Für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) gibt es mit einem verzweigten Netz von Autismuszentren, Autismusbeauftragten, Schulbegleitern, Berufsbildungswerken u. a. ein recht gutes Versorgungssystem. Allgemeinärzte werden in in ihrer Praxis allerdings eher mit der Versorgung von Erwachsenen mit ASS zu tun haben. Nachfolgend beschreiben wir, welche Herausforderungen damit verbunden sind und wie Hausärzte diese bewältigen können.
ASS kann auch im Erwachsenenalter zu zum Teil schweren psychosozialen Problemen, hohem Leidensdruck und zahlreichen sekundären Belastungen führen. Die Komorbiditätsrate psychiatrischer Erkrankungen liegt bei > 50 % [6, 9]. Dennoch werden die meisten Patienten mit ASS in der Erwachsenenpsychiatrie nach wie vor unter unzutreffenden oder falsch gewichteten Diagnosen – nicht selten erfolglos – behandelt.
ASS in der Allgemeinarztpraxis
Erwachsene mit ASS spielen in der hausärztlichen Praxis in unterschiedlicher Weise eine Rolle. Grob umrissen sind wahrscheinlich am ehesten die folgenden drei Zugangswege relevant:
1. Aufgrund der deutlich gestiegenen Dia-gnoserate im Kindes- und Jugendalter werden vermehrt diagnostizierte Autisten in die allgemeinärztliche Behandlung kommen, die dann – im günstigen Fall – bereits ein weitgehend funktionierendes Unterstützungsnetz mitbringen. Bei diesen Patienten geht es vor allem um eine gute Abstimmung mit dem Unterstützungsnetz (Autismuszentren, Schulbegleiter u. a.) und den adäquaten Umgang mit ihnen im Rahmen der Behandlung komorbider somatischer Erkrankungen.
2. Da insbesondere hochfunktionale Autismusformen erst in den 1990er-Jahren in die internationalen Klassifikationssysteme aufgenommen wurden, besteht eine relevante diagnostische Lücke für Personen, die vor 1975 geboren sind. Hier wurde – trotz oft sehr deutlicher Verhaltensauffälligkeiten – die Diagnosestellung einer ASS aufgrund fehlender diagnostischer Kategorie oft versäumt (vgl. Fallbeispiel). Aus diesem Grund finden sich in der hausärztlichen Praxis immer wieder Erwachsene mit einer ASS, bei denen – trotz deutlicher Symptomatik – die Diagnose nie gestellt wurde.
3. Aufgrund der erhöhten medialen Repräsentanz des Themas kommen vermehrt Menschen in die Sprechstunde, die von sich oder ihrem Partner vermuten, dass sie/er eine ASS haben könnte. Aus diesen drei Zugangswegen ergeben sich die Herausforderungen, vor die sich der betreuende Allgemeinarzt häufiger gestellt sieht: Wie gehe ich mit Erwachsenen mit ASS adäquat um? Wie stelle ich den Anfangsverdacht einer ASS? Wohin kann der Patient sich bezüglich Diagnostik, Beratung und Therapie wenden?
- Menschen mit ASS haben selbstverständlich Gefühle, nur werden diese weniger deutlich mimisch und gestisch geäußert.
- Menschen mit ASS können sich weniger gut in ihr Gegenüber hineindenken und erkennen Gefühle ihrer Mitmenschen oft nicht am mimischen Ausdruck, sie empfinden aber durchaus Mitgefühl, wenn jemand Leid erlebt.
- Der Begriff Psychopathie bezeichnet nach derzeitigem Sprachgebrauch eine Entwicklungsstörung mit dem Fehlen von Mitgefühl und Mitleid, sowie vermindertem Ansprechen auf angstauslösende Reize. Diese sollte nicht mit ASS verwechselt werden.
- Diese frühe Theorie ging davon aus, dass das unterkühlte Verhalten der Mutter zu Autismus führt. Sie gilt seit langem als widerlegt.
- Hierzu existieren viele differenzierte Studien, die allesamt zu dem Ergebnis kamen, dass Autismus nicht durch Impfungen verursacht wird.
- Während es immer wieder Einzelfallberichte gibt, in denen unter veränderter Ernährung eine deutliche Symptomverbesserung geschildert wird, zeigte in kontrollierten Studien bislang keine diätetische Maßnahme einen statistisch signifikanten Effekt. Einzige Ausnahme ist der bislang noch nicht replizierte Befund, dass ein in Brokkoli enthaltener Stoff die Symptome von Autismus verbessern solle [11].
