Die Therapiemöglichkeiten für HIV-Patienten haben sich enorm verbessert. Nicht nur in puncto Wirksamkeit der neuen Medikamente ist ein großer Fortschritt zu verzeichnen, sondern auch was die Verträglichkeit angeht. Und die Forschung geht weiter. An beiden Schrauben – Potenz und Sicherheit – wird bei mehreren Substanzklassen noch gedreht. Außerdem wird nach Wegen gesucht, Resistenzen zu überwinden, eine Depot-Wirkung zu erzielen und eine komplette Heilung zu erreichen. Die nachfolgende Übersicht stellt ausgewählte Konzepte in fortgeschrittener klinischer Prüfung vor.

Durch die herausragenden Entwicklungen der antiretroviralen Therapie (ART) konnte eine weitestgehende Normalisierung der Lebenserwartung von Patienten mit einer HIV-Infektionerreicht werden [1]. Neben der zunehmenden antiretroviralen Potenz der Pharmaka ist die deutlich bessere Verträglichkeit und zunehmende Einfachheit der Einnahme hervorzuheben. So kann ein Großteil der Patienten unter Zuhilfenahme von (festen) Arzneimittelkombinationen (FDC) aus zwei bis drei Wirkstoffen erfolgreich therapiert werden. Dies hat dazu geführt, dass sich die Effektivität der ART von um 50 % in den 1990iger Jahren auf mittlerweile bis zu über 90 % in neueren Zulassungsstudien steigern ließ [2, 3].

Bisher sind fünf Wirkstoffklassen im Einsatz: Fusions- und CCR5- (Entry-Inhibitoren), Nukleosidische (NRTI) und Nicht-Nukleosidische Reverse Transkriptase- (NNRTI), Protease- (PI) und Integrase- (INI)-Inhibitoren [4]. Damit wurde neben dem Konzept der immunologischen Erholung und virologischen Suppression des einzelnen Patienten auch der Schutz vor Übertragung ermöglicht [5]. Erfreulicherweise war die Abbruchrate moderner ART-Konzepte von zunächst über 40 bis 50 % bei besserer Wirksamkeit und Verträglichkeit auf etwa 10 % im ersten Therapiejahr rückläufig [6]. Um die Fortschritte der HIV-Therapie auch in Zukunft aufrechtzuerhalten, befinden sich derzeit zahlreiche weitere antiretrovirale Wirkstoffe und Therapiekonzepte in klinischer Erprobung (Tabelle 1).

NRTI und NNRTI

Aus der Gruppe der NRTIs, welche einen Kettenabbruch während der reversen Transkription bewirken, erfolgt im Laufe des Jahres 2016 die Neueinführung des Prodrugs Tenofovir-Alafenamid (TAF) als pharmakologische Weiterentwicklung des Tenofovir-Disoproxilfumarat (TDF) [7]. Hierdurch ist eine 10- bis 30-fach niedrigere Dosierung möglich. Bei gleicher oder besserer Wirksamkeit weist TAF im Vergleich zu TDF ein deutlich günstigeres Sicherheitsprofil auf, und zwar sowohl hinsichtlich negativer ossärer Effekte als auch hinsichtlich der für TDF typischen renalen Problematik [8]. TAF kann im Gegensatz zu TDF auch bei einer eGFR von 30 – 60 ml/min/1,73 m2 KÖF eingesetzt werden [9]. Klinische Studien zum Einsatz bei dialysepflichtigen Patienten laufen. Alle TDF-haltigen Arzneimittelkombinationen (FDC) werden voraussichtlich im Laufe des Jahres 2016 mit TAF zur Verfügung stehen: Die FDC-Kombination mit Elvitegravir und Emtricitabin (Genvoya®) ist seit Anfang 2016 in Deutschland zugelassen, die FDC mit Emtricitabin (Descovy®) und Rilpivirin (Odefsey®) werden folgen.

