In der Kooperation von Arzt und Patient geht es implizit oft um das Thema Sicherheit. Häufig fühlen Patienten sich durch ihre Erkrankung verunsichert, nicht selten sehen sie in Krankheitsursachen Feinde, die ihr Leben bedrohen. Sie erleben sich als Opfer und suchen im Arzt einen Retter, der gleichzeitig ihren "Feind" unschädlich machen soll. Wie dies auf kommunikativem Wege gelingt und welche Rollen dem Arzt in diesem Prozess zufallen, wird in diesem Beitrag aus Sicht der Salutogenese geschildert.

Salutogene Kommunikation
Mit der Wortschöpfung Salutogenese (lat. salus = Gesundheit, Heil, Glück und griech. génesis = Entstehung, Entwicklung) hat der Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 70er-Jahren die Frage nach der Entstehung von Gesundheit, nach einer gesunden Entwicklung des Menschen in die moderne Wissenschaft eingebracht. Der Begriff ist analog zu dem Begriff Pathogenese (griech. páthos = Schmerz, Leid), der die Lehre der Entstehung von Krankheit bezeichnet. Die salutogene Kommunikation geht von einem übergeordneten Streben des Menschen nach Stimmigkeit, Verbundenheit und Entwicklung aus. Intention ist es, sich durch Kommunikation attraktiven und gesunden Zielen anzunähern und Schädigendes zu vermeiden. Gute zwischenmenschliche Beziehungen und kreative Kooperation sollen gefördert werden.

Quelle: Zentrum für Salutogenese

Bleiben wir bei dem Bild des Arztes als "Retter vor dem Feind": Als Arzt nehmen wir verschiedene Rollen ein. Zunächst sind wir Detektiv (wir suchen den Verursacher, die Erkrankung), dann Richter, der das Urteil fällt (die Diagnose), und zuletzt die Exekutive (‚Rächer‘), die den Übeltäter unschädlich macht (Behandlung, Medikament). Insgesamt hoffen wir, dass der Patient nach der Bekämpfung der Krankheit gesundet. In Bezug auf einige Krankheiten, wie bakterielle Infektionen, ist diese Vorgehensweise erfolgreich.

Manche Ärzte haben diese Arztrolle als Retter, Richter und Rächer derart internalisiert und kultiviert, dass sie nicht nur in Bakterien und verletzenden Gewalttätern einen bösen Feind sehen, sondern in allen Krankheiten. So beginnt das Buch "Mit dem Arzt auf Augenhöhe" mit dem Kapitel: "Bluthochdruck – the silent killer" [2].

Das Beziehungsmuster des Opferdreiecks

Im Laufe der kulturellen Evolution wurde im Bemühen um Sicherheit der Bürger einer politischen Einheit das Beziehungsmuster des Opferdreiecks kultiviert [11]: Ein Opfer sucht und braucht ggf. einen Retter für seine aktuelle Sicherheit und einen Richter und Rächer, um den Täter von weiteren Übeltaten abzuhalten und somit seine zukünftige Sicherheit herzustellen (Abbildung 1). Als Opfer fühlt man sich bedroht. Deshalb ist das motivationale Abwendungssystem aktiv. Dieses, auch Vermeidungssystem genannte, neuropsychische System ist mit dem Gefühl von Angst und Unsicherheit verbunden und bringt den Organismus in einen Stresszustand [3, 4, 8, 9]. Der Mensch versucht aus diesem Gefühl herauszukommen. Wenn ihm das gelingt, ist sein Selbstvertrauen gestärkt; er kann wieder entspannen und sich seinen Annäherungszielen zuwenden. Das neuropsychische Annäherungssystem motiviert uns positiv, es springt an, wenn wir unseren Bedürfnissen und/oder attraktiven Zielen folgen. Ein Annäherungsmodus ist mit Dopaminausschüttung verknüpft, also mit einem Gefühl von Lust – eine ‚innere Belohnung‘.

Wenn der Mensch aber die bedrohliche Situation nicht abwenden oder vermeiden kann, entsteht leicht chronischer Stress, er fühlt sich weiterhin als Opfer (bewusst oder unbewusst) und sucht einen Retter und Richter und/oder einen Verursacher.

Dieses Beziehungsmuster (auch als "Dramadreieck" bezeichnet [5]) findet heute besonders in der Traumatherapie Beachtung [14, 15]. Das Besondere an diesem Beziehungsmuster ist, dass wir alle Rollen im fliegenden Wechsel übernehmen können. Diese Rollen können wir mit aktuellen Begriffen aus der Psychotherapie als ‚Ich-Zustände‘ verstehen. Dabei sind Retter und Richter in unserer Kultur höher bewertet als Täter und Opfer. Deshalb suchen viele Menschen aus einem Opfergefühl dorthin zu fliehen, indem sie andere retten und/oder beurteilen. Dazu sind nicht nur alle helfenden Berufe geeignet, sondern auch Lehrer, Juristen, Polizei u. Ä.

