Auch Hausärzte stehen immer häufiger vor der Aufgabe, unter Zeitdruck eine wachsende Zahl adipöser Kinder und Jugendlicher kompetent zu beraten, Komorbiditäten zu diagnostizieren, zu behandeln und den Zeitpunkt zu erkennen, zu dem eine stationäre oder spezialisiert pädiatrische Behandlung erforderlich ist. Frühzeitiges, möglicherweise sogar präventives Handeln ist gerade bei den "Kleinen" besonders effektiv. Jugendliche brauchen dabei häufig eine andere Ansprache. Bewegungsarmut, hoher Medienkonsum und ein Überangebot stark zucker- und fetthaltiger Lebensmittel haben die Lebensbedingungen Heranwachsender entscheidend verändert.


Kasuistik

Paul ist 14 und geht in die 8. Klasse. Seit einem halben Jahr besucht er die Schule nur noch unregelmäßig. Er ist morgens immer müde, hat einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus und seine Mutter berichtet über lautes Schnarchen.

Anamnestische Daten: Deutsche Familie, Einzelkind, Mutter/Vater Realschulabschluss, beide arbeiten bei Discounter im Schichtdienst.

Familiäre Risikofaktoren: Beide Eltern adipös, beide rauchen stark, bei der Großmutter (mütterlicherseits) ist hohes Cholesterin bekannt, aber unbehandelt. Der Großvater (väterlicherseits) verstarb mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt.

Anthropometrie Paul: Aktuelles Gewicht: 107 kg, Größe: 168 cm, BMI: 37,9 kg/m²
(entspricht einem behandlungsbedürftigen Übergewicht von ca. 40 Kilo), Geburtsgewicht: 2,7 kg, 49 cm, nach 40. SSW

Selbstauskunft („Baustellenzettel“):

  • Getränke: früher viele Energy-Drinks, Softdrinks, jetzt nur noch Wasser
  • Portionen: groß, immer hungrig
  • Mahlzeitenrhythmus: Hauptmahlzeit spät abends, manchmal kein Frühstück, mittags belegtes Brötchen/Kuchen vom Bäcker
  • Lebensmittelauswahl: viel Obst, kein Gemüse, wenig Vollkorn-Produkte
  • Alltagsbewegung: fährt gern Longboard, Fahrrad
  • Sport: keiner
  • Medienkonsum: über acht Stunden am PC (meist Onlinespiele), teilweise auch nachts
  • Süßigkeiten, Snacks, Fast Food: wenige Süßigkeiten, 2x/Woche Fast Food (TK-Pizza), häufiges Snacking (Chips, Erdnüsse)
  • Stimmung/Gefühle: fühlt sich müde und schlapp, geringes Selbstbewusstsein, jedoch kein Leidensdruck bezüglich Gewicht


Rationelle Diagnostik

Am Anfang der Diagnostik steht neben Familienanamnese (kardiovaskuläre Ereignisse, Diabetes, Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen) und körperlicher Untersuchung die Erfassung von Größe, Gewicht sowie Taillen- und Hüftumfang, welche in Perzentilenkurven einzutragen sind. Denn derselbe Body-Mass-Index führt bei einem vierjährigen Kleinkind, einem neun- oder zwölfjährigen Schulkind oder einem 16-jährigen Jugendlichen zu unterschiedlichen Diagnosen [1, 2] (Abb. 1). Ursächliche Grunderkrankungen sind selten, müssen jedoch erkannt oder ausgeschlossen werden. Hierzu gehören z. B. Hormonstörungen (Morbus Cushing, Hypothyreose, hypothalamische Störungen, Kraniopharyngeom), monogenetische Adipositas-Formen [3], eine syndromale Adipositas (Prader-Willi-Syndrom, Bardet-Biedl-Syndrom) oder chronische Erkrankungen, die mit Immobilität einhergehen, sowie eine Medikamentenanamnese (systemische Glukokortikoide, Insulin, Valproat, Phenothiazine). Die Labordiagnostik sollte sich initial auf nüchtern bestimmtes Gesamt-Cholesterin, HDL- und LDL-Cholesterin, Triglyceride, Transaminasen, Blutzucker, Harnsäure, TSH und ein peripheres Schilddrüsenhormon (fT4, T3 oder T4) beschränken und ggf. erweitert werden – nach Anhaltspunkten aus der Anamnese oder der körperlichen Untersuchung [4].