Ätiologie, Pathogenese
Insbesondere aufgrund von Zwillingsstudien geht man von einer hauptsächlich genetischen Ursache von Autismus aus. Pathogenetisch wird diskutiert, dass die Vernetzungsstruktur des Gehirns sich dahingehend unterscheidet, dass die lokale (kurzstreckige) Konnektivität verstärkt, die globale (langstreckige) Konnektivität hingegen reduziert ist [7]. Die Theorie des Defizits der "Theory of Mind" bei Autismus nimmt an, dass Menschen mit ASS eine reduzierte Fähigkeit zur "Mentalisierung" innerer Zustände anderer Menschen besitzen, also weniger automatisch Gefühle, Gedanken, Intentionen und Vorwissen ihrer Mitmenschen repräsentieren und darauf eingehen [2]. Kasten 1 fasst einige falsche Klischees und widerlegte Theorien zusammen, zu denen Patienten gelegentlich ihre Ärzte befragen.
Patientin P. (49 Jahre) ist wegen "Burn-out" und "sozialer Phobie" in Behandlung, da sie in sozialen Situationen im Beruf zunehmend nicht mehr zurechtkommt und mehrfach "zusammengebrochen" ist. Unter verhaltenstherapeutischer Behandlung der sozialen Phobie mit Expositionstherapie habe sich ihr psychopathologischer Befund deutlich verschlechtert, es sei darunter zu stundenlangen dissoziationsähnlichen Zuständen mit Mutismus gekommen.
Die Patientin wirkt im Kontakt etwas eigentümlich und berichtet auf Nachfrage von ausgefeilten bewussten Strategien der Steuerung des Sozialverhaltens: So habe sie zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr gelernt, wann und wie man lächle, wann man nicke, wann man "M-hm" sage, wann man in welcher Art von Gespräch das Wort ergreife, wann man jemanden anschaue und wann man wieder wegschaue. Dabei sei es sehr hilfreich gewesen, die Benimmbücher auswendig zu lernen, die ihre Schwiegermutter ihr "wegen ihres schlechten Benehmens" ans Herz gelegt habe, und Schauspielunterricht zu nehmen.
Sie habe auch gelernt, bestimmte Merkmale in Mimik, Gestik und Körperhaltung bewusst zu interpretieren. Zuletzt habe sie bewusst daran gearbeitet, flexibler zu sein, variantenreicher zu essen und in der Öffentlichkeit z. B. nicht mit dem Oberkörper vor und zurück zu "schaukeln". Auf diese Weise habe sie sich von der totalen Außenseiterin, die sie als Kind war, zu einem "Mitglied der guten Gesellschaft" entwickelt. Letztlich sei dieses Sozialverhalten aber immer "Fassade" und "extrem anstrengend" geblieben. Nun könne sie einfach nicht mehr: Inhaltlich komme sie im Beruf durchaus noch zurecht, in sozialer Hinsicht fühle sie sich aber substanziell überfordert und permanent reizüberflutet.
Die differenzierte 75-jährige Mutter der Patientin schildert aus der Kindheit der Patientin zahlreiche autismustypische Auffälligkeiten, wie fehlender Augenkontakt, Defizite der Theory of Mind, mangelnde Fähigkeit, Kontakt mit Gleichaltrigen aufzunehmen, und mangelnde Flexibilität bei veränderten Abläufen mit exzessiven Wutanfällen, die damals aber – trotz mehrfachen Vorstellungen bei Psychologen – zu keiner Diagnosestellung führten.
Es wird die Diagnose einer ASS (ICD-10: F84.5) gestellt, da im Grundschulalter deutliche autistische Symptome vorlagen und der aktuelle Leidensdruck auf diese zurückgeführt werden kann. Aus therapeutischer Perspektive hat die Einbeziehung der ASS-Diagnose in die "Burn-out"-Behandlung weitreichende Implikationen.Fallbeispiel (aus [8], mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers)Diagnosekriterien
Während die Diagnose im Kindes- und Jugendalter mittels standardisierter Beobachtungs- und Anamneseinstrumente gestellt wird, erfolgt die Diagnosestellung im Erwachsenenalter primär klinisch vor allem in Bezug auf die Entwicklungsanamnese und unter Zuhilfenahme von Eigen- und Fremdanamnesen, neuropsychologischen Untersuchungen und psychiatrischem Befund. Als Screening-Instrumente können im Erwachsenenalter u. a. der SRS-A (Social Responsiveness Scale for Adults, [4]) und der AQ (Autismus-Spektrum-Quotient, [3]) bei Personen ohne Intelligenzminderung eingesetzt werden, allerdings ist die Spezifität sehr niedrig, weshalb die Ergebnisse sehr vorsichtig interpretiert werden müssen [1]. Bei klinischem Verdacht und positivem Screening-Ergebnis soll die betroffene Person an eine auf die Diagnostik von ASS spezialisierte Stelle weitergeleitet werden [1]. Die Diagnosekriterien für Autismus-Spektrum-Störungen nach DSM-5 sind in Tabelle 1 zusammengefasst und mit Beispielen häufiger Symptome versehen. Eine Verdachtsdiagnose kann sich aus diesen ergeben und/oder wenn bspw. der Gesprächsrhythmus sehr unflüssig ist, wenn Höflichkeitsregeln (unabsichtlich) nicht beachtet werden, wenn eine zwanghaft anmutende Gleichförmigkeit der Lebensstruktur vorliegt, wenn eine Person von ihrer Umgebung als "schon immer anders als andere" wahrgenommen wird oder sich selbst als "auf dem falschen Planeten gelandet" empfindet.