Fliegende Rollenwechsel

Haben wir eben noch als Retter für den Patienten diesem ein Medikament verschrieben, werden wir zum Täter, wenn der Patient unter unerwünschten Nebenwirkungen leidet, und womöglich fühlen wir uns als Opfer, wenn er uns Vorwürfe macht (und diese z. B. im Internet verbreitet). Der dann ‚schwierige‘ Patient kam in der Opferrolle in unsere Behandlung und suchte Rettung, wurde aber weiter zum Opfer, jetzt durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder eine eingreifende schmerzhafte Untersuchung. Bei sensiblen Menschen reichen schon eindringliche Fragen oder als Drohung wahrgenommene Formulierungen: "Wenn Sie die Medikamente nicht nehmen, können Sie einen Herzinfarkt bekommen." Um aus der unangenehmen Rolle des Opfers herauszukommen, geht der Patient dann womöglich über in eine Richterrolle und macht uns Vorwürfe oder verurteilt uns. Damit werden wir als Täter zum Opfer seiner Justiz. Wir rächen uns dann an ihm, indem wir wiederum in die Richterrolle schlüpfen und ihn zum "schwierigen Patienten" erklären. Besonders schwierig ist es z. B., wenn ein Patient uns mit Selbstverletzung oder gar Suizid droht. Dann kreisen wir womöglich in Windeseile gefühlt durch alle Rollen: Wir wollen ihn eigentlich retten, glauben aber zu wissen, dass der von ihm gewünschte Weg nicht funktioniert, und könnten durch unser (Nicht-)Handeln zum Täter werden; dabei fühlen wir uns gleichzeitig als Opfer einer Erpressung.

Paradoxerweise führt jetzt das Beziehungsmuster, das eigentlich kulturell für Sicherheit sorgen soll, zu einer verstärkten Unsicherheit. Wenn wir ehrlich sind, fühlen wir uns womöglich genauso ohnmächtig und hilflos wie der Patient.

Welche Rolle, welche Beziehung ist hilfreich?

Wir müssen rauskommen aus der Eigendynamik dieses Beziehungsmusters, ohne uns mit einer dieser Rollen zu identifizieren. Zunächst können wir uns selbst mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen wohlwollend wahrnehmen. Aus diesem Ganz-bei-sich-Sein können unterschiedliche Aktivitäten folgen.

Wenn wir uns wie in dem Beispiel mit dem Suizid-androhenden Patienten gerade hilflos fühlen, dann können wir genau dies mitteilen: "Ich fühle mich jetzt gerade hilflos." Wenn wir als Arzt auf diese Weise aus der Dynamik des Beziehungsmusters aussteigen, öffnen wir auch dem Patienten die Möglichkeit, aus dem Opferdreieck auszusteigen und zu sich zu kommen. Wir öffnen mit unserem ehrlichen Mitgefühl den Raum für eine partnerschaftliche Begegnung.

Das Ziel unserer Beratung und Hilfe ist, den Patienten bei der Entfaltung seiner Autonomie zu unterstützen. Indem wir selbst aus dem Opferdreiecksmuster aussteigen, eröffnen wir ihm den Raum zu seiner Entfaltung. Wenn wir ihn jetzt nach seinen Gefühlen und Bedürfnissen fragen, regen wir seine autonome Selbstregulation weiter an. So kommen wir in eine gänzlich andere Kooperation mit dem Patienten. Wir wissen, dass es eine endgültige Sicherheit nicht gibt, und geben uns deshalb mit der aktuell möglichen Sicherheit zufrieden und suchen Annäherungsziele. Im Annäherungsmodus können wir dialogisch neue, möglicherweise vorher nicht sichtbare Lösungen finden – hier kann Gesundung und Kreativität stattfinden [6, 7, 9, 12].

Nachhaltige Kooperation im Annäherungsmodus

Bluthochdruck ist häufig Folge eines anhaltenden Stressgefühls, also einer Aktivität des Abwendungssystems. Eine Überschrift wie "Bluthochdruck – the silent killer" kann zu vermehrtem Stress und einer Kultivierung der Hypertonie führen. Das geschieht leicht, wenn wir den Patienten mehr von Krankheitsrisiken erzählen als von Gesundheitschancen – bei fast allen chronischen Erkrankungen ist das der Fall. Wenn wir dem Patienten die Risiken des Bluthochdrucks vor Augen halten, machen wir ihm Angst und aktivieren sein Abwendungssystem weiter. Er bekommt noch mehr Stress und es wird für ihn noch schwieriger, den Blutdruck zu regulieren, in Entspannung zu kommen.

