernz M, Lieb K (2000). Pain perception during self-reported distress and calmness in patients with borderline personality disorder and self-mutilating behavior. Psychiatry Res 95: 251-260
2. Dammann G, Janssen PL (2007) Psychotherapie der Borderline-Störungen. 2. Auflage. Thieme, Stuttgart
3. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (1991). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, Weltgesundheitsorganisation. Huber, Bern
4. Hausteiner-Wiehle C, Schäfert R, Sattel H, Ronel J, Hermann M, Häuser W, Martin A, Henningsen P (2013). Neue Leitlinien zu funktionellen und somatoformen Störungen. Psychother Psych Med 63: 26-31
5. Jenewein J (2013). Rückenschmerzen und somatoforme Störungen. Ther Umsch 70: 537-541
6. Kernberg OF (2013) Schwere Persönlichkeitsstörungen. 8. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart
7. McWilliams LA, Higgins KS (2013). Associations between pain conditions and borderline personality disorder symptoms: findings from the National Comorbidity Survey Replication. Clin J Pain 29: 527-532
8. van Dessel N, den Boeft M, van der Wouden JC, Kleinstäuber M, Leone SS, Terluin B, Numans ME, van der Horst HE, van Marwijk H (2014). Non-pharmacological interventions for somatoform disorders and medically unexplained physical symptoms (MUPS) in adults. Cochrane Database Syst Rev 11: CD011142



Autor:

Prof. Dr. med. Marc Walter

Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK)
CH-4002 Basel

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (20) Seite 46-49