Die Notfallambulanzen in den Kliniken werden von immer mehr Patienten überrannt, die Krankenhäuser beklagen die Überlastung und liegen mit den Kassenärzten im Clinch. Patienten und Personal in den Notaufnahmen sind genervt. Höchste Zeit also, sich Gedanken über eine Reform der Notfallversorgung zu machen. So dachten offenbar auch die Gesundheitsweisen und legten nun erste Vorschläge für eine radikale Neuordnung der Notfallversorgung vor. Ein Aspekt, der für Diskussionsstoff sorgen dürfte, betrifft die niedergelassenen Ärzte: Sie sollen ihre Praxen länger öffnen.

Zwingt der Ansturm auf die Notfallambulanzen die niedergelassenen Ärzte demnächst dazu, auch an den Wochenenden zu arbeiten? Möglich wäre dies, schaut man sich die Empfehlungen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) an.

Die Notfallversorgung heute

Die Ausgangslage für den SVR stellt sich folgendermaßen dar: In Deutschland werden Notfälle derzeit in 3 voneinander getrennten Bereichen, dem ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD), dem Rettungsdienst und den Klinikambulanzen, behandelt. Besonders auffällig sind stark steigende Inanspruchnahmen in Klinikambulanzen bzw. Notaufnahmen mit langen Wartezeiten für Patienten, ebenfalls stark steigende Transportzahlen im Rettungsdienst sowie generell eine häufig nicht bedarfsgerechte Notfallversorgung auf höheren Versorgungsebenen. Als Folge kommt es zur Überlastung und Unzufriedenheit des Personals sowie zu vermeidbaren Kosten, auch im ÄBD der niedergelassenen Ärzte.

Vor allem Patienten mit Bagatellerkrankungen überlasten die Notaufnahmen der Kliniken. Die Hamburger PINO-Studie (Patientinnen und Patienten in Notaufnahmen) ist kürzlich der Frage nachgegangen, warum das so ist. Dazu waren in drei Kliniken in Hamburg und zwei Häusern in Schleswig-Holstein insgesamt 1.299 Patienten befragt worden.

Patienten klagen über geschlossene Praxen

Bei den Gründen für das Aufsuchen der Notaufnahme (und nicht einer Praxis) dominiert demnach ganz klar die von den Patienten selbst empfundene Dringlichkeit der eigenen Beschwerden. Fast jeder Dritte kam jedoch auf "Anraten von anderen" in die Notaufnahme. Und: 26,1 % betonten, dass ihr Besuch in der Notaufnahme mit den Umständen der "hausärztlichen Verfügbarkeit" zusammenhänge. So gaben 23,3 % an, keine geöffnete Hausarztpraxis gefunden zu haben, 1,1 % hatten in der Hausarztpraxis keinen Termin bekommen, und 1,2 % hatten überhaupt keinen Hausarzt. Nicht viel anders sieht es bei den Spezialisten aus. Hier meinten 21 %, dass die mangelnde Verfügbarkeit von Fachspezialisten der Grund für das Aufsuchen der Notaufnahme ist, auch zu lange Wartezeiten auf einen Termin spielen hier eine Rolle.

Anfang September hat der SVR nun Einblick in seine laufende Gutachtenarbeit gewährt. Im Rahmen eines Werkstatt-gesprächs wurden in Berlin Analysen zum Status quo sowie Empfehlungen zur Zukunft der Notfallversorgung in Deutschland vorgestellt. An der Diskussion der Vorschläge des Sachverständigenrats nahmen neben den Ratsmitgliedern teil: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV), sowie Prof. Dr. André Gries von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Die Gesundheitsweisen empfehlen …