Ein Essprotokoll über drei Tage und gezieltes Nachfragen zu Ernährungs- und Essgewohnheiten kann auf eine mögliche Essstörung, z. B. Binge Eating Disorder, aufmerksam machen und eine psychologische (Depression, Angststörung, Mobbingerfahrungen [5]) sowie psychosoziale Verhaltensdiagnostik nach sich ziehen. Die Selbsteinschätzung der zehn gewichtsrelevanten Lebensbereiche nach der "Babeluga-Baustellen-Methode", zusammengestellt nach den Leitlinien verschiedener pädiatrischer Fachgesellschaften, ist gut einzusetzen (Abb. 2 und 3 sowie Kasuistik). Nach dem Ampelsystem werden grüne (gut), gelbe (noch verbesserungsfähig) und rote Baustellen (hier brauchen die Patienten/Familien noch am meisten Unterstützung) definiert [6].

Tipp
Unter http://www.babeluga-berlin.de gibt es die Arbeitsblätter zum Download kostenlos.

Rationelle Therapie

Bei adipösen Kindern ohne Komorbiditäten, die noch nicht ausgewachsen sind, kann das Halten des Gewichts bei gleichzeitigem Längenwachstum ausreichen, um das Normalgewicht zu erreichen
(1 cm ↑ = 1 kg ↓). Bei Kindern und Jugendlichen mit bereits bestehenden Komorbiditäten (Tabelle 1) und einer Adipositas, die nicht mehr "ausgewachsen" werden kann, muss eine Gewichtsreduktion angestrebt werden [7].

Der therapeutische Ansatz für eine Adipositas sollte – unabhängig vom Alter des Kindes – immer multimodal angelegt sein. Langfristig kann nur eine Veränderung des Lebensstils in Zusammenhang mit Ernährungsumstellung und regelmäßiger, körperlicher Bewegung zum Erfolg führen. Entscheidend ist die Motivation des Patienten. Bei Kindern ist eine familienbasierte Therapie notwendig. Bei Jugendlichen tritt eine Anleitung zum Selbstmanagement deutlich in den Vordergrund. Die einzelnen Schritte sind, das Gewicht zu halten – mit einer sich anschließenden, langsamen Gewichtsreduktion bis hin zu einer Stabilisierungsphase, um den Erfolg nachhaltig zu sichern.

Gewicht halten

Häufig kann allein durch eine Veränderung des Getränkekonsums eine Gewichtsstabilisierung erreicht werden. Dies ist deshalb die erste "Baustelle", mit der begonnen werden sollte (Abb. 2 und 3). Empfohlen sind nur ungesüßte Getränke (Wasser, Tee), sowie – wenn unbedingt gewünscht – maximal 1 Glas Saft (150 ml) pro Tag (Zuckergehalt von z. B. 1 Liter Orangensaft: etwa 40 Stück Würfelzucker). Die Essmenge sollte sich an der Ernährungspyramide für Kinder und Jugendliche [8] sowie an der "Handregel" [9] (Abb. 4) orientieren und keinesfalls einer Erwachsenenportion entsprechen.

Die regelmäßige Verteilung der Mahlzeiten über den Tag (drei Hauptmahlzeiten, bei kleineren Kindern zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten) ist ebenso anzustreben wie gemeinsam eingenommene Mahlzeiten ohne Ablenkung (kein Fernsehen, kein Handy).

Bei der Auswahl geeigneter Lebensmittel sollte ein Schwerpunkt auf frisches Obst (maximal zwei Hände voll) und zwei bis drei Gemüseportionen sowie zucker- und fettarme Lebensmittel gelegt werden. Vollkornprodukte (insbesondere Vollkornbrot) sollten – wegen der länger anhaltenden Sättigung – bevorzugt werden.

Natürlich sind auch für übergewichtige und adipöse Kinder Süßigkeiten erlaubt! Sie sollten jedoch auf eine Hand voll pro Tag reduziert werden. Eltern und Kinder müssen auch lernen, welche Lebensmittel eigentlich "Süßigkeiten" sind (z. B. ein Becher Fruchtjoghurt (250 g = 13 Zuckerwürfel*)). Besonders bei Jugendlichen sollte der Fast-Food-Konsum auf ein- bis zweimal pro Monat beschränkt werden. Das "Snacking" von salzigen Knabberartikeln oder Nüssen sollte nur eine Handportion pro Tag ausmachen.

* Für ein Stück Würfelzucker wurden
2,5 g Zucker angenommen.