In Phase-II-Entwicklung befindet sich die Substanz MK-8591 (EfdA-4‘-Ethynyl-2-fluoro-2‘-deoxyadenosine), ein Translokationsinhibitor der Reversen Transkriptase (NRTTI). Die Substanz zeigt eine außergewöhnlich hohe antivirale Potenz und verfügt mit über 150 Stunden über eine lange Halbwertszeit [10]. Neben Tablettenformulierungen werden Depotformulierungen mit Wirkdauern von über einem Jahr in weiteren Studien untersucht [11]. Darüber hinaus wird der NNRTI Doravirin derzeit in Phase-III-Studien untersucht [12, 13]. Neben guter Verträglichkeit zeigte er in Phase-II-Studien ein mit dem vorherigen Goldstandard Efavirenz vergleichbares virologisches Ansprechen bei insgesamt gutem Verträglichkeitsprofil [14].

INI

Nachdem Integrase-Inhibitoren (INIs) seit 2010 aufgrund der schnellen Viruslastsuppression, guten Verträglichkeit und geringen Arzneimittel-Interaktionsprobleme eine zunehmende Rolle in der antiretroviralen Therapie spielen, befindet sich mit GS-9883 (Bictegravir) ein weiterer ungeboosteter Integrase-Inhibitor in klinischen Forschungen. Der ebenfalls oral verfügbare INI Cabotegravir wird wahrscheinlich als Depotpräparat entwickelt (s. u.).

Maturationsinhibitoren

Maturationsinhibitoren wirken zu einem späten Zeitpunkt des Replikationszyklus und behindern die Reifung des Virions noch nach den Proteaseinhibitoren. BMS-955176 zeigt hierbei im Vergleich zu der Vorgängersubstanz Bevirimat eine deutlich höhere Potenz [15]. Das neuartige Wirkprinzip der Maturations-Inhibitoren wird aktuell bei therapienaiven und bei vortherapierten Patienten untersucht.

Entry-Inhibitoren

Das Andocken des HIV-Glykoproteins gp120 an den CD4-Rezeptor ist ein früher Schritt beim Eintritt von HIV in die Zielzelle. Dieser Schritt wird durch Attachment-Inhibitoren gehemmt. Dabei wird BMS-663068 (Fostemsavir) als Prodrug des Attachment-Inhibitors BMS-6262529 in klinischen Phase-II/III-Studien erprobt [16]. Die Substanz wird aktuell bei HIV-Patienten mit Mehrklassenresistenz untersucht [17].

Die Substanz BMS-986197, ein Combinectin, bietet darüber hinaus eine synergistische Inhibition dreier antiviraler Mechanismen im Bereich des Eintritts von HIV in die Zielzelle und zeigte im Affenmodell bereits eine zur Standard-ART vergleichbare Wirksamkeit [18]. Neben einer oralen soll hier auch eine wöchentliche Depotformulierung entwickelt werden.

Parenterale Depotpräparate

Seit einiger Zeit wird zunehmend das Konzept langwirksamer Depotsubstanzen (long acting – LA) untersucht. Die intramuskulär zu applizierende Kombination aus dem NNRTI Rilpivirin und dem INI Cabotegravir befindet sich bereits in Phase II/III [19]. Bei guter Verträglichkeit und hoher Akzeptanz zeigte sich in einer Phase-II-Studie, in der zunächst eine orale Induktionstherapie erfolgte, nach 32 Wochen sowohl mit vier- als auch mit achtwöchigen Injektionen eine hervorragende Wirksamkeit [20]. Ein Phase-III-Studienprogramm wird in Kürze weltweit initiiert werden. Die LA-Applikation könnte vor allem für Patienten mit Adhärenzproblemen eine Innovation darstellen. Aufgrund der langen Halbwertszeiten wird allerdings eine orale Induktionsphase zur Vermeidung relevanter Unverträglichkeiten oder Allergien erforderlich bleiben.