In der Realität gestaltet es sich – z. B. bei Verdachtsdiagnosen oder dem Wunsch nach Mitbehandlung durch einen mit Autismus erfahrenen Arzt – mitunter schwierig, geeignete Ansprechpartner zu finden. Es empfiehlt sich, sich vor Ort detailliert zu erkundigen, wer sich zuständig fühlt und die notwendige Erfahrung hat, um Screening-Untersuchungen oder auch eine vollständige Diagnostik durchzuführen. In manchen Gegenden können niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten angesprochen werden, in anderen fühlen sich die Fachärzte dafür nicht kompetent. Manchmal kann das lokale Autismuszentrum weiterhelfen. Auf Autismusdiagnostik im Erwachsenenalter spezialisierte Stellen gibt es nur extrem wenige, sodass Wartezeiten von 12 bis 24 Monaten zu erwarten sind. Für die Patienten lohnt sich der Aufwand allerdings in den meisten Fällen: Eine korrekte Diagnosestellung hat meist positive Implikationen, weil sie ein adäquates Verständnis der autistischen Eigenschaften und der sich daraus entwickelnden psychiatrischen Symptomatik ermöglicht sowie einen angemessenen und verständnisvollen Umgang damit erlaubt.
Therapie und Umgang
Da das "autistische Kernsyndrom" nicht "heilbar" ist, fokussiert das therapeutische Herangehen einerseits auf komorbide Erkrankungen (z. B. rezidivierende depressive Störungen) und andererseits auf den Umgang mit den Symptomen der ASS [10]. Eine große Rolle spielen dabei die Psychoedukation (Was ist Autismus? Wie "funktionieren" die anderen und ihre zahlreichen "sozialen Rituale"?) und die Beübung von sozialen Situationen [5]. Die Behandlung komorbider Erkrankungen sollte der autistischen Basisstruktur [12] entsprechend modifiziert werden: Bspw. sollten depressiv Erkrankte mit ASS keineswegs dazu animiert werden, sich viele Stunden unter Menschen zu begeben. Menschen mit ASS fühlen sich dabei lediglich überfordert und reizüberflutet. Einige Hinweise für den Umgang mit Erwachsenen mit ASS sind in Kasten 2 zusammengefasst.
- Ablauf des Gesprächs sollte einer wiedererkennbaren Routine folgen
- Seien Sie anfangs nicht zu spontan im Umgang mit den Patienten
- Transparenz: Informieren Sie die Patienten über Ihre Vorhaben frühzeitig und genau
- Sprechen Sie klar und direkt und weder zu metaphorisch noch zu höflich-indirekt
- Stellen Sie geschlossene und klar fokussierte Fragen, beginnen Sie nicht mit offenen Fragen ("Was führt Sie heute zu mir") oder Fragen nach inneren Zuständen ("Wie ist heute Ihre Stimmung?")
- Bauen Sie Pausen ein für Nachfragen
- Erklären Sie, dass Missverständnisse häufig sind, fragen Sie nach, bis Sie den Patienten verstanden haben, und fragen Sie umgekehrt nach, ob alles verstanden wurde
- Vermeiden Sie Doppeldeutigkeiten, Witze, Redewendungen oder kennzeichnen Sie diese
- Rechnen Sie damit, dass Sie nicht immer sofort eine Antwort bekommen (verlängerte Antwortlatenzen)
- Seien Sie nicht enttäuscht, wenn der Patient Sie außerhalb der Sprechstunde nicht erkennt oder grüßt (häufig liegt eine Prosopagnosie vor)
- Wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Patient Ihre Mimik nicht interpretieren kann oder körpersprachliche Botschaften nicht versteht
- Nehmen Sie undiplomatische Äußerungen, Direktheit oder scheinbar fehlende Sensibilität und fehlenden Blickkontakt nicht persönlich. Interpretieren Sie unsensibles Verhalten nicht automatisch als "narzisstisch"
- Vermeiden Sie unerwartete Berührungen, kündigen Sie körperliche Untersuchungen oder Behandlungen an und erklären Sie sie detailgenau.
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (14) Seite 44-47