  • Der Rat empfiehlt die Schaffung voll integrierter, regionaler Leitstellen, die über eine bundeseinheitliche Rufnummer erreichbar sind und je nach Patientenanliegen die individuell beste Versorgungsoption wählen. Das für viele Patienten unverständliche Nebeneinander verschiedener Rufnummern (vor allem 112 und 116117) soll damit zukünftig entfallen. Die integrierten Leitstellen können eine telefonische Beratung durch geschultes Personal sowie auch durch erfahrene Ärzte anbieten. Je nach Bedarf erfolgt eine direkte Terminvergabe in Praxen niedergelassener Ärzte oder in integrierten Notfallzentren (INZ). Auch Hausbesuche des ärztlichen Bereitschaftsdienstes und Rettungseinsätze werden hier koordiniert. Wichtig ist dem Rat die nahtlose Verzahnung der bislang drei getrennten Bereiche und die damit einhergehende Bildung von Zentren.
  • Integrierte Leitstellen und INZ können Patienten in einem nach Schweregraden und Dringlichkeit gestuften Versorgungskonzept gemeinsam eine bestmögliche Erreichbarkeit und eine gezielte Steuerung zu bedarfsgerechten Strukturen anbieten. Die Vergabe eines individuellen Termins in einem konkreten INZ soll nur bei vorherigem Anruf bei einer integrierten Leitstelle erfolgen. Patienten, die durch Selbstüberweisung ohne vorherige telefonische Abklärung kommen und bei denen im Rahmen der orientierenden Eingangsuntersuchung keine Dringlichkeit festgestellt wird, müssen ggf. längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Die neu geschaffenen sektorenübergreifenden INZ sollen an bestehenden Kliniken, aber als eigenständige organisatorisch-wirtschaftliche Einheit angesiedelt werden. Als Träger können Kassenärztliche Vereinigungen und Kliniken gemeinsam agieren. Die Länder sollen die INZ-Standorte, ggf. auch durch Ausschreibungen, festlegen und so die Balance zwischen notwendiger Zentralisierung und Flächendeckung gewährleisten. Die Finanzierung soll durch einen extrabudgetären, aus ambulanten und stationären Budgets bereinigten, separaten Finanzierungstopf für sektorenübergreifende Notfallversorgung erfolgen. Der Rettungsdienst soll als eigenständiger Leistungsbereich im SGB V etabliert werden. Zur Beseitigung des Fehlanreizes, Patienten unnötig ins Krankenhaus zu bringen, soll die medizinische Leistung und nicht wie bisher nur die Transportleistung abgerechnet werden.
  • Um möglichst viele Patienten in die Praxen umzusteuern und so die Notfall- einrichtungen zu entlasten, sollen die niedergelassenen Ärzte ihre Sprechzeiten ausweiten und beispielsweise auch am Abend und an den Wochenenden ihre Praxen öffnen.

Extra Geld für längere Sprechzeiten

Die Forderung nach längeren Sprechzeiten für Niedergelassene ergebe sich aus dem steigenden Notfallaufkommen in den Praxen, das mit der Umsetzung der SVR-Empfehlungen einherginge, so der Vorsitzende des SVR, Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, seines Zeichens selbst Allgemeinarzt. Die Ausweitung der Sprechzeiten müsse aber auch entsprechend gefördert werden, so Gerlach. Die Idee der Sprechzeitenausweitung wollte auch KBV-Chef Dr. Andreas Gassen nicht prinzipiell als untauglich von der Hand weisen. Mehrarbeit unter den Bedingungen der Budgetierung sei aber sicherlich schwer vermittelbar. Schon jetzt bekämen Ärzte wegen der Budgetierung einen Teil ihrer Leistungen nicht vergütet. Für die Zusatzsprechstunden forderte er daher ein "Incentive" für die niedergelassenen Ärzte. Würden diese extra bezahlt, fänden sich mit Sicherheit Ärzte, die diese dann auch anbieten würden, so Gassen.

Während der Vorschlag zur Ausweitung der Sprechzeiten in Ärztekreisen erst einmal mit etwas ungläubigem Staunen aufgenommen wurde, konnte Bundesgesundheitsminister Gröhe eine gewisse Sympathie für diese "produktive Provokation" nicht verhehlen, wobei er sich auch vorstellen könne, bei der Extrabudgetären Gesamtvergütung "beherzt" weiter voranzuschreiten.

In der Notfallversorgung wird sich also vielleicht schon ab dem nächsten Jahr etwas ändern. Die endgültigen Empfehlungen zur Zukunft der Notfallversorgung will der SVR im 2. Quartal 2018 dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben.



Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (17) Seite 34-36