Frau Meyer, 78 Jahre, kam gestern aus dem Krankenhaus und sitzt mir nun gegenüber. Ich bin dabei, ihr den seit 1. Oktober vorgeschriebenen Medikamentenplan zu erstellen. Die Patientin wurde mit 14 verschiedenen Medikamenten entlassen, insgesamt soll sie 21 Tabletten am Tag einnehmen. Ich erinnere mich daran, was meine Mutter, des Öfteren zu mir sagte: "Bub, weniger ist manchmal mehr!"

14 verschiedene Medikamente, alle angesetzt aus nachvollziehbaren Gründen der Verordner, von unterschiedlichen Spezialisten, anhand der Leitlinien diverser Fachgesellschaften. Im Einzelnen betrachtet alles korrekt. Aber ist das wirklich eine vernünftige, ungefährliche Medizin? Kein Mensch, kein Computerprogramm kann die Interaktionen zwischen so vielen verschiedenen Medikamenten voraussehen. Da gibt es Induktoren, aber auch Inhibitoren des Cytochroms P450, was überwiegt, neutralisieren sie sich? Hinzu kommt: Die Pharmakologie und die Pharmakodynamik im Alter verändern sich gravierend. Über 25.000 Todesfälle durch Medikamentenreaktionen bzw. -interaktionen jährlich in Deutschland, leider wahrscheinlich oft iatrogen verschuldet.

Neben dem bürokratischen und zeitlichen Mehraufwand, den die Pflicht zum Ausstellen eines Medikamentenplanes mit sich bringt, liegt darin auch eine Chance. Wir müssen uns mit der Multimedikation auseinandersetzen und können sie für den Patienten auf ein sinnvolles Maß reduzieren. "Primum nil nocere". Folgen wir dem medizinethischen Prinzip des Non-Malefizienz. Durchforsten wir die Medikamentenpläne nach dem Schadenvermeidungsprinzip. Sicherlich, es gehört ein großes Maß an Überzeugungskraft dazu, dem Patienten etwas, was in der Klinik angesetzt wurde, abzusetzen. Zeigen Sie Selbstbewusstsein und reduzieren Sie die Medikamente dort, wo Sie als Allgemeinarzt es für notwendig erachten. Sie sind der "Spezialist fürs Ganze". Keiner kennt den Patienten in seiner biopsychosozialen Einheit so gut wie der Hausarzt.

Frau Meyer verlässt mein Zimmer mit einem Medikamentenplan, auf dem jetzt nur noch zehn Medikamente stehen. Immer noch zu viel, aber ein erster Schritt – demnächst nehme ich mir den Plan erneut vor. Meine nächste Patientin ist Frau Schneider. Die rüstige 91-Jährige nimmt nichts ein, außer einem niedrigdosierten ACE-Hemmer, Novaminsulfon bei Bedarf und einmal in der Woche eine Vitamin-D-Tablette. "Guten Morgen, Frau Schneider! Wie geht´s Ihnen?" Lächelnd erwidert sie den Gruß: "Gut, ich fühl mich wohl, wollt nur mal nach Ihnen schauen." Wie sagte meine Mutter: "Weniger ist manchmal mehr." Wie recht sie doch hatte.



Autor:

Prof. Dr. med. Burkhard Schappert

Facharzt für Allgemeinmedizin
55116 Mainz

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (19) Seite 5