Psychiatrische Notfälle spielen im Rettungswesen eine große Rolle und sind meist Ausdruck einer Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen oder stehen in Zusammenhang mit psychomotorischen Erregungszuständen oder akuter Suizidalität. Ziel des Notfallmanagements ist es dabei in erster Linie, eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung abzuwenden. Da psychische Auffälligkeiten und körperliche Symptome häufig miteinander einhergehen, sollte gleichzeitig an die Möglichkeit einer somatischen Störung gedacht werden.

Fallbeispiel: Akuter Verwirrtheitszustand mit Fremdgefährdung
Der Rettungsdienst wird in die Wohnung des 54-jährigen Herrn M. gerufen. Seine Ehefrau schildert, er habe sich in den letzten Tagen ungewöhnlich verhalten, sei häufig unkonzentriert und würde nachts kaum schlafen. Vor zwei Tagen habe er in der Küche Gasgeruch bemerkt und daraufhin alle Fenster geöffnet. Im Hausflur sei es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarn gekommen, da er auch dort alle Fenster öffnen wollte. Frau M. habe immer wieder versucht, ihn zu beschwichtigen, allerdings ohne Erfolg. Er wirke seitdem sehr gereizt und habe ihr zwischenzeitlich sogar vorgeworfen, mit einem der Nachbarn ein Verhältnis zu haben. Jetzt habe sie bemerkt, dass auf dem Nachttisch ein Küchenmesser liegt, weswegen sie Angst habe, er könne ihr etwas antun.

Bei Eintreffen der Rettungssanitäter kommt es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung, da Herr M. glaubt, er würde jetzt verhaftet werden. Vorerkrankungen bestünden keine, Alkohol- und Drogenkonsum werden von Frau M. verneint. Als schließlich der Notarzt eintrifft, wirkt Herr M. gereizt und psychomotorisch angespannt, ist dabei jedoch wach und reagiert prompt auf Ansprache. Die Vitalparameter sind etwas erhöht (HF 112/min, RR 165/100 mmHg, BZ 110 mg/dl), der Kreislauf ist jedoch stabil.

Halluzinationen und irrationale Überzeugungen führen zu der Arbeitsdiagnose "schizophrene Psychose", wobei aufgrund der psychomotorischen Anspannung und vorbereitenden Handlungen zu einer Gewalttat (Messer bereitlegen) eine akute Fremdgefährdung festgestellt wird. Der Notarzt besteht auf einer stationären Aufnahme in der Psychiatrie, was Herr M. jedoch ablehnt. Da sein krankheitsbedingtes Verhalten mit einer erheblichen Fremdgefährdung assoziiert ist, die nicht anders abzuwenden ist, wird die örtliche Ordnungsbehörde hinzugezogen, welche einen sofortigen Unterbringungsbeschluss nach § 14 des "Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)" erwirkt, woraufhin Herr M. einer psychiatrischen Klinik zugeführt wird.

In der Aufnahmeuntersuchung ergibt sich ein Atemalkohol von 0,0 Promille. Der psychopathologische Befund zeigt eine zeitliche und situative Desorientierung, leichte kognitive Defizite, eine Störung der Merkfähigkeit und eine formalgedankliche Verlangsamung. Konspirative und bedrohliche Überzeugungen des Patienten lassen sich anhand der äußeren Umstände und unter Berücksichtigung der Fremdanamnese nicht nachvollziehen, sind im Gespräch nicht korrigierbar und erscheinen dem Patienten unmittelbar evident, weswegen sie als wahnhaft eingestuft werden. Anhaltspunkte für eine Ich-Störung oder für Trugwahrnehmungen, insbesondere für akustische Halluzinationen, liegen nicht vor bzw. werden von Herrn M. verneint. Hinweise für akute Suizidalität ergeben sich ebenfalls nicht. Bei der körperlichen Untersuchung fällt ein "fraglich positives" Babinskizeichen auf. Der Aufnahmearzt veranlasst daraufhin eine zerebrale Bildgebung, bei welcher ein subdurales Hämatom mit frontaler Ausdehnung festgestellt wird. Herr M. wird anschließend zur weiteren Beobachtung in eine neurochirurgische Klinik überwiesen.

Psychiatrische Notfälle gehören zu den häufigsten Einsatzursachen im Rettungswesen und werden je nach Region und Einsatzstelle mit einer Prävalenz von 10 – 60 % angegeben [1, 2]. Kennzeichen des psychiatrischen Notfalls ist, dass eine Person aufgrund einer kognitiven oder emotionalen Beeinträchtigung für sich selbst oder ihre Umgebung eine Gefahr darstellt und sich hieraus ein unmittelbarer Handlungsbedarf ergibt. Zu den häufigsten Ursachen gehören dabei Alkohol- oder Drogenmissbrauch (30 – 43 %), psychomotorische Erregungszustände (12 – 30 %) und akute Suizidalität (13 – 25 %) [3].

Situation schnell einschätzen

Betroffene geben oft unspezifische Symptome an und verfügen nicht immer über die notwendige Krankheits- oder Behandlungseinsicht. Für das Notfallmanagement ergeben sich daher besondere Herausforderungen, sowohl im Hinblick auf den Umgang mit dem Patienten als auch in Bezug auf besondere Sicherheitsmaßnahmen und Kenntnisse über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Die wesentlichen Schritte der Notfallversorgung bestehen darin, die Situation möglichst schnell und systematisch einzuschätzen, erste kriseninterventionelle Maßnahmen durchzuführen und die weiteren Behandlungsschritte festzulegen [4].

Somatische Ursache abklären

Da psychische Störungen häufig gemeinsam mit körperlichen Symptomen auftreten und sich psychische und körperliche Beschwerden oft wechselseitig beeinflussen [5], sollte vor Einleitung einer psychiatrischen Behandlung zuerst eine somatische Ursache ausgeschlossen werden. Dabei gilt es einzuschätzen, ob die vorliegende Symptomatik Ausdruck einer Intoxikation, eines Entzugssyndroms oder einer körperlichen Erkrankung sein kann und eine weitergehende somatische Diagnostik oder Behandlung erfordert. Wie retrospektive Analysen zeigen, wird dieser Prozess, der in der Regel als "medizinisches Clearing" bezeichnet wird [6], im psychiatrischen Notfallmanagement häufig vernachlässigt [7, 8].

Neben Alkohol- oder Drogen-assoziierten Störungen sind dabei vor allem neurologische, metabolische oder entzündliche Ursachen zu berücksichtigen [9].

Wann an organische Ursachen denken?

Mitunter können psychische Beschwerden als einzige klinische Manifestation einer lebensbedrohlichen Erkrankung in Erscheinung treten (pseudopsychiatrischer Notfall) – etwa bei metabolischer Entgleisung, akutem Koronarsyndrom, epileptischem Anfallsstatus, Hirnblutung oder zerebraler Ischämie. An ein organisches Syndrom sollte insbesondere dann gedacht werden, wenn psychische Beschwerden neu aufgetreten sind oder mit visuellen Halluzinationen, Desorientierung oder einer Bewusstseinsstörung einhergehen und sich Auffälligkeiten im körperlichen Untersuchungsbefund oder bei Messung der Vitalparameter ergeben [10] (vgl. Übersicht 1). Im Rahmen eines "medizinischen Clearings" sollten dabei in jedem Fall Informationen über die Vorgeschichte, den zeitlichen Verlauf der psychischen Symptomatik sowie die wichtigsten körperlichen Untersuchungsbefunde eingeholt (Übersicht 2) und ggf. weiterführende Untersuchungen (z. B. Notfalllabor, EKG, CCT) veranlasst werden.

Wie das Fallbeispiel zeigt, wird eine organische Störung oft nicht in Betracht gezogen, sobald psychische Symptome das Geschehen dominieren. Im genannten Fall hätten mehrere Anhaltspunkte als Indiz für ein organisches Syndrom gewertet werden können:

  1. Das akute Auftreten psychischer Symptome bei fehlender Vorgeschichte.
  2. Die rasche Entwicklung einer Desorientierung mit kognitiven Defiziten.
  3. Das Fehlen einer schlüssigen Konstellation für eine schizophrene Psychose (hohes Alter bei Erstmanifestation, geringe Dauer, Fehlen von Erstrang-Symptomen).

Zusammengenommen hätte dies bereits als Hinweis für ein Delir gewertet werden können. Möglicherweise hat die eingeschränkte Kooperationslage des Patienten dazu geführt, das medizinische Clearing nachrangig zu behandeln. Die Möglichkeit einer körperlichen Störung sollte jedoch immer in Betracht gezogen werden, auch wenn psychische Symptome das Geschehen dominieren.


Literatur:
1. Mavrogiorgou, P., M. Brune, and G. Juckel, The management of psychiatric emergencies. Dtsch Arztebl Int, 2011. 108(13): p. 222-30.
2. Pajonk, F.G., et al., [Psychiatric emergencies in the physician-based system of a German city]. Fortschr Neurol Psychiatr, 2001. 69(4): p. 170-4.
3. Pajonk, F.B., [The situation of emergency psychiatry in Germany].Nervenarzt, 2015.
4. D’Amelio, R., et al., Psychologische Konzepte und Möglichkeiten der Krisenintervention in der Notfallmedizin.Notfall + Rettungsmedizin, 2006. 9(2): p. 194-204.
5. Testa, A., et al., Psychiatric emergencies (part II): psychiatric disorders coexisting with organic diseases. Eur Rev Med Pharmacol Sci, 2013. 17 Suppl 1: p. 65-85.
6. Lukens, T.W., et al., Clinical policy: critical issues in the diagnosis and management of the adult psychiatric patient in the emergency department. Ann Emerg Med, 2006. 47(1): p. 79-99.
7. Janiak, B.D. and S. Atteberry, Medical clearance of the psychiatric patient in the emergency department. J Emerg Med, 2012. 43(5): p. 866-70.
8. Reeves, R.R., E.J. Pendarvis, and R. Kimble, Unrecognized medical emergencies admitted to psychiatric units. Am J Emerg Med, 2000. 18(4): p. 390-3.
9. Henneman, P.L., R. Mendoza, and R.J. Lewis, Prospective evaluation of emergency department medical clearance. Ann Emerg Med, 1994. 24(4): p. 672-7.
10. Testa, A., et al., Psychiatric emergencies (part I): psychiatric disorders causing organic symptoms. Eur Rev Med Pharmacol Sci, 2013. 17 Suppl 1: p. 55-64.
11. Slade, M., et al., Best Practices for the Treatment of Patients with Mental and Substance Use Illnesses in the Emergency Department. Disease-a-Month, 2007. 53(11–12): p. 536-580.


Autor:

Axel Ruttmann

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
LVR-Klinikum Düsseldorf, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität
40629 Düsseldorf

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (15) Seite 24-26