Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Menschen jeglichen Kalibers gehört zum Alltag in einer Arztpraxis. Die Herausforderung besteht darin, jedem Patienten mit der gleichen Offenheit entgegenzutreten und sich in seine Bedürfnisse einzufühlen. Das ist nicht immer leicht, denn nicht mit jedem Charakter kommt man gut aus. Wie gelingt es, dass Arzt und Patient mit einem guten Gefühl auseinandergehen? Emotionale Intelligenz und Empathie sind die Schlüsselwörter und sie spielen im Privaten wie auch im Berufsalltag eine entscheidende Rolle.

"Wer Erfolg im Leben haben will, muss klug mit seinen Gefühlen umgehen können und das emotionale Alphabet beherrschen können." EQ statt IQ heißt die neue griffige Formel, mit der Daniel Goleman (US-amerikanischer Psychologe, Dozent Harvard University) einen Nerv unserer Zeit trifft. Sein Bestseller zeigt spannende Forschungsperspektiven zu einem Thema, das uns alle betrifft: "die Wiedervereinigung von Herz und Verstand".

Durch den Begriff "emotionale Intelligenz" macht sich eine neue Trendwende bemerkbar, die mittlerweile auch im Berufsleben Eingang findet. Auf die Fähigkeit, Verständnis zu zeigen und Konflikte kommunikativ zu lösen, wird immer mehr Wert gelegt. In der Begegnung mit Patienten sind diese Fähigkeiten unerlässlich, beruht doch die ganze Behandlung auf der Kommunikation miteinander.

Jede neue Bewegung und jeder neue Trend braucht einen Wahlspruch und dieser lautet für die emotionale Intelligenz: "Habe Mut, Dich Deiner Emotionen zu bedienen." Auch Jungen und Männer dürfen Gefühle zeigen – der Erziehungsspruch "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" gilt nicht mehr. Früher wurden Frauen, die schon immer als gefühlsbetonter galten, von bestimmten Berufen ferngehalten, heute ist das eher der umgekehrte Fall. Wichtiger als jemals zuvor wird das Erleben und Steuern von Glück und Unglück, von Angst und Freude, Erregung und Trauer. Wir leben in der Zeit eines neuen Interesses, eines neuen Bewusstseins und einer neuen Haltung zu unseren Gefühlen. Es geht nicht mehr nur um die logische Gewissheit meiner Existenz, sondern um die Erfahrung des Lebens und Erlebens: "Ich fühle, also bin ich." Sie als Arzt benötigen diese emotionale Intelligenz im Umgang mit Ihren Patienten, Ihren Mitarbeitern und nicht zuletzt für sich selbst.

Sprachgebrauch der Gefühle beherrschen

Emotionen aber begrifflich zu fassen und zu definieren ist nicht immer einfach. Stellen Sie sich einmal vor, Sie begegnen einem Wesen von einem anderen Planeten und dieses Wesen kennt keine Gefühle. Sie versuchen nun, zu erklären, was Traurigkeit ist. Sicherlich würden Sie diese drei Bereiche beschreiben:

  • die auslösende Situation (z. B. den Verlust eines Menschen),
  • das Ausdrucksverhalten (z. B. Weinen),
  • den Hinweis auf das innere Erleben. In diesem Punkt besteht die Schwierig-keit: das innere Erleben, das Gefühl der Traurigkeit zu erklären.

Das heißt also, zur emotionalen Bildung gehört es, mit dem Sprachgebrauch der Gefühle vertraut zu sein. Dies ist in jeder beruflichen oder persönlichen Kommunikation von Vorteil. Unsere Sprache ist leider nicht immer eindeutig. Um Ihre eigenen Gefühle und die der anderen richtig zu verstehen, ist es notwendig, dass Sie sich über die Vieldeutigkeit der Wörter im Klaren sind. Je besser Sie die Sprache der Gefühle beherrschen, umso erfolgreicher werden Sie im Umgang mit Ihren Mitmenschen sein.