Bei chronischen Erkrankungen ist eine erhöhte Aktivierung des Abwendungsmodus selbst ein pathogener Faktor [9, 10]. So kann der Retter durch seine Kommunikation im Beziehungsmuster des Opferdreiecks zum Täter werden. Für eine langfristig salutogene Kooperation brauchen wir ein gemeinsames Annäherungsziel [6, 7, 10]. Das erfordert auch eine andere Kommunikation, eine andere Rolle und Qualität von Beziehung zum Patienten [12, 13].

Wir teilen sein Bestreben, seine Intentionalität [10, 17] zu Wohlergehen und Autonomie: Er soll lernen, zunehmend selbst für seine Sicherheit und sein Wohlbefinden zu sorgen. Aaron Antonovsky [1], der den Begriff ‚Salutogenese‘ erfunden hat, hat die Metapher vom Strom des Lebens geprägt, in dem wir alle schwimmen. Wenn nun ein Mensch in diesem Strom unterzugehen droht, ziehen Mediziner ihn auf ein Rettungsboot in Sicherheit, päppeln ihn auf und schmeißen ihn dann wieder in den Fluss oder behalten ihn lebenslang auf dem Rettungsschiff. Das ist die Herangehensweise einer pathogenetisch orientierten Medizin. Salutogen wäre es, den Patienten zu lehren, wie er besser schwimmen kann im Lebensstrom. Das ist Autonomie.

Seine autonome, gesunde Selbstregulation anzuregen sollte unser Fokus bei der Behandlung und in der Kommunikation sein, ganz besonders bei Menschen mit chronischen Erkrankungen [9]. Anstatt ihm immer wieder von den vielen statistischen Risiken, allen möglichen Spätfolgen der Erkrankung zu erzählen (die er meist schon kennt), können wir ihn häufiger nach seinen Hoffnungen, Gefühlen und Bedürfnissen und attraktiven Gesundheitszielen fragen und gemeinsam Wege zur Annäherung finden. Seinen persönlichen Gesundheitszielen dient unsere langfristige Kooperation [10]. Dabei können wir ihm ggf. auch raten, Medikamente zu Hilfe zu nehmen. Diese nimmt er ein, damit die Chance auf ein Erreichen seiner Annäherungsziele erhöht wird, und nicht primär mit dem Gefühl des Abwendens einer Bedrohung. Abwenden einer Gefahr wird explizit als ein Dienst zur Annäherung an attraktive Ziele gesehen. Diese motivationale Hierarchie zu beachten ist eine gute Grundlage für eine nachhaltig erfolgreiche Kommunikation und Kooperation mit Patienten.


Literatur
1. Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. dgvt, Tübingen
2. Breuer HW (2008) Mit dem Arzt auf Augenhöhe. Hannover: Humboldt
3. Elliot AJ (Ed.).(2008) Handbook of approach and avoidance motivation. New York: Psychology Press
4. Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
5. Karpman S.: Drama triangle. http://www.karpmandramatriangle.com/
6. Petzold TD (2011a) Salutogene Kommunikation. In: Petzold TD, Lehmann N (Hrsg.)(2011): Kommunikation mit Zukunft. Salutogenese und Resonanz. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung. S.141-163
7. Petzold TD, Lehmann N (2011b) Salutogenesis, globalization, and communication. In: Special Issue of International Review of Psychiatry Dec 2011, Vol. 23, No. 6, Pages 565-575
8. Petzold TD (2013a) Gesundheit ist ansteckend! Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana
9. Petzold TD (2013b) Salutogene Kommunikation und Selbstregulation. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 92: 131-145
10. Petzold TD (2015) Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10
11. Petzold TD (2016) Fliehen können und ankommen dürfen. Der Mensch 53: 22-29
12. Petzold TD (2016): http://www.salutogenese-zentrum.de/cms/main/wissenschaft/kommunikation-theorie.html
13. Petzold TD, Bastian R (2017) Schöpferische Kommunikation. Verlag Gesunde Entwicklung, Bad Gandersheim
14. Ruppert F (2012a) Trauma, Angst und Liebe. Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit und wie Aufstellungen dabei helfen. München: Kösel Verlag.
15. Ruppert F (2012b): http://www.gesunde-autonomie.de/images/pdf/tter-opfer-spaltung-tagung-ruppert.pdf
16. Schmidbauer W (2007) Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer. Reinbek: Rowohlt
17. Tomasello M (2010) Warum wir kooperieren. Berlin: suhrkamp verlag



Autor:

Theodor Dierk Petzold

Arzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren,
Lehrbeauftragter Medizinische Hochschule Hannover,
Zentrum für Salutogenese
37581 Bad Gandersheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (11) Seite 64-68