Dieser Ausruf wird Ihnen vermutlich befremdlich vorkommen.Dennoch: Aus gemachten Fehlern – es müssen nicht immer die eigenen sein – kann man lernen, künftige Fehler zu vermeiden. Einige Beispiele sollen das im Folgenden illustrieren.

Fehlervermeidungsstrategien zu entwickeln, liegt nicht nur im Interesse der individuellen Psychohygiene des Hausarztes – denn schließlich ist er angetreten, um zu heilen und nicht zu schaden (nil nocere). Sie helfen auch, das gute Image der Praxis zu erhalten. Teilweise sind sie auch gesetzlich vorgeschrieben, denn der Staat hat sich neuerdings das Patientenwohl auf die Fahne geschrieben. Für die Hausarztpraxis ist hier insbesondere die aktuelle Qualitätsmanagement-Richtlinie relevant (Kasten 1). Denn Fehler, die das Wohlergehen des Patienten bedrohen, entstehen seltener durch mangelhafte Kenntnisse oder Fertigkeiten von Arzt oder MFA, sondern meist durch Fehler im Arbeitsablauf oder durch mangelnde Kommunikation der Teammitglieder untereinander. Durch ein systematisches Fehlermanagement können Sie aus den gemachten Fehlern lernen (Kasten 2).

Auszug aus der Qualitätsmanagement-Richtlinie (QM-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses:
Risikomanagement:

Risikomanagement dient dem Umgang mit potenziellen Risiken, der Vermeidung und Verhütung von Fehlern und unerwünschten Ereignissen und somit der Entwicklung einer Sicherheitskultur. Dabei werden unter Berücksichtigung der Patienten- und Mitarbeiterperspektive alle Risiken in der Versorgung identifiziert und analysiert sowie Informationen aus anderen Qualitätsmanagement-Instrumenten, insbesondere die Meldungen aus Fehlermeldesystemen, genutzt. Eine individuelle Risikostrategie umfasst das systematische Erkennen, Bewerten, Bewältigen und Überwachen von Risiken sowie die Analyse von kritischen und unerwünschten Ereignissen, aufgetretenen Schäden und die Ableitung und Umsetzung von Präventionsmaßnahmen. Ein relevanter Teil der Risikostrategie ist eine strukturierte Risikokommunikation.

Fehlermanagement und Fehlermeldesysteme:

Der systematische Umgang mit Fehlern ("Fehlermanagement") ist Teil des Risikomanagements. Zum Fehlermanagement gehört das Erkennen und Nutzen von Fehlern und unerwünschten Ereignissen zur Einleitung von Verbesserungsprozessen in der Praxis.

Gültig seit 16. November 2016

Im Seminar "Fehlermanagement in der Hausarztpraxis" auf dem Seminarkongress Norddeutscher Hausärzte in Lüneburg im Mai 2017 wurden verschiedene Fälle geschildert und mit dem Publikum aus Ärzten und MFAs diskutiert.

Fall 1: Kommunikation ist alles

Der 50-jährige Herr B. ist als klassischer Bluthochdruckpatient ständig "unter Dampf". Beim

letzten Arztbesuch hat er zusätzlich zu seinem Betablocker einen ACE-Hemmer erhalten – ohne Effekt. Bei der Wiedervorstellung stellt sich heraus, dass er seinen Betablocker nicht mehr eingenommen hat. Er dachte, er solle das neue Medikament anstelle des alten einnehmen.

5 Schritte zum erfolgreichen Fehlermanagement:
  1. Fehler erkennen und dokumentieren
  2. Art und Ursachen der Fehler in der Teambesprechung analysieren
  3. Maßnahmen zur Vermeidung zukünftiger Fehler entwickeln
  4. Zeitlichen Rahmen und verantwortliche Person für die Umsetzung der Maßnahmen festlegen
  5. Evaluation und Kontrolle durch die QM-Beauftragte


Zu diesem Fall haben die Seminarteilnehmer sofort hilfreiche Ideen. Zum Beispiel, dass man unaufmerksamen oder zerstreuten Patienten auf jeden Fall auch einen schriftlichen Medikamentenplan mitgeben sollte. Ebenso kann es sinnvoll sein, dass auch die MFA noch einmal nachfragt, was der Patient im Gespräch mit dem Arzt verstanden hat.

Fall 2: Verantwortung im Team teilen

In die übervolle Montagvormittag-Sprechstunde kommt Herr C., 62 Jahre alt, mit akuten Rückenschmerzen. Das Ibuprofen, das er am Wochenende genommen hat, habe nicht geholfen und er müsse heute zur Spätschicht unbedingt wieder fit sein. Er verlangt daher eine Schmerzspritze. Dass diese nicht besser wirkt als entsprechende Schmerztabletten, aber mehr Risiken habe, lässt der Patient nicht gelten. Durch sein "Das kostet doch nicht viel Zeit, Doktor" lässt der sich überreden und gibt ihm eine Diclofenac-Spritze intramuskulär. Im Hinausgehen fragt der Patient noch, wann er als Marcumar-Patient wieder zur INR-Kontrolle kommen soll.