Emotionen zulassen

Die fünf Grundelemente erfolgreicher Einflussnahme:

  1. Aktives Zuhören
  2. Verständnis signalisieren: Am Anfang steht immer die Akzeptanz der Gefühle des anderen
  3. Geben Sie emotionale Berührungen: Nehmen Sie bei anderen Menschen positive Eigenschaften wahr und gehen Sie darauf ein
  4. Emotionale Berührung annehmen: Komplimente offen entgegennehmen
  5. Feedback erhalten: das Gefühl von Verständnis und Akzeptanz

Seien Sie sich bewusst: Gefühle sind keine Störfaktoren im Leben eines Menschen, sondern ganz wichtige, bedeutsame Vorgänge, die für seinen Lebenserfolg und sein Glück von entscheidender Bedeutung sind.

Wenn wir von der Intelligenz der Gefühle reden, gehören dazu jede Menge Fähigkeiten: sich selbst zu motivieren, sich in der Kontrolle zu haben, Impulse zu unterdrücken und eigene Stimmungen zu regulieren. Emotionale Intelligenz hilft uns dabei, Probleme zu lösen und glücklich zu werden. In diesem Zusammenhang können wir, glaube ich, von einem neuen Zeitalter der Gefühle sprechen. Wir können es auch als eine Trendwende bezeichnen.

Die Psychologen John Meier und Peter Salovey haben 1980 den Begriff der emotionalen Intelligenz eingeführt, Daniel Golemann hat ihn mit seinem Buch dann bekannt gemacht. Wir können den Begriff emotionale Intelligenz auch in etwa gleichsetzen mit dem Begriff der sozialen Kompetenz. Wir kennen Menschen, die sagen nie das Richtige und können auch nie richtig mit Menschen umgehen, hingegen erleben wir andere, die sehr viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen besitzen.

Trainierbare Faktoren für emotionale Intelligenz:
  • Empathie (wertfreies Einfühlungsvermögen – ohne dabei ins Mit-leiden zu gehen)
  • Selbstakzeptanz
  • Die eigenen Emotionen und Gedanken kennen und handhaben
  • Innere Haltung der Allparteilichkeit
  • Umgang mit Beziehungen

Emotionale Intelligenz in schwierigen Situationen

Wir wissen, dass Konflikte in allen Bereichen unseres Alltags dazugehören, sei es privat oder beruflich. Wenn Sie hohe emotionale Intelligenz besitzen, bedeutet das auch nicht, dass Sie nicht trotzdem einmal "ausrasten". Nicht die Vermeidung von Konflikten oder das Aus-dem-Weggehen von Auseinandersetzungen sind die Besonderheiten der emotionalen Intelligenz, sondern vielmehr die Möglichkeit, wie Sie damit umgehen. Emotional intelligente Menschen gehen erfolgreicher mit anderen Menschen um, da sie Situationen steuern und Einfluss auf ihr Gegenüber nehmen können. Schauen wir uns einmal folgende Situation an:

Frau Schneider, eine engagierte Mitarbeiterin in einem Unternehmen und Mutter, ist wie immer unter Zeitdruck. In dieser Situation passiert etwas, was das Fass für sie zum Überlaufen bringt. Sie stellt fest, dass sie dringend noch ein Rezept für ihre Schilddrüse benötigt. Ihre Arztpraxis hat am Mittwoch bis 12:30 Uhr geöffnet, sie erscheint dort eine Minute vor Praxisschließung und wird von den Mitarbeitern gebeten, am nächsten Morgen wiederzukommen. Frau Schneider ist entsprechend geladen und wettert los. Das ist wieder typisch, immer wenn man etwas dringend benötigt, ist gerade Feierabend. So etwas würde es in der freien Wirtschaft nie geben. Die Mitarbeiterin schüttelt bedauernd den Kopf und schließt die Tür der Praxis ab. Frau Schneider ist keinen Schritt weitergekommen.