Langsame Gewichtsreduktion

In Kombination mit der Ernährungsumstellung sollte die Alltagsbewegung auf 60 – 90 Minuten/Tag gesteigert werden. Kleine Veränderungen, wie die Treppe statt den Fahrstuhl zu nehmen, den Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bewältigen oder auch einige Stationen früher aus dem Bus auszusteigen, um das restliche Stück zu laufen, können leicht in den Tagesablauf integriert werden. Zusätzlich zum Schulsport wird Vereinssport (zweimal/Woche) dringend empfohlen. Dabei ist Ausdauersport, bei extrem adipösen Jugendlichen ggf. Reha-Sport oder ein begleitetes Training in einem Fitness-Studio besonders geeignet.

Der Medienkonsum sollte zugunsten der vereinbarten Bewegungsziele auf maximal zwei Stunden pro Tag bei Jugendlichen und deutlich weniger bei kleineren Kindern begrenzt werden. Dem natürlichen Bewegungsdrang gesunder Kleinkinder sollten Eltern nicht durch das stundenlange "Parken" ihres Kindes vor dem Fernseher oder die Nutzung des elterlichen Handys oder Tablets zur Belohnung entgegenwirken.

Häufig ist eine Verhaltenstherapie im Rahmen der Lebensstil-Veränderungen notwendig und hilfreich. Einige Patienten profitieren von einer psychotherapeutischen Unterstützung zum Motivationserhalt.

Stationäre Reha-Maßnahmen

Insbesondere bei extrem adipösen Jugendlichen können auch stationäre Rehabilitations-Maßnahmen (Kur oder Reha) zum Einsatz kommen. Diese über Krankenkassen oder Rentenversicherungen finanzierten Angebote ermöglichen in der Regel eine schnellere Gewichtsreduktion in ärztlich überwachtem und therapeutisch begleitetem Setting. Um eine Nachhaltigkeit derartig kostspieliger Maßnahmen zu gewährleisten, sind einige Punkte vor Antragstellung zu bedenken: Soll ein Kind z. B. ohne Begleitperson fahren, ist gemeinsam mit der Familie zu überlegen, ob eine räumliche Trennung von mehreren Wochen für das Kind wirklich förderlich ist. Dies ist in der Regel erst ab einem Alter von 11 Jahren zu empfehlen. Wenig erfolgversprechend – bezogen auf den längerfristigen Erfolg – sind stationäre Reha-Maßnahmen bei fehlender Eigenmotivation, bei ambulant schwer zu führenden oder bislang ambulant wenig erfolgreichen Patienten. Sie eignen sich nicht als "Verzweiflungstat"!

Übergang in die pädiatrische Spezialsprechstunde

Eine Anbindung an ein multimodales Therapieprogramm mit einem multidisziplinären Team aus Ärzten, Ernährungs-, Psycho- und Sporttherapeuten ist für alle Altersbereiche empfehlenswert. Ein umfassendes Angebot von pädiatrischen Spezialsprechstunden, die Adipositas-Patienten betreuen, ist allerdings nicht flächendeckend vorhanden. Auch die telefonische Abstimmung zur weiteren Diagnostik oder Therapie mit einem erfahrenen Pädiater oder spezialisierten Zentrum kann hilfreich sein, falls wohnortnahe Angebote fehlen.


Literatur
1. Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Kunze D et al. (2001) Perzentile für den Body-mass-Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschrift Kinderheilkunde 149: 807–818
2. Robert Koch-Institut, ISBN 978-3-89606-218-5, Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Referenzperzentile für anthropometrische Maßzahlen und Blutdruck aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS),2. erweiterte Auflage
3. Biebermann H. Krude H. Elsner A. Chubanov V. Gudermann T. Grüters A. (2003) Autosomal-dominant mode of inheritance of a melanocortin-4 receptor mutation in a patient with severe early-onset obesity is due to a dominant-negative effect caused by receptor dimerization. Diabetes. 52:2984-8.6.
4. AGA (Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter) (2014) Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter (S2) www.a-g-a.de/Leitlinie
5. Janssen I, Craig WM, Boyce WF, Pickett W (2004) Associations between overweight and obesity with bullying behaviors in school-aged children. Pediatrics, 2004 May; 113(5):1187-94
6. Ernst M, Wiegand S (2010) Adipositastherapie bei Kindern und Jugendlichen einmal anders. Die BABELUGA-Methode, Prävention, Therapie, Selbstmanagement. Huber Verlag, Bern
7. AGA (Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter) (2009) Evidenzbasierte Leitlinien zur Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter (S3) www.a-g-a.de/Leitlinie
8. www.aid.de/ernaehrung/ernaehrungspyramide.php
9. Mannhardt S (2003) Ernährungspyramide für Kinder: Entwicklung und Anwendung. Ernährung im Fokus 3:206–209



Autorin:

Dr. med. Birgit Jödicke

Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ)
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
13353 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (16) Seite 48-55