Woran kann es gelegen haben, dass sich der Arzt "bequatschen" ließ, entgegen seiner Überzeugung dem Patienten doch eine Schmerzspritze zu geben? Ein Zeitproblem war auf jeden Fall dabei. Außerdem ist er der Meinung, dass man bestimmte Patienten immer noch am schnellsten mit einer Spritze "überzeugen" kann, denn auch heute noch hat sie für manche etwas "Magisches". Dass Diclofenac als i. m.-Spritze inzwischen offiziell als obsolet gilt, hat diesen Hausarzt noch nicht überzeugt, konnte er doch oft einen guten therapeutischen Effekt bei fehlenden schweren Nebenwirkungen feststellen. "Aber warum hat niemand bemerkt und darauf hingewiesen, dass das ein Marcumar-Patient ist? Das muss doch jedem auffallen! Da muss die MFA, die die Spritze aufzieht, dem Arzt doch einen Hinweis geben, wenn der schon einen Blackout hat", bemerkte eine Seminarteilnehmerin zu Recht. Aus diesem Fall lernen wir, dass jedes Teammitglied insbesondere in der Behandlungssituation zu hoher Aufmerksamkeit aufgefordert ist, auch dann, wenn die Situation eindeutig und banal erscheint.

Fall 3: Hausbesuch oder nicht?

Während der Zeit einer Magen-Darm-Epidemie bittet der 43-jährige Herr M. um einen akuten Hausbesuch. Herr M. ist stark übergewichtig und trinkt reichlich Alkohol. Jetzt habe er Schmerzen im Oberbauch und erhöhte Temperatur. In die Praxis könne er nicht kommen, das sei ohne Auto nicht machbar.

Diesen mitten aus dem hausärztlichen Alltag gegriffenen Fall kennen Sie alle. Jetzt ist die richtige Einschätzung und Entscheidung gefragt. Es kann sich um einen harmlosen Magen-Darm-Infekt handeln (meistens), ebenso aber auch um eine lebensbedrohliche akute Pankreatitis (selten). Leider helfen Wahrscheinlichkeitsrechnungen hier nicht weiter. Die MFA oder der Hausarzt sollten versuchen, am Telefon durch gezielte Nachfragen mehr zu erfahren, um Notwendigkeit und Dringlichkeit des Hausbesuchs zu beurteilen. "Im Zweifel fahre ich hin, auch wenn ich weiß, dass es neun von zehn Mal überflüssig und ärgerlich ist", brachte es ein Hausarzt auf den Punkt. Denn ein nicht gefahrener Hausbesuch bei einem schweren Ereignis kann schnell ein juristisch heikles Problem werden.

Fall 4: Manchmal läuft die Zeit schneller

Frau U. ist 20 Jahre jung und kommt nachmittags neu in die Praxis. Sie klagt über Durst, Übelkeit und Bauchschmerz. Bei der Untersuchung ist der Bauch unauffällig, insgesamt wirkt sie etwas "seltsam". Die Patientin wird für den nächsten Morgen zur Blutentnahme und Wiedervorstellung einbestellt, erscheint jedoch nicht. Mittags erfolgt ein dringender Hausbesuchswunsch seitens der Mutter, weil die Patientin verwirrt und kaum ansprechbar sei. Der Hausarzt trifft sie stuporös und kreislaufstabil an, der Blutzuckerstix misst über 600. Die Mutter berichtet, sie habe ihr "gegen den Durst und die Magen-Darm-Beschwerden" literweise Cola eingeflößt. Die Einweisung erfolgt umgehend per Notarztwagen bei hyperglykämischem Koma.

Ein ungewöhnlicher Fall, der beinahe tragisch geendet hätte. Was ist schiefgelaufen? Die Symptomatik hätte den Hausarzt bereits auf einen bisher unbekannten Diabetes mellitus Typ 1 hinweisen können. Ein Blutzuckerstix beim ersten Praxisbesuch wäre schnell angeordnet gewesen und damit die Diagnose noch rechtzeitig gestellt und der gefährliche Verlauf abgewendet worden. "In unserer Praxis gibt es für solche Fälle definierte Behandlungsabläufe. Bei Durst und Bewusstseinsauffälligkeiten ist da immer der Blutzuckerstix mit drin", berichtete eine Seminarteilnehmerin.

Fall 5: Darüber reden hilft

"Vor 17 Jahren kam ein Patient mit Halsschmerzen und Fieber in meine Sprechstunde. Ich verordnete Penicillin. Nachmittags verschlechterte sich sein Zustand. Trotz umgehender Einlieferung ins Krankenhaus und Beatmung verstarb er dort nach vier Tagen. Die Sektion erbrachte keine eindeutige Todesursache. Im Nachhinein denke ich, dass es sich um einen Peritonsillarabszess gehandelt haben könnte. Noch heute – ich bin inzwischen berentet – bewegt mich dieser Fall zutiefst."

Warum ich Ihnen diesen Fall schildere, der offenbar nicht durch einen ärztlichen Fehler, sondern schicksalhaft fatal endete? Weil ich glaube, dass solche prägenden Erlebnisse so manchen Arzt belasten, aber selten Hilfe in Anspruch genommen wird. Im Fall der zitierten Kollegin wäre es hilfreich gewesen, wenn sie nicht über lange Jahre allein darüber gegrübelt hätte, ob sie etwas falsch gemacht hat, sondern das Erlebte zeitnah im Team, im Qualitätszirkel oder in der Balintgruppe, mit dem Partner oder mit Freunden erörtert hätte.

Im Internet gibt es das für Hausärzte sehr empfehlenswerte Diskussionsforum
http://www.jeder-fehler-zaehlt.de

in dem jeder Hausarzt und jede MFA bei unbeschränktem Zugang eigene Fehler sanktionsfrei berichten kann. Die Berichte – inzwischen sind es ca. 900 – werden vom Betreiber des Forums, dem Institut für Allgemeinmedizin an der Uni Frankfurt/M., anonymisiert und können in einem offenen Online-Forum diskutiert werden. Denn man kann auch aus den Fehlern anderer lernen.



Autor:

Dr. med. Alfred Haug

Arzt für Allgemeinmedizin
28355 Bremen

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (12) Seite 66-68