Einfacher Ziele erreichen

Sehen wir die Situation einmal anders: Frau Schneider kommt eine Minute vor 12:30 Uhr in die Arztpraxis, dort weist die Mitarbeiterin sie darauf hin, dass sie gleich schließen. Frau Schneider lächelt sie freundlich an und sagt: "Sie haben sich Ihren Mittwochnachmittag verdient, Sie sind bereits seit 7:30 Uhr im Einsatz. Aber ich benötige ganz dringend Ihre Hilfe, ich muss heute Nachmittag für vier Wochen verreisen und möchte natürlich, dass ich mit meinen Medikamenten versorgt bin. Welche Möglichkeit habe ich, wie können Sie mir helfen?" Die Mitarbeiterin lächelt sie an und sagt: "Kommen Sie, ich mache eine Ausnahme und mache noch eben das Rezept für Sie fertig, der Doktor unterschreibt es noch."

Diese Situation soll uns zeigen, was es heißt, emotionale Intelligenz einzusetzen und wie einfach das sein kann. Denn Situationen wie diese ereignen sich täglich in unserem Leben und nicht nur Ihr Gegenüber, auch Sie selbst können Ihren persönlichen Nutzen davon tragen:

  • Sie können sich und Ihre Lebenssituation besser verstehen. Sie erfahren, dass Ihre Persönlichkeit dadurch gestärkt wird. Sie fühlen sich reifer, wenn Sie mehr wissen und mehr erleben können.
  • Das angemessene Erkennen und Erleben von Gefühlen ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Umgang mit Emotionen.
  • Sie können besser mit negativen Gefühlen umgehen, weil Sie in der Lage sind, Abstand und Distanz dazu zu nehmen.

Menschen mit höherer emotionaler Intelligenz kennen natürlich auch negative Gefühle, aber sie sind ihnen nicht so hilflos ausgeliefert. Stellen Sie sich einmal vor: Sie ärgern sich schon lange über das Verhalten einer Mitarbeiterin Ihnen gegenüber. Sie sprechen mit der Mitarbeiterin darüber, sind sich dabei auch im Klaren, dass sie sicherlich negativ reagieren wird. Dies trifft auch ein, und trotzdem war das Gespräch für Sie erfolgreich, denn Sie haben klar dargelegt, was Sie stört und was Sie in Zukunft erwarten. Sie können damit umgehen, dass die Mitarbeiterin in Zukunft distanzierter zu Ihnen ist.

Empathie zeigen

Kommen wir nun zur Empathie, dem Einfühlungsvermögen. Die Empathie ist ein wesentlicher Bestandteil der emotionalen Intelligenz. Je besser wir uns in einen anderen Menschen hineinversetzen können und ihn verstehen können, desto besser und leichter können wir mit ihm umgehen.

Vergessen Sie dabei nicht, dass auch die nonverbale Kommunikation einen starken Einfluss auf die Empathie hat. Kennen Sie das Indianersprichwort: "Gehe den Weg in meinen Mokassins"? Damit möchte ich den Begriff der Empathie noch verdeutlichen. Die moderne Psychologie spricht von einem Perspektivenwechsel, d. h. sich in die Situation des anderen versetzen, sich einmal auf die andere Seite zu stellen, dorthin, wo der andere sich gerade befindet. Empathie ist dann gelungen, wenn Sie das emotionale Leben Ihres Gegenübers richtig deuten.

Tipps, wie Sie Empathie in Gesprächen zeigen:
  • Zeigen Sie eine offene Körperhaltung
  • Halten Sie Blickkontakt (denn der Blick schafft Kontakt)
  • Sorgen Sie für eine störungsfreie Atmosphäre ohne Zeitdruck
  • Unterbrechen Sie Ihren Gesprächspartner nicht
  • Fragen Sie nach, kontrollieren Sie den Dialog
  • Arbeiten Sie mit offenen Fragen
  • Drücken Sie die Anteilnahme aus, ohne jedoch sofort belehrend zu wirken
  • Wiederholen Sie das, was der andere gesagt hat
  • Sagen Sie Ja und suchen Sie Gemeinsamkeiten



Autor:

Sibylle May

Beraterin, Trainerin, Systemischer Coach, Mediatorin
40489 Düsseldorf

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (2) Seite 74-76