Breit neutralisierende Antikörper (bNABs)

Neben den bekannt antiviralen, replikationshemmenden Substanzen sind seit einiger Zeit auch potente, breit wirksame neutralisierende Antikörper in klinischer Entwicklung. Prinzipiell ist ein Einsatz sowohl zur Prävention ebenso wie zur Therapie möglich. Am weitesten entwickelt ist hierbei der "VRC01"-Antikörper, welcher an der CD4-bindenden Stelle des HI-Virus inhibitorisch bei über 90 % der Subtypen wirksam ist und damit den viralen Entry-Mechanismus blockiert. Trotz hoher antiviraler Potenz zeigt eine aktuelle Studie, dass HIV-Patienten trotz ausreichender VRC01-Spiegel in 12 von 13 Fällen einen viralen Rebound entwickeln, nachdem die ART beendet wird [21]. Ursächlich sind vermutlich resistente HIV-Spezies aus latenten Reservoiren wie dem zentralen Nervensystem oder dem gastrointestinalen System. Möglicherweise müssen daher verschiedene Antikörper, ähnlich wie bei der antiviralen Kombinationstherapie, kombiniert werden. Die Probleme bestehen derzeit in der Notwendigkeit der parenteralen Applikation und in der Schwierigkeit, größere Mengen zu produzieren.

Im humanisierten Mausmodell zeigte ein weiterer bispezifischer Antikörper mit einer CD4-seitigen und einer gp41-seitigen Erkennungsstelle eine hervorragende Protektionswirkung von bis zu 100 % bei HIV-exponierten Versuchstieren [22].

Immuntherapien

Nachdem zahlreiche Ansätze zur Replikationsinhibition von HIV bereits im Einsatz sind, werden Konzepte zur Heilung mit Nachdruck entwickelt. Ein hypothetischer Ansatz ist hierbei eine Aktivierung latenter viraler Reservoire, aus denen nach Ende einer ART prinzipiell ein viraler Rebound möglich ist, mit nachfolgender Eradikation durch ART in Kombination mit monoklonalen Antikörpern oder dem Immunsystem des Wirts. In diesem Zusammenhang werden die Toll-like-Rezeptor-7-Agonisten GS-986 und GS-9620 im Tiermodell untersucht. Trotz messbarer Anstiege löslicher Zytokine nach Einsatz der TLR-7-Agonisten ist es nicht gelungen, anschließend bei mehr als zwei von neun Rhesusaffen eine dauerhafte Suppression der HIV-RNA aufrechtzuerhalten [23]. Der Zusatznutzen in der Praxis ist bisher schwer abzuschätzen. Der alleinige Einsatz ist allerdings einer ART nicht überlegen und über das Verträglichkeitsprofil ist bisher wenig bekannt.

Darüber hinaus werden "Anti-programmed death"-Liganden (anti-PDL) untersucht. Hierbei wurden kürzlich Daten zu BMS-936559, einem anti-PDL-1-Wirkstoff, aus einer Phase-I-Studie präsentiert. Sie sollen eine Verstärkung der angeborenen Immunabwehr bewirken. Bedauerlicherweise ließen sich in der bislang veröffentlichten Studie kaum Veränderungen löslicher Inflammationsmarker wie Interferon nachweisen, aber bei einem von fünf Patienten wurde eine Hypophysitis als mögliche Arzneimittel-assoziierte Nebenwirkung berichtet [24]. Daher bestehen erhebliche Bedenken gegen den Einsatz dieser Substanzen.

Ausblick

Zusammenfassend bieten aktuelle Daten vielversprechende Aussichten in der Entwicklung antiviraler Therapie-Strategien. Hierbei befinden sich zahlreiche neue antivirale Wirkstoffe aus etablierten und neuen Wirkstoffklassen bereits in einem fortgeschrittenen Stand der Forschung. Injizierbare Depotpräparate werden in Kürze erstmalig zur Verfügung stehen und bleiben vor allem für zukünftige Studienkonzepte sehr interessant. Neutralisierende Antikörper bieten ein völlig neues Präventions- und Therapie-Konzept, müssen jedoch noch einige Hürden bis in die klinische Praxis überwinden. Immunologische Strategien bis zur Heilung werden zwar in der Öffentlichkeit und Fachwelt gleichermaßen interessiert diskutiert – bleiben aber aufgrund der Tatsache der RNA-Integration in die humane RNA durch das HIV-Retrovirus bislang noch Zukunftsmusik. Die Translation wissenschaftlicher Hypothesen bis zum klinischen Einsatz bleibt eine Herausforderung. Dennoch kommt der Heilungsforschung auch in Zukunft ein hoher Stellenwert zu.


Literatur
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2. Lee FJ, Amin J, Carr A. Efficacy of initial antiretroviral therapy for HIV-1 infection in adults: a systematic review and meta-analysis of 114 studies with up to 144 weeks’ follow-up. PLoS ONE 2014; 9:e97482.
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4. EACS Guidelines 8.0. Available at: http://www.eacsociety.org/files/2015_eacsguidelines_8_0-english_rev-20160124.pdf. Accessed 19 March 2016.
5. Cohen MS, McCauley M, Gamble TR. HIV treatment as prevention and HPTN 052. Current Opinion in HIV and AIDS 2012; 7:99–105.
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7. Antela A, Aguiar C, Compston J, et al. The role of tenofovir alafenamide (TAF) in future HIV management. HIV Med. 2016;
8. Margolis AM, Heverling H, Pham PA, Stolbach A. A review of the toxicity of HIV medications. J Med Toxicol 2014; 10:26–39.
9. Pozniak A, Arribas JR, Gathe J, et al. Switching to Tenofovir Alafenamide, Coformulated With Elvitegravir, Cobicistat, and Emtricitabine, in HIV-Infected Patients With Renal Impairment: 48-Week Results From a Single-Arm, Multicenter, Open-Label Phase 3 Study. J. Acquir. Immune Defic. Syndr. 2016; 71:530–537.
10. Michailidis E, Huber AD, Ryan EM, et al. 4‘-Ethynyl-2-fluoro-2’-deoxyadenosine (EFdA) inhibits HIV-1 reverse transcriptase with multiple mechanisms. J. Biol. Chem. 2014; 289:24533–24548.
11. Long-Acting Oral and Parenteral Dosing of MK-8591 for HIV Treatment or Prophylaxis. CROI 2016 Boston: #98
12. Schürmann D, Sobotha C, Gilmartin J, et al. A randomized, double-blind, placebo-controlled, short-term monotherapy study of doravirine in treatment-naive HIV-infected individuals. AIDS 2016; 30:57–63.
13. Anderson MS, Gilmartin J, Cilissen C, et al. Safety, tolerability and pharmacokinetics of doravirine, a novel HIV non-nucleoside reverse transcriptase inhibitor, after single and multiple doses in healthy subjects. Antivir. Ther. (Lond.) 2015; 20:397–405.
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19. Margolis DA, Brinson CC, Smith GHR, et al. Cabotegravir plus rilpivirine, once a day, after induction with cabotegravir plus nucleoside reverse transcriptase inhibitors in antiretroviral-naive adults with HIV-1 infection (LATTE): a randomised, phase 2b, dose-ranging trial. Lancet Infect Dis 2015; 15:1145–1155.
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24. Safety, Immunologic and Virologic Activity of Anti-PD-L1 in HIV-1 Participants on ART. CROI Boston: #25



Autor:

Dr. med. Christoph D. Spinner

Klinikum rechts der Isar der TU München, II. Medizinische Klinik und Poliklinik und Interdisziplinäres HIV-Zentrum (IZAR)
81675 München

Interessenkonflikte: Der Autor erklärt, im Rahmen wissenschaftlicher Kooperationen Forschungsunterstützung von Investigator-initiierten Studien der Firmen Gilead Sciences, Janssen-Cilag und ViiV Healthcare erhalten zu haben. Darüber hinaus hat er Reisekostenunterstützung und/oder Honorare für Advisory Boards oder Referententätigkeiten der Firmen AbbVie und Abbott, Bristol Myers Squibb, MSD Sharp & Dohme, Gilead Sciences, Janssen-Cilag und ViiV Healthcare erhalten.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (12) Seite